Der nach Schweden emigrierte Palästinenser Muhammad Shehada hat einen erschütternden Bericht über die Lage der Bevölkerung im Gaza-Streifen veröffentlicht, die seit 2005 von der radikal-islamischen Organisation Hamas mit äußerster Brutalität regiert wird. „Fast jeder, den ich kenne, hat mehr als einmal an Selbstmord gedacht“, schrieb Shehada am 15.7.2020 in der linken israelischen Tageszeitung HaAretz. „Trotz des strikten Tabus (das dem Suizid im religiösen Islam gilt) wird das Jahr 2020 einen neuen Rekord am Selbstmorden in Gaza verzeichnen, meist durch junge Menschen, unbeschäftigt und erstickt von Hoffnungslosigkeit.“
Shehada stammt selbst aus Gaza. Er weiß, dass es weniger materielle Gründe sind, die junge Gaza-Araber in tödliche Verzweiflung treiben, denn auf Grund immenser internationaler Hilfszahlungen ist der dortige Lebensstandard höher als in umliegenden arabischen Ländern, etwa Ägypten oder Syrien. Was junge, gebildete Gaza-Bewohner „in Wahrheit gebrochen hat“, schreibt Shehada, sei der Eindruck, „dass jeder Weg aus der höllischen Sackgasse von Gaza blockiert ist, mit keiner anderen Möglichkeit, als sich das Leben zu nehmen.“
Ihm selbst ist die Ausreise aus der fundamentalistischen Hölle durch ein Touristenvisum in die Türkei gelungen, von dort auf nicht näher bezeichneten Wegen nach Nord-Europa. Bereits die Erteilung des Visums durch die Hamas-Administration kostet mehrere tausend Dollar. Auch viele seiner Freunde würden solche Wege versuchen, doch die korrupte Hamas hat längst ein erpresserisches Geschäft daraus gemacht und fordert immer höhere Summen. Er beschreibt den Mechanismus am Beispiel des 23-jährigen Sulejman Al-Ajouri, der sich eine Woche zuvor in Gaza erschossen hatte.
Al-Ajouri gehörte zu den Aktivisten einer jugendlichen Protest- und Bürgerrechtsbewegung, die 2019 unter dem Motto „Wir wollen leben“ zum Auslöser großer Demonstrationen in Gaza geworden war. Westliche Medien widmete den Protesten ausführliche Berichte, die BBC bezeichnete sie als „friedliche, populäre Jugendbewegung“. Sie waren ein Versuch, in dem von Gewalt überreizten Klima Gazas friedlichere Formen der Interaktion einzuführen. „Wir sind nicht politisch, wir wollen nicht mal einen Wechsel des politischen Systems“, wurde einer ihrer Sprecher zitiert. „Wir wollen nur unsere Menschenrechte.“
In den unterirdischen Kerkern der Hamas verhört und gefoltert
Für die Hamas ist diese Forderung bereits ein Verbrechen, sie ging mit äußerster Härte gegen die Bürgerrechtler vor: die Straßenproteste wurden blutig zerschlagen, Aktivisten wie Al-Ajouri vom „Sicherheitsdienst“ verhaftet und in den unterirdischen Kerkern der Hamas verhört und gefoltert. Nach seiner vorübergehenden Freilassung versuchte Al-Ajouri, Gaza zu verlassen, er brachte sogar die Summe auf, um ein Touristenvisum zu bezahlen, doch scheiterte er offenbar an weiteren Geldforderungen. Am Ende dieser kurzen Biographie steht sein Selbstmord, einer von vielen dieser Tage.
„Die meisten Gazaner haben mit ähnlichen Erfahrungen zu tun“, schreibt Shehada. „So nahmen sich am selben Tag wie Sulejman drei andere junge Bewohner des Gaza-Streifens das Leben: Ayman al-Ghoul, 24, stürzte sich vom fünften Stockwerk seines Wohnhauses in den Tod, eine 30-jährige Frau erhängte sich in ihrer Wohnung, und Ibrahim Yassin, 21, erlag seinen Verletzungen, nachdem er sich eine Woche zuvor aus Verzweiflung selbst in Brand gesetzt hatte.“
Es handle sich jedoch bei diesem Tag, Anfang Juli 2020, nicht um einen Extremfall, so Shehada in seinem Artikel in HaAretz, da sich auch am kommenden Tag drei junge Gazaner das Leben genommen hätten: ein Ahmed al-Malahi „schluckte 50 Tabletten (offenbar toxischer Substanz)“, ein junges Mädchen stürzte sich aus dem Fenster und ein 18-jähriger Teenager nahm gleichfalls eine tödliche Dosis Medikamente ein („tens of pills“). Am Mittwoch dem 8. Juli, dem dritten Tag in dieser Reihe, versuchte oder vollzog – die Stelle im Text ist nicht ganz klar – ein weiterer junger Mann den Sturz vom Balkon im Gebäude des Ministeriums für Sozialwesen, nachdem dort ein für ihn existenziell entscheidender Antrag abgelehnt worden war.
Natürlich ist der in Schweden lebende, aus Gaza geflohene Student Shehada keine wirklich verlässliche oder nachprüfbare, schon gar keine „offizielle“ Quelle. Andererseits gibt es, was Gaza betrifft, auch keine anderen, die zuverlässiger oder glaubhafter wären. Die „offiziellen“ statistischen Angaben der Hamas sind weitgehend Fantasie, nach jeweiligem Tagesbedarf, und es wirkt lachhaft, wie internationale Organisationen, etwa die Vereinten Nationen oder die EU, die oft frei erfundenen Zahlen der Hamas – zum Beispiel von Todesopfern israelischer Luftangriffe – für bare Münze nehmen.
100 Selbstmorde pro hunderttausend Einwohner?
Zuletzt hatte sich Lorenzo Cremonesi, ein als israelkritisch bekannter Korrespondent der italienischen Zeitung Corriere della Sera, während der Militäroperation „Gegossenes Blei“ im Januar 2009 die Mühe gemacht, in den Krankenhäusern von Gaza selbst zu recherchieren und die dortigen Angaben über Tote und Verletzte mit den „offiziellen“ der Hamas zu vergleichen, er kam dabei auf weniger als die Hälfte der offiziell angegebenen. Andererseits kann angenommen werden, dass die Hamas, falls sie überhaupt Angaben zu Suiziden junger Gaza-Araber macht (was unwahrscheinlich ist, da es Selbstmord nach Maßgaben ihrer Ideologie nicht geben darf), diese gegenüber den wirklichen drastisch reduzieren würde.
Nimmt man die von Muhammad Shehada gegebenen Fälle als halbwegs glaubwürdig an und rechnet sie – acht Selbstmorde in drei Tagen – auf einen Jahresdurchschnitt hoch, käme man (die wahrscheinliche Bevölkerungszahl von 1,2 Millionen zugrunde gelegt, eine Zahl, die deutlich unter den „offiziellen“ Angaben der auf möglichst üppige Hilfsgüter erpichten Hamas liegt) auf rund 100 Selbstmorde pro hunderttausend Einwohner pro Jahr (im Vergleich, nach Angaben der WHO: Deutschland 9, Israel 5, USA 13, Russland 26), vielleicht die höchste, mit Sicherheit eine der führenden Selbstmordraten der Welt.
Deutsche Außenpolitik dieser Tage – besonders unter sozialistischen Ministern wie Steinmeier, Gabriel, Maas – ist träge, teuer und aufs Gestern fixiert. Ideologisch behinderte Konzepte, ruinöse Bündnisse mit ineffizienten Diktaturen, verkalkte Institutionen und parasitäre internationale Organisationen dominieren die Entscheidungen. Daher ist Deutschland, nach dem vernünftigen Rückzug der Amerikaner unter Trump, inzwischen von allen Staaten der größte Sponsor des überflüssigen, für eine Lösung des Gaza-Problems hinderlichen UN-Hilfswerks UNRWA, das weitgehend von Hamas-treuen Kadern kontrolliert wird. Und damit – auf diese und manche andere Weise – einer der Hauptunterstützer der Hamas. Im vergangenen Jahr soll Deutschland (nach der Ankündigung von Außenminister Maas) 145 Millionen Euro für die UNRWA zugesagt haben, ein Großteil dieser großzügig verschenkten Steuergelder dürfte der Hamas zugutegekommen sein.
Nahost-Analysten, auch HaAretz-Autor Muhammad Shehada, begründen die Hinnahme und Unterstützung des Terror-Regimes der Hamas mit der vergleichsweisen Kalkulierbarkeit dieser weitverzweigten Organisation, gemessen an den anderen terroristischen Milizen, die in Gaza ihr Unwesen treiben. Das mag zutreffen oder nicht – unter dem Hamas-Terror zu leiden hat die Bevölkerung. Ihre Verzweiflung zeigt sich in einer erschreckenden Selbstmordrate – andere Möglichkeiten offener Meinungsäußerung bestehen in Gaza nicht. Eigentlich bieten Hilfsgelder die Möglichkeit, dem Empfänger Bedingungen zu stellen. Angesichts der weiteren gedankenlosen Unterstützung des Terror-Regimes in Gaza ist der deutsche Anspruch, die schwache deutsche Nahostpolitik diene einer „Verbesserung der Lage der Palästinenser“, reine Heuchelei.