Hannelore Kohl – Die verkannte Frau

Gestern vor zwanzig Jahren wurde Hannelore Kohl beerdigt, nachdem sie sich das Leben genommen hatte. Eine Erinnerung an eine außergewöhnliche Frau an der Seite von Bundeskanzler Helmut Kohl.

In einem Interview mit der WELT am SONNTAG vom 1. April 2001 sagte Hannelore Kohl noch: „Aufgeben ist das letzte, was man sich erlauben darf.“ Nur gut drei Monate später, am 5. Juli 2001, nahm sich die Frau von Altbundeskanzler Helmut Kohl das Leben. 

Was dann folgte, war ein unglaublicher Vernichtungsfeldzug gegen ihren Mann, dem nicht wenige ganz unverhohlen die Schuld am Tode seiner Frau gaben. Eine rühmliche Ausnahme war Altbundespräsident Roman Herzog, der sich aus diesem Grunde brüsk gegen ein gemeinsames Foto mit einem bekannten Ehepaar auf den Bayreuther Festspielen stellte, berichtete die WELT Ende Juli 2001 in einer „Kopfnote“.

So endete das Leben einer Frau, die für Böswillige lange einfach nur das Dummchen vom Lande war. Und die voll mit in den Strudel der Anschuldigungen gegen ihren Mann im Zusammenhang mit der Parteispendenaffäre der CDU gerissen wurde, was sehr viel eher der wahre Auslöser ihres Freitods gewesen sein dürfte. Sie und die von ihr ins Leben gerufene „ZNS – Hannelore-Kohl-Stiftung“ wurden damals nicht nur in Mithaftung für die Spendengeschichte der CDU genommen, sondern die Frau des Altkanzlers wurde, obgleich gesundheitlich längst schwer angeschlagen, durch ein wahres Fegefeuer geschickt, das man nicht einmal seinen ärgsten Feinden wünschen würde. Der damit einhergehende Gesichtsverlust musste der zierlichen und doch in Wahrheit lange unglaublich starken Frau die letzte Kraft geraubt haben, die sie zum Weiterleben benötigt hätte.

„Ich spiele meine Rolle an seiner Seite entweder schlecht, akzeptabel oder gut.“

Abgesehen von einem bemerkenswerten Film von Stefan Aust und Daniel Bäumler, der zuerst am 1. Mai des letzten Jahres in der ARD ausgestrahlt wurde, ist es still geworden um eine Frau, die als „Kanzlergattin“ lange im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand und danach mehr oder weniger in der Versenkung verschwand. Wie sehr dies zu unrecht geschah, darauf wiesen die Autoren in der WELT am SONNTAG vom 26. April 2020 hin. Sie stellten dort heraus, dass Hannelore Kohl im Hintergrund entscheidenden Einfluss auf die Politik ihres Mannes nahm, ja seine berufliche Karriere überhaupt erst ermöglicht hatte. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, besonders die der Achtziger- und Neunzigerjahre, und damit auch die Geschichte der Wiedervereinigung unseres Landes in Frieden und Freiheit, hätte ohne diese Frau vermutlich einen anderen Verlauf genommen – obwohl es offiziell gar kein Amt für sie gab.

Sie selbst hätte stets abgestritten, etwas Besonderes zu sein. Auch mit der Rolle, die das Leben ihr gab, drängte sie sich nie um ihrer selbst willen in den Vordergrund. In einem der wohl berührendsten Gespräche mit Hannelore Kohl, das von Peter Bachér geführt und in der WELT am SONNTAG am 20. Juni 1999 veröffentlicht wurde, kam dies sehr deutlich zum Ausdruck, in Form einer Bescheidenheit, die das Selbstverständnis vieler Frauen ihrer Generation prägte: „Der auslösende Faktor für meine Bekanntheit bin schließlich nicht ich, sondern mein Mann.“ Bachérs Kompliment, diese Bescheidenheit ehre sie, wies sie zurück: „Nein, das ist nur realistisch. Und ich verhalte mich dementsprechend. Ich spiele meine Rolle an seiner Seite entweder schlecht, akzeptabel oder gut. Es gibt nur diese drei Varianten. Und ich hoffe, ich mache es gut.“ Es sind solche Sätze, aus denen eine bewusste Zurückhaltung aus Überzeugung sprachen, eine Bescheidenheit, die heute völlig zu unrecht als schrecklich unmodern und bieder abgetan wird, in Wahrheit aber eher von menschlicher Größe zeugt.

Peter Bachér führte das Gespräch mit Hannelore Kohl ein gutes dreiviertel Jahr nach der Wahlniederlage ihres Mannes bei der Bundestagswahl. Anstatt damit zu hadern, hatte sie sofort mit dem Einstieg in das neue Leben begonnen. Das Geheimnis, Niederlagen zu überwinden, neuen Kurs aufzunehmen, keinesfalls liegenzubleiben, wenn das Schicksal zuschlägt, so meinte Bachér damals, läge in ihrer Kindheit verborgen. „Ich hatte eine schwere Kindheit“, war zunächst alles, was Hannelore Kohl dazu sagen mochte. Auf den Einwand Bachérs, dass längst nicht alle Menschen diese Kraft zu einem Neubeginn aufbrächten, wenn ihnen Schlimmes widerfahren war, fügte sie hinzu:

„Ich wurde nicht verhätschelt, vielleicht ist es das. Als ich 1939 in Leipzig in die Schule kam, begann gerade der Krieg. Da wurden wir Kinder so richtig durchgeschüttelt. Da heulten die Sirenen, da kamen die Luftangriffe. Da bildeten die Menschen Ketten, um mit Wassereimern Feuersbrünste zu löschen. Da wurden Frauen und Kinder aus den Flammen gezogen. Ich selbst versuchte, einem Soldaten zu helfen, dessen Stahlhelm glühte. Dieses Bild ... dieser Mann mit dem rötlich glühenden Stahlhelm ... ich werde es nicht los. Da hat man hingegriffen und nicht gefragt, ob es irgendwo Asbesthandschuhe gibt. Ich habe Tote mit Lungenriss gesehen. Wir waren immer umzingelt von brennendem Phosphor ...“

Exemplarisch für ihre Generation

Hier kam eine Stelle, an der Hannelore Kohl plötzlich innehielt, unsicher, ob sie davon mehr erzählen sollte, oder ob nicht doch eher niemand mehr hören wollte, was vor über einem halben Jahrhundert (zum Zeitpunkt des Gesprächs, Anm.d.A.) geschah, obwohl es doch ihr Leben prägte? Sie entgegnete schließlich doch: „Wissen Sie, das Ungewöhnliche war in unserer Generation das Normale. Damit mussten wir immer und immer wieder fertig werden. Schon als Kinder hat man uns mit allen Gemeinheiten des Lebens konfrontiert. Das hat uns eine Patina gegeben, die niemand mehr abkratzen kann.“

Hannelore Kohl wurde am 7. März 1933 in Berlin geboren, wuchs aber in Leipzig auf, in „gutbürgerlichen Verhältnissen“. Ihre, wie man oben sieht, keineswegs nur behütete Kindheit endete abrupt mit dem Einmarsch der Roten Armee in Mitteldeutschland 1945. Ihre Verbrechen und Grausamkeiten bekam sie aus nächster Nähe mit und widerfuhren ihr selbst mehrfach auch am eigenen Leib mit bleibenden Schäden an der Wirbelsäule; eine erschütternde Erfahrung, die sie bis an ihr Lebensende verfolgte, auch wenn darüber vor ihrem Tod nie öffentlich gesprochen wurde.

Die Familie floh in den Westen. Ihr Vater starb früh, die Beziehung zu ihrer Mutter galt als nicht einfach. Unter Hitler waren die Eltern Stützen des Nationalsozialismus gewesen, was Hannelore als Kind aber kaum bewusst gewesen sein konnte. Nach der Flucht waren sie unerwünschte Habenichtse; auch die Tochter, die keinerlei Schuld an dieser ganzen Entwicklung trug. Hannelore Kohl steht damit exemplarisch für ihre Generation, die den Krieg, die Bombardierungen der Städte, die Flucht und Vertreibung und das damit verbundene Grauen sowie die gewaltsame Teilung ihres Landes miterleben mussten und die damit verbundene Ohnmacht, nichts dagegen unternehmen zu können. Und sie gehörte einer Generation an, die ihr Leid oft tapfer, ohne zu klagen, ertrug.

„Ihr Englisch ist akzentfreier als meines!“

Wie Millionen andere junge Mädchen und Frauen standen Hannelore Kohl und ihre Mutter nach dem Krieg und der Flucht vor dem Nichts. Der inzwischen mittellose Vater starb früh und war nicht in der Lage, seiner Tochter ein Physik- und Mathematikstudium zu finanzieren, das sie gerne begonnen hätte. So arbeitete Hannelore Kohl als Fremdsprachenkorrespondentin bei der BASF in Ludwigshafen. Ihre brillanten Fremdsprachenkenntnisse in Englisch und Französisch galten später als legendär. Sie, die nach ihrer Ankunft in ihrer neuen Heimat sofort an ihrer Aussprache als Sächsin erkannt und angefeindet wurde, beherrschte die Fremdsprachen völlig akzentfrei, was Henry Kissinger einmal zu der Bemerkung veranlasst haben sollte: „Ihr Englisch ist akzentfreier als meines!“ Man ahnt den Wunsch und Ehrgeiz, den Hannelore Kohl früh durchzogen haben musste, durch Leistung zu beweisen, dass sie es sehr wohl mit anderen aufnehmen konnte und sich nicht verstecken musste. Dennoch erschien sie mir nie als jemand, der damit angab.

Helmut Kohl, den sie in einer Tanzstunde kennenlernte, gab ihr ein neues Zuhause, eine Heimat, in der sie sich endlich willkommen fühlte. Er wurde, wie sie selbst einmal sagte, für sie zu einem Fels in der Brandung. Auf ihn war Verlass. Und er beschützte sie. Es ist durchaus verbürgt, dass er sich entgegen manchen Behauptungen bis zuletzt liebevoll um seine Frau sorgte, auch wenn er mit der Situation vielleicht nicht umzugehen wusste. Und sie selbst nahm bis zuletzt regen Anteil an der Fertigstellung seiner Memoiren, was gegen ein Zerwürfnis des Paares spricht. Als sie sich kennenlernten, hatte Helmut zwar schon eine Vision von einer größeren politischen Zukunft vor Augen, die er zielstrebig und nicht unbedingt im Einklang mit den Wünschen seiner Frau verfolgte, aber Hannelore heiratete 1960 – das muss einmal klar gesagt werden, weil sie es in meiner Erinnerung einmal selbst betont hatte – nicht den späteren Politiker, sondern den Menschen Helmut Kohl. Und man kann diese Ehe, wie viele andere, nicht verstehen, wenn man die damaligen Zeitumstände nicht berücksichtigt.

Hannelores Kohls Geschichte zeigt gleichwohl, wie sehr starke Persönlichkeiten die Geschicke ihres Landes mitprägen können, selbst wenn sie im Hintergrund bleiben. Wer das eiserne Festhalten des in der Pfalz, an der Grenze zu Frankreich, fest verwurzelten Kanzlers am Wiedervereinigungsgebot der Präambel des Grundgesetzes verstehen will, der muss sich mit der Geschichte Hannelore Kohls beschäftigen. Es klingt durchaus plausibel, dass das Schicksal seiner eigenen Frau Helmut Kohl im Gegensatz zu seinem großen Vorbild Konrad Adenauer immer wieder an das ungeklärte Schicksal seiner Landsleute östlich der Elbe erinnerte.

Einer der wichtigsten inoffiziellen Berater ihres Mannes

Hannelore Kohl hielt den Kontakt gen Ost aufrecht, besuchte ihre alte Heimat mehrfach, als Deutschland noch geteilt war. Das wird an ihrem Mann nicht spurlos vorbeigegangen sein. Ihre große Freude über das wiedervereinigte Deutschland dürfte echt gewesen und von Herzen gekommen sein, ebenso ihr Stolz darauf, dass ihr Mann daran einen erheblichen Anteil hatte, einen Anteil, der mit Sicherheit auch ihr gebührt. Nicht nur, weil sie „in guten wie in schlechten Tagen“ hinter ihrem Mann stand, sondern weil sie ihn auch aktiv in dem Ziel unterstützte, welches das Grundgesetz von 1949 allen Bundesregierungen bis 1990 vorgab.

Den 10-Punkte-Plan zur Wiedererlangung der staatlichen Einheit Deutschlands, den Helmut Kohl am 28. November 1989 im Deutschen Bundestag vorlegte, hatte sie nicht nur auf ihrer Reiseschreibmaschine im heimischen Oggersheim getippt, sondern, sprachlich gewandt wie sie war, mit Sicherheit mit ausgestaltet. Sie war zweifellos einer der wichtigsten inoffiziellen Berater ihres Mannes, wenn nicht der wichtigste überhaupt. Der Satz „hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine Frau“ dürfte selten so treffend gewesen sein wie im Falle des Ehepaars Hannelore und Helmut Kohl.

Wenn ich an Interviews mit Hannelore Kohl zurückdenke, so vertrat sie durchaus ihre eigene Meinung, nur wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, Meinungsdifferenzen mit ihrem Mann öffentlich zu seinem Schaden auszutragen. Doch wer hierin Unterwürfigkeit erkennen will, wird dieser Frau ganz gewiss nicht gerecht. Es war eher unbedingte Loyalität, das Zusammenstehen in guten wie in schlechten Tagen; die Bereitschaft, auch schwere Zeiten gemeinsam durchzustehen, anstatt beim ersten Kriseln gleich das Handtuch zu werfen. Eine Eigenschaft, die heute oft zu unrecht als Schwäche diskreditiert wird. 

Preis eines Lebens im Zenit der Macht

Dass ihre Ehe dennoch in einer Tragödie endete, erhält vor diesem Hintergrund eine gewisse Bitternis. Was in Gazetten oder auch Büchern über das Paar berichtet wird, ist immer mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Dichtung und Wahrheit ist für Außenstehende nur schwer auseinanderzuhalten. Und die Schlammschlacht, die spätestens mit der Parteispendenaffäre der CDU über die gesamte Familie Kohl hereinbrach, das muss man auch erkennen, war für viele ein willkommener Anlass, über Kohl in einer Weise herzufallen, die weit über eine gebotene journalistische Berichterstattung oder politische Aufklärung hinausging, weil man meinte, endlich das so lange fehlende Haar in der Suppe gefunden zu haben, trotz aller Beschimpfungen, denen kein anderer Kanzler während seiner Amtszeit je so lange und so massiv ausgesetzt war wie Helmut Kohl.

Es waren oftmals wüste Beschimpfungen und Bemerkungen unterhalb jeder Gürtellinie, die heute mühelos als „Hass und Hetze“ durchgehen würden, unter denen auch seine Frau und seine Kinder litten, als Kohl noch Oppositionsführer im Bundestag war. Dass die Mutter ihre Kinder nicht vor Mobbing in der Schule durch Mitschüler und Lehrer bewahren konnte, dem die Kohl-Söhne durch das politische Engagement ihres Vaters schutzlos ausgeliefert waren, musste Hannelore Kohl besonders geschmerzt haben. Sie war sicherlich keine Glucke, aber eine Frau, die um ihre Familie kämpfte wie eine Löwin, immer darauf bedacht, Schaden von ihr abzuwenden. Die Unruhen seit Ende der 1960er-Jahre, die im folgenden Jahrzehnt in den Terror der RAF mündeten, führten dazu, dass ihr Zuhause in Oggersheim schließlich einer Festung glich. Ein Schicksal, das die Kohls mit vielen anderen prominenten Politikerfamilien teilten, welches kaum noch ein echtes Privatleben zuließ. Die Angst vor Terroranschlägen oder Entführungen waren der Preis eines Lebens im Zenit der Macht.

Von außen betrachtet eröffneten sich Hannelore Kohl zweifellos Welten, von denen Normalsterbliche für gewöhnlich nicht einmal träumen konnten. Aber dieses Leben hatte auch seine Schattenseiten. Sämtliche Familienangelegenheiten entschied und regelte Hannelore Kohl allein. Sich frei und ungezwungen in der Öffentlichkeit bewegen, einfach mal so drauflos plaudern, das ging nicht mehr, seit ihr Mann erst Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, dann Oppositionsführer in Bonn und schließlich Kanzler wurde. Eine falsche Bewegung, ein falsches Wort – morgen konnte es in den Schlagzeilen stehen. In einem Interview brachte sie es einmal auf den Punkt: „Ich habe ja immer die Chance, mit jedem Wort, das ich sage, gleich zwei Leute zu blamieren: mich und meinen Mann.“ So ist mir Hannelore Kohl als sehr diszipliniert in Erinnerung geblieben. Sie gewährte nur wenige Einblicke in ihr Privatleben, konnte spotten und Witze machen, aber ihr wahres Wesen war für mich lange schwer auszumachen.

Sie hätte zweifellos anderes verdient gehabt

Dennoch faszinierte mich diese Frau. Wer sich mit ihr über einen längeren Zeitraum beschäftigte, der erkannte auch aus der Ferne, dass sie mit Intelligenz, Charme und Eigenständigkeit gesegnet war und keineswegs ein unterwürfiges „Heimchen am Herd“ repräsentierte. Überhaupt, die Repräsentation beherrschte sie meisterhaft. Die WELT nannte sie einmal „unbezahlte Fachkraft in Sachen Repräsentation“. Sie stand trotz aller widerstreitender Wünsche in ihrer Seele, was ihr Leben mit Helmut Kohl anbelangte, fest an seiner Seite. Das wirkte stets echt und nie aufgesetzt. Die Freude darüber, dass nach der Wiedervereinigung Deutschlands viele ihr und ihrem Mann viel dankbarer gegenübertraten als früher (WamS 20.06.1999), währte jedoch nur kurz, bis zur Spendenaffäre der CDU. Aus dem Traum von einem neuen gemeinsamen, jetzt mehr privaten Leben an der Seite ihres Mannes in einer neu erworbenen Wohnung in Berlin wurde ein Albtraum. Sie hätte zweifellos anderes verdient gehabt.

Allerdings hatten damals nicht nur die politischen Gegner, sondern es hatten auch die Union selbst sowie die Medien eine äußerst unrühmliche Rolle in diesem Stück gespielt. Eben noch wurde Kohl als der große Staatsmann gefeiert, und jetzt wurde er von heute auf morgen von denselben Leuten fallengelassen wie ein nasser Sack. Ihr Sohn Peter soll einmal bemerkt haben, so berichteten Aust und Bäumler, seine Mutter habe ihm gegenüber einmal geklagt, sie habe dreißig Jahre lang Wahlkampf für die CDU gemacht, sei immer dagewesen, und jetzt, wo sie selbst einmal Hilfe gebraucht hätte, wäre niemand da. Besonders schlimm sei für sie das Verhalten Angela Merkels gewesen, mit der sie eine lange Freundschaft verband, der sie auch viel Privates anvertraut hätte, und von der sie sich jetzt verraten fühlte. Das hätte sie nie verwunden.

Alle unzweifelhaften Verdienste Helmut Kohls, die in gewisser Weise auch ihre eigenen waren, zählten plötzlich nichts mehr. Die Spendenaffäre galt quasi als unverzeihlich; schlimmer noch als das dank Gregor Gysi in dunklen Kanälen verschwundene Milliardenvermögen der SED, ein Vorgang, der niemals eine vergleichbare Verurteilung erfuhr. Auch fragwürdige Zuwendungen an andere Parteien wurden zu keiner Zeit in so grellen Farben ausgeleuchtet, nicht einmal dann, wenn Moskau und Ostberlin ihre Hände im Spiel hatten.

Und Kohl gestand, Ehrenwort hin oder her, seinen Fehler nicht nur ein, sondern nahm sogar eine Hypothek auf das Haus der Familie auf, um seiner Partei den entstandenen Schaden zurückzuzahlen. Es ist gerade die vernichtende Unerbittlichkeit gegenüber Helmut Kohl bei vergleichsweise großzügiger Nachsicht gegenüber Verfehlungen anderer, die von einer ziemlichen Heuchelei zeugen. Das musste Hannelore Kohl, die die Spendenpraxis ihres Mannes und der CDU im übrigen nie gutgeheißen hatte, auf ziemlich drastische Weise erfahren.

Mit „Gerechtigkeit“ hatte dies nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun. Das jahrzehntelang verdrängte deutsche Kriegs- und Flüchtlingskindertrauma, ins Bodenlose zu fallen, dürfte Hannelore Kohl am Lebensende noch einmal überwältigt haben. Und nein, das muss auch eine Frau eines ehemaligen Bundeskanzlers nicht aushalten können. Viele haben sich nie mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte auseinandersetzen wollen, das aber weite Teile einer ganzen Generation geprägt und gepeinigt hat: Die Erfahrung, einer schlimmen Situation schutzlos ausgeliefert zu sein.

Foto: Bundesarchiv/Grubitzsch CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Stanley Milgram / 12.07.2021

Die Medien haben eine bedeutende Rolle in der Gesellschaft bei der öffentlichen und individuellen Wahrnehmung von Problemen und Ereignissen. Sie haben Einfluss auf die individuellen und gesellschaftlichen Haltungen und Meinungen zur Suizidalität und zum Suizid. Die Art und Weise der Berichterstattung in den Medien kann deshalb einen Einfluss auf die Häufigkeit suizidaler Handlungen haben. Die Mehrheit der Menschen, die einen Suizid erwägt, ist dieser Entscheidung gegenüber ambivalent eingestellt. Im Vordergrund steht häufig nicht der Wunsch zu sterben, sondern die Vorstellung so wie bisher nicht weiterleben zu können. Die betroffenen Personen befinden sich in einem extremen krisenhaften emotionalen und psychischen Ausnahmezustand. In dieser Situation können Medienberichte über Suizide sowohl den Entschluss oder Impuls zum Suizid als auch zur Suche nach Hilfe beeinflussen. Besonders nach einem Suizid bekannter Persönlichkeiten und dem Suizid jüngerer Menschen besteht die Gefahr von Folgesuiziden (der sog. Werther-Effekt). Dies betrifft vermutlich vor allem Menschen, die schon suizidgefährdet sind oder sich mit der durch Suizid verstorbenen Person verbunden fühlen. Nachfolgesuizide erfolgen nicht selten am gleichen Ort und nach der gleichen Methode.

Boris Kotchoubey / 12.07.2021

Ein wunderschöner Artikel, voll Würde, Respekt und Nachdenken. Im Lichte dessen, was die Parteimafia heute macht, erscheint die damalige Spendenaffäre… hmm, so etwas wie ein Falschparken.

Peter Gentner / 12.07.2021

Danke für diesen nachdenklich machenden Artikel! Hätte Hannelore Kohl damals nur die eiskalte und berechnende Angela Merkel aus dem Haus geworfen, wäre ihr Andenken noch beachtlicher!

Lars Schweitzer / 12.07.2021

Einst gab es Hannelore Kohl, dann kam Angela Merkel und inzwischen sind wir bei Annalena Baerbock angelangt. Wer von den dreien ist eine starke Frau? Eben.

Sabine Schönfelder / 12.07.2021

Ihr Beitrag bestätigt meine Vermutung. Es nehmen sich immer „die Falschen“ das Leben, - (tatsächlich) freiwillig!

Lutz Schröder / 12.07.2021

Vielen Dank für diesen Artikel. Er hat mich sehr berührt.  Zeigt aber leider auch, was wir mit Beginn der 80 iger Jahres, seit dem der “Marsch ducrh die Institutionen” immer erfolgreicher wurde, alles verloren haben und nie mehr wieder kommt. Vor allem Redlichkeit.

Frank Dom / 12.07.2021

Danke und Respekt an die Autorin und ihrer Heldin. Und Mea Culpa für meine alten Vorurteile.

Joerg Machan / 12.07.2021

Dankeschön für diesen Artikel. Es gibt in den jüdischen “Sprüche der Väter” einen schönen Satz: “Bewerte die Menschen nach ihren positiven Eigenschaften.” Darum heißt es ja auch “Gutachten”. Das scheint mir hier gelungen. Danke.

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