Von Jürgen Kessler.
Am 6. Mai 1925 wurde der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch geboren. Er verstand sich selbst als „philosophischer Clown“, der stets versucht, dem Dasein einen höheren Existenzsinn abzutrotzen. Heute, am 6. Mai 2025, wäre sein 100. Geburtstag gewesen.
„Wer sich keine Erinnerungen schafft, hat nichts zum Erinnern.“ Dieser verblüffende Satz, in Bremen beim Whiskey nach einem Konzert (wir nannten die Auftritte Konzerte) in Theklas Bar lapidar hingestreut, stammt von einem, der über vier Jahrzehnte in Mainz lebte und von da aus zum erfolgreichsten literarischen Kabarettisten der Bundesrepublik des vergangenen Jahrhunderts avancierte: Hanns Dieter Hüsch.
Wir saßen oft an einer Bar. Damals, in den rasanten Siebzigern. Und wir verschafften uns Erinnerungen. Es kam vor, dass wir in der Herrgottsfrüh bei Nieselregen übers Kopfsteinpflaster zum Hotel tänzelten, beschwingt wie zwei trunkene Vaganten unter einem gütigen Stern; verloren waren wir nie.
Von Bühne zu Bühne, von Gedanke zu Gedanke, trieben Hanns Dieter Poesie und Publikumsliebe, Ruhm- und Gelderwerb über Land. Ich am Steuer, er am Bleistift oder an seiner Overstolz, noch rauchten wir. Wo und wann immer „HDH“ unterwegs war, er war bei der Arbeit. Bei seiner Phantasie- und Schreibarbeit. Zuhören-Aufschreiben-Vortragen als Konzept.
„Ohne mich fängt es nicht an“
Worte als Daseins-Elixier. Das Schwere leicht sagen als Weltbewältigung. Das Unbegreifliche begreiflich machen als literarische Übung. Für mich war „der Hüsch“ immer mehr als das, was andere in ihm zu sehen glaubten. Jene, die kaum über die „Tiefe der Oberfläche“, wie er es nannte, hinauskamen, die sich nicht von der Sichtweise des Radikal-Humanisten berühren ließen. Die nicht den seismografischen Dichter erkannten, der Drohendes nicht selten vorab aufzuspüren vermochte. Ich höre ihn förmlich, wie er in seinem Café Pilatus auf der Milchstraße abwinkt und leise sagt: „Sie wollten ja nicht hören“.
Einmal saßen wir in seinem Haus in Mainz-Bretzenheim in der Küche. Marianne stand am Herd. Der Gatte, den sie bei guter Laune zärtlich „Ilein“ nannte, schälte und schnippelte an einer Zwiebel, als wäre sie ein Manuskript. Und tatsächlich, es ging um eine Zwiebel. Als Sinnbild. In einer Auftragsarbeit für eine Hörfunksendung im SWF-Landesstudio, das im „Sautanz“, gleich hinter dem Regierungssitz des Landes Rheinland-Pfalz, untergebracht war. Ein so bescheidenes wie beliebtes Nachkriegsprovisorium des späteren Südwestrundfunks. Der Termin stand fest, Redakteur Hanfgarn wartete, der Fahrer, in dem Falle ich, holte den als Sprecher mitwirkenden Autor eigens für die Live-Sendung ab. Dieser versetzte der Zwiebel rasch noch einen kühnen Schnitt, gleichsam den letzten Schliff für die Sprechfertigkeit seines Beitrags.
„Lass die Zwiebel, du musst jetzt“, mahnte die Hausherrin. „Ohne mich fängt es nicht an“, sagte der aufgedrehte Künstler dann immer. Der Text in seinem Kopf war fertig. Nicht alles stand auf dem Papier, das er in einer abgegriffenen Mappe verstaut hatte. Im Studio, knapp bevor das Rotlicht „Auf Sendung“ anzeigte, nahm er das Blatt heraus, legte es unter dem Mikrofon parat und sprach drauflos, wie nur er sprechen konnte. Während sich an den Rundfunkempfängern draußen all diejenigen versammelten, die Humor und Sinnstiftung, Scherz und Herzenswärme eines Wahl-Mainzers vom Niederrhein mochten, weithin kluge, offene Menschen, die der Worthülsen überdrüssig waren und deren Sehnsucht nach verbindlicher Rede er seine unverwechselbare Stimme gab.
Hüsch sprach eigentlich immer
In Mainz sei er zum „Aschermittwochsmensch“ geworden, schrieb er. Wer hören konnte, nahm die versteckte Botschaft wahr: alles Leben und Streben von der Endlichkeit her zu begreifen. Er wollte sie den Zeitgenossen wie einen warmen Mantel um die kalte Schulter legen; es war die Botschaft des Predigers, das Gesagte zu erhören, zu studieren, eben zu erkennen. Der kleine Mann mit dem holländischen Pfannkuchengesicht, wie er sich selbst leichthin markiert hatte, war nicht links und war nicht rechts, sondern durch und durch christlich und er wusste, wie man zu Menschen redet.
Auch in der Schweiz wurde er verstanden. Regelmäßige Gastspiele bereits in den Fünfziger Jahren mit dem Ensemble Arche Nova führten ins Fauteuil nach Basel oder in den Hirschen nach Zürich. Später folgten Auftritte als Solist auf Kleinkunstbühnen fast aller Kantone. Die Liebe zur Schauspielerin Silvia Jost führte ihn lange Jahre nach Bern. Nahe des Ufers der Aare wohnend, machten sie aus Liebe und Leidenschaft kurzerhand ein literarisch-kabarettistisches Duo-Programm: „Faux pas de deux“.
Seit jenen Tagen in den frühen Siebzigern, in denen Hüsch kaum bis gar nicht mehr im 68er-Westdeutschland auftrat, war er abonniert auf die international führende Schweizer Zeitung. Was die wenigstens wussten, vom politischen Teil, doch insbesondere vom fabelhaften Feuilleton der NZZ, ließ er sich nicht selten zu eigenen Gedanken und Programmtexten anregen. Die Freundschaft zu Franz Hohler, dem Schweizer Pendant zu Hüsch, wie gesagt wurde, festigte sich und noch in den Neunzigerjahren schufen sie ein gemeinsames Bühnenprogramm. Ihnen zuzuhören, war ein Vergnügen, selbst wenn nur übers Wetter oder irgendeinen Schweizer Käse fabuliert wurde.
Hüsch sprach eigentlich immer. Und immer sezierte er etwas, noch weit bevor Grass seine zwiebeligen Enthäutungen zu Markte trug. Man denke an das kindlich die Unendlichkeit Verhaftende im Text: „Die Zwiebacktüte“. Wenn er schwieg und nachdachte, brach es wenig später aus ihm heraus, dann schrieb er auf, was ihm eingefallen war; seine Handschrift blieb Dritten ein Rätsel. Hüschs Schaffenskraft war bei Bühne und Funk derart gefragt, dass er sich vor Aufträgen nicht retten konnte, die Anfragen stapelten sich. Oft schloss ich Verträge für Gastspiele zwei Jahre im Voraus ab, plante Tourneen fahrtechnisch so günstig wie möglich und so weiter. Es war eine dialog- und lehrreiche, lang anhaltende Phase. Auch, weil der wahre Hüsch im Kabarett, zumal jener der frühen produktiven Mainzer Jahre, stets Emotionen und aktuelle Stimmungen zeigte – wahre, authentische. Das unterschied ihn.
Ein Anti-Kabarettist
Ein Journalist schrieb: „Hüsch ist Melancholie und Spiel, Poesie, nicht Rationalität. Er ist Literat, nicht Journalist; ein Clown, kein Witz.“ Ich füge hinzu: Er war Anstifter für eine tiefere Verbundenheit unter allen Menschen, Botschafter einer freundlicheren, einsichtigeren Welt. In welcher Stellung und materielle Interessen nicht trennen, in der jeder jedem hilft. Das Leitmotiv stammte von Bertolt Brecht: „Wollt nicht in Zorn verfallen, denn alle Kreatur braucht Hilf’ von allen.“ Für sich, für seine Nächsten, für das kleine und große Publikum, packte er unermüdlich seine Gedankenwelt in Chansons, Gedichte und Geschichten. Ohne im Besitz des Steins der Weisen zu sein. Aber immer im Bemühen, dem Dasein einen höheren Existenzsinn abzutrotzen – gleich den Romantikern. Öffentliches Nachdenken mit unterhaltsamen Mitteln war sein schlichtes, fast demütiges Bekenntnis. Sein Kabarett war Zwiesprache eines Dichters mit seinem Text.
Vor der Schärfe bewahrte ihn die Einfühlsamkeit. Vor dem Idyll der Intellekt. Vor der Rohheit sein Herz. Verglichen mit heute war er ein Anti-Kabarettist: ein Lyriker. Am 6. Mai 1925 am Niederrhein auf die Welt gekommen, wurde Hanns Dieter Hüsch allein aus sich selbst heraus zu einer zutiefst poetischen Menschenseele, einer „Weltallseele“, hätte Ringelnatz gesagt.
Aus diesem Geist heraus schrieb er uns sein Credo ins Stammbuch, seine Lebenskantilene: „Den Hass aus der Welt zu vertreiben, ihn immer neu zu beschreiben, damit wir bereit sind zu lernen, dass Macht und Gewalt, Rache und Sieg, nichts andres bedeuten als ewiger Krieg auf Erden und dann auf den Sternen.“
Jürgen Kessler schloss 1969 seinen ersten Auftrittsvertrag für Hanns Dieter Hüsch ab, diente über Jahre als Fahrer und Wegbegleiter, wurde zum wetterfesten Vertrauten, und hatte bis Tourneeschluss 2002 das Auftrittsmanagement inne. Im Karl Blessing-Verlag (Bertelsmann) gab er die Werkbiografie Hüschs heraus: Kabarett auf eigene Faust. Er verfasste zahlreiche Bühnenstücke mit Erinnerungen an das große Vorbild, eines davon erschien zu Hüschs 90. Geburtstag im Nomen-Verlag, Frankfurt/Main: Und sie bewegt dich noch! ISBN 978-3-939816-23-2.
Von Jürgen Kessler ebenfalls erschienen: Malte Leyhausen (Hrsg.): Hanns Dieter Hüsch zum 100. Geburtstag. Erinnerungen von Freunden und Bewunderern. Mit einem Vorwort von Mathias Richling, 276 Seiten, Paperback, BoD Verlag, ISBN 978-769327830.
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