Von Michael W. Alberts.
Der Unmut vieler Menschen gegenüber dem öffentlichen Corona-Zwangsregiment hängt nicht zuletzt mit der Frage zusammen, wie gefährlich das Virus aus China überhaupt noch ist und ob nicht inzwischen ernsthaft „Entwarnung“ angesagt wäre – also mehr Souveränität, mehr Realitätssinn und weniger fortgesetzte Hysterie.
Die Kanzlerin und ihr bayerischer Unionsfreund Markus Söder betrachten Deutschland in Sachen Pandemie immer noch als hochgefährdete Porzellankiste und fordern nach wie vor höchste Vorsicht ein. Wenn wir nicht aufpassen wie ein Luchs, dann werde sich das Virus schnell wieder exponentiell verbreiten und alle bisherigen Anstrengungen waren quasi für die Katz‘. Das suggerieren sie uns und wollen die Leine, an die wir längst alle gelegt sind, schön kurz halten.
Das aber ist bei nüchterner Betrachtung nicht mehr gerechtfertigt, denn seit März, also inzwischen einem halben Jahr (!), hat sich vieles verändert. Unter anderem sind unsere Mediziner – die ihre Erfahrungen auch international austauschen – klüger geworden im Umgang mit Erkrankten. Es wird nicht mehr so schnell intubiert und zwangsbeatmet, es werden wirksamere Medikamente eingesetzt. Aber vor allem hatte das Virus inzwischen lange Gelegenheit, sich zu verbreiten, zunächst noch im Winter fast unbeschränkt, mindestens wohl zwei Monate lang ab Januar, und dann mit dem Frühjahr einsetzend mehr oder auch weniger gebremst durch die allseits bekannten Vorsichtsmaßnahmen. (Wobei diese in Deutschland alles in allem deutlich weniger streng waren als in vielen Ländern und Regionen, etwa in England oder Kalifornien.)
15 Prozent der Bevölkerung reichen für Herden-Immunität
Und damit sind wir wieder beim Thema Herden-Immunität, das hier auf Achgut schon im Monat Mai näher betrachtet worden ist. Noch einmal knapp zusammengefasst: Die Menschen tragen nicht alle gleichmäßig zur Verbreitung eines Virus bei; „kontaktfreudige“ Menschen, die mit vielen anderen engen Umgang pflegen, können – sind sie erst einmal selbst angesteckt – leicht 10 oder mehr Andere infizieren. Die meisten Menschen auf der anderen Seite werden überhaupt niemanden oder vielleicht gerade mal eine weitere Person anstecken. Besonders zur Ausbreitung beitragen können außerdem bestimmte Ereignisse (zum Beispiel Karneval) und bestimmte Orte (etwa Schlachthofbetriebe oder Altenheime).
Das heißt im Ergebnis, dass eine anfängliche Reproduktionsrate von etwa 2,5 oder 3 nur deswegen so hoch kommt, weil „Superspreader“ so stark dazu beitragen. Sind diese erst einmal – naturgemäß viel eher als die zurückhaltendere Restbevölkerung – aus dem Rennen, sinkt die Reproduktionsrate schnell in Richtung 1 oder darunter. Deshalb müssen nur ungefähr 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung das Virus „hinter sich haben“, damit es sich nicht mehr lange erfolgreich verbreiten kann.
Diese Erkenntnis ist inzwischen noch einmal nachdrücklich bestätigt worden, durch epidemiologisch-statistische Nachbildung der Virusverbreitung in diversen Ländern: Eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern hat den Pandemie-Verlauf in England, Belgien, Spanien und Portugal verfolgt und ihn mathematisch analysiert. Je stärker die Unterschiede innerhalb einer Bevölkerung sind, zwischen den „Superspreadern“ und den quasi kontaktärmeren Menschen, desto schneller wird Herden-Immunität erreicht.
Für England ergibt sich ein Schwellenwert von etwa 20 Prozent, in den drei anderen Ländern von maximal 11 oder 12 Prozent. Wohlgemerkt: Das heißt nicht, dass sich die Krankheit dann gar nicht mehr verbreitet, aber sie läuft sich sozusagen wahrnehmbar tot, es gibt keine unkontrollierbaren Ausbrüche mehr. Kurz vor und hinter dem Schwellenwert breitet sich die Krankheit ungefähr linear aus, also mit einer gleichbleibenden, nicht länger ansteigenden Anzahl von Neuinfektionen pro Woche.
Nicht einfach: vergangenen Ansteckungen nachspüren
Umso dringlicher stellt sich natürlich die Frage: Wie viele Menschen z.B. in Deutschland hat das Virus denn inzwischen erreicht? Bekannt ist nur die Zahl der mit Corona gestorbenen Patienten – und nebenbei auch die Zahl derjenigen, die aufgrund der Infektion ärztliche Hilfe in Anspruch genommen haben (und positiv getestet worden sind, wobei hier die Einschränkungen gelten, auf die Dr. Gunter Frank auf Achgut.com schon so oft hingewiesen hat, im Blick auf falsch-positive Testergebnisse).
Die Zahl derjenigen, die mit dem Virus Kontakt hatten, daran aber in sehr vielen Fällen gar nicht spürbar erkrankt sind, ist leider nicht ohne weiteres festzustellen – bzw. die einschlägigen Hersteller sind erst nach und nach in der Lage, zuverlässige und wirklich aussagekräftige Testverfahren hierfür zu entwickeln, zu probieren und zu evaluieren. Wie funktioniert so ein Test überhaupt?
Der medizinische Hintergrund, hier nur ganz laienhaft zusammengefasst: Ein Virus, das einen Menschen befällt, löst dort normalerweise eine Reaktion des Immunsystems aus. Der Körper wehrt sich, z.B. auch durch erhöhte Körpertemperatur, und durch eigene biologische „Agenten“, die das Virus ausschalten und unschädlich machen sollen. Dazu zählen insbesondere sogenannte T-Zellen sowie Antikörper, von denen es verschiedene Sorten gibt. (Sehr schöne Erläuterung für Laien auf dieser Seite.)
Die medizinische Herausforderung liegt nun darin, nach solchen Elementen zu suchen und daran abzulesen, ob eine Person in den letzten Wochen oder gar Monaten von dem Virus betroffen war. Man kann im Blut eines Menschen nachschauen, aber auch im Speichel oder sogar in der Muttermilch.
Es geht aber bei der Entwicklung entsprechender Tests nicht nur darum, ob sie gewisse biochemische Reaktionen überhaupt anzeigen – sondern auch darum, wie stark sie ansprechen. Damit man sich auf die Tests verlassen kann, müssen sie quasi „geeicht“ werden. Ein Test, der nicht anspricht bei einer Person, von der man sicher ist, dass sie die Krankheit hatte, nutzt offensichtlich nichts. Andererseits nutzt ein Test auch dann nichts, wenn er überempfindlich ist und bei fast jeder Person anspricht, selbst wenn sie niemals infiziert war.
Man kann sich das ungefähr vorstellen wie ein Leitungssuchgerät, das man über eine Zimmerwand führt, um sicher zu sein, dass man beim Eindübeln einer Regalbefestigung nicht eine Strom- oder Wasserleitung anbohrt. Wenn man die Empfindlichkeit zu hoch einstellt, pfeift das Gerät immer, was keine Hilfe ist. Man führt es also über eine Stelle, von der man weiß, dass dort ein Stromkabel verläuft, und regelt es so ein, dass es dort pfeift, aber nicht in einiger Entfernung davon.
Zusammengefasst: Man kann nach unterschiedlichen Stoffen beziehungsweise biologischen Bausteinen suchen, und man muss den jeweiligen Test richtig „kalibrieren“. Und damit das Ganze noch etwas anspruchsvoller wird: Die biologischen Reaktionen unterscheiden sich auch in Abhängigkeit vom Alter, dem Geschlecht und der genetischen Grunddisposition (Herkunft) der Menschen. All das ist also zu berücksichtigen, wenn die bisherige Verbreitung des Virus in der Bevölkerung gemessen werden soll.
Ist Deutschland mit Luxemburg vergleichbar?
Die meisten vorhandenen Tests zu diesem Zweck – also nicht um zu erkennen, ob jemand gerade eben akut erkrankt ist, sondern ob jemand in der zurückliegenden Zeit mit dem Virus befallen war – suchen nach bestimmten Antikörpern, die besonders häufig im Blut der Betroffenen vorkommen und auf die Kürzel IgG oder IgM hören. (Ig steht für Immuno-Globulin)
Es gibt aber auch noch Antikörper IgA, und diese treten gerade bei Atemwegserkrankungen auf, bevorzugt auf Schleimhäuten im Körper. Und es sieht so aus, als wären speziell diese Antikörper ein guter Indikator bei solchen Menschen, die zwar das Virus in sich hatten, damit aber ohne Krankheitssymptome sehr gut und schnell fertig geworden sind. Gerade solche Fälle muss und soll ein Test aber erkennen, der die Verbreitung in der Gesamtbevölkerung zuverlässig abschätzen soll.
Vorstehende Erkenntnisse sind in einem anerkannten Fachjournal berichtet worden, dem „British Medical Journal“ (BMJ). Demnach hängen Studienergebnisse sehr stark davon ab, wonach genau gesucht wird – und auch ob in Blut- oder Speichelproben. Zwei Beispiele: In Luxemburg ist eine Bevölkerungs-Stichprobe von 1862 Menschen getestet worden; anhand von IgG-Antikörpern wurden nur knapp 2 Prozent positiv erkannt, anhand von IgA-Antikörpern aber nicht weniger als 11 Prozent (also fast sechsmal so viel). Bei Mitarbeitern des Gesundheitswesens im Vereinigten Königreich wurden bei 15 Prozent Antikörper im Speichel nachgewiesen – und zwar bei Personen, in deren Blut aber nichts Einschlägiges zu finden war.
11 Prozent der Bevölkerung, wie in Luxemburg, können aber, wie vorhin erläutert, schon Herden-Immunität bedeuten. Und selbst die empfindlicheren Tests können nicht unbedingt zuverlässig anzeigen, ob eine Person vielleicht schon vor einem halben Jahr mit dem Virus betroffen war – denn die entsprechenden Antikörper halten sich nicht bis in alle Ewigkeit im Blut, jedenfalls nicht in einer sicher erkennbaren Konzentration. (Der genannte BMJ-Beitrag erläutert, dass IgA-Antikörper bei Patienten, die im Krankenhaus behandelt worden sind, 38 Tage lang in deren Blut nachweisbar sei, also immerhin knapp sechs Wochen – aber eben nicht monatelang.)
Was wäre das Ergebnis, wenn man diese neueren Erkenntnisse zur unterschiedlichen Eignung verschiedener Testverfahren anwendet? Wie stellt sich die Lage in Deutschland dar? Bei unserem Robert-Koch-Institut wird eine Liste mit Studien zur Verbreitung des Virus geführt. Demnach konzentriert man sich aber bisher stark auf die IgG-Antikörper, die nach BMJ-Erkenntnissen nur einen relativ kleinen Ausschnitt der tatsächlich betroffenen Bevölkerungsanteile zuverlässig anzeigen können. Es werden aktuell 30 Studien genannt, davon allerdings 19 an Angehörigen des Gesundheitswesens, was vermutlich nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sein kann. Von letzteren beziehen 7 auch die IgA-Antikörper ein; von den 11 anderen nur drei.
Bunte Studien-Mischung in Deutschland
Wirklich auf die Gesamtbevölkerung schaut nur eine einzige Studie, die das RKI selbst in Zusammenarbeit mit Blutspende-Diensten realisiert, hierzu liegen aber erst vorläufige Zwischenergebnisse vor. Laut RKI wären damit erst 1,3 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus in Kontakt gewesen, aber es ist allem Anschein nach bei dem entsprechenden Untersuchungsumfang auch nur nach IgG-Antikörpern gesucht worden. Dem RKI scheint das aber zu reichen, denn man schlussfolgert auf deren Website ganz tapfer, dass demnach noch kaum jemand immunisiert sei und eine zweite Infektionswelle befürchtet werden müsse. Ganz die Regierungs-Paniklinie.
Die anderen in der RKI-Liste genannten Studien beziehen wie angegeben nur teilweise auch IgA-Antikörper ein, betrachten zumeist nur relativ wenige und/oder unrepräsentative Personen, und haben großteils noch keine Ergebnisse vorgelegt. Immerhin: Eine Studie in der Stadtregion Fulda an Medizinpersonal und Belegschaft des Einzelhandels zeigt ebenfalls, dass IgA-basierte Tests wesentlich mehr Personen erkennen als IgG-bezogene: mit dem ersten Verfahren wurden immerhin 4,4% positiv getestet, mit dem zweiten nur 1 Prozent.
(Außerdem: Eine Bremer Studie an Angehörigen des Öffentlichen Dienstes fand bei 6 von 281 Teilnehmern IgG-Antikörper, aber bei weiteren 31 IgA-Antikörper. Anstatt daraus zu folgern, dass es sich dabei um weitere Ex-Infizierte, aber mit überaus leichten Verläufen, handeln dürfte, wurde einfach dekretiert, der IgA-Test müsse sozusagen deutlich zu empfindlich/großzügig (unspezifisch) sein. Aber die IgA-Antikörper lungern ja nicht unnötig oder zufällig im Patienten herum, sondern sie müssen von einem Erreger ausgelöst sein. „Schlimmstenfalls“ sind sie nicht von dem neuen China-Virus bzw. einer seiner neuesten Mutationen ausgelöst, sondern von einem ähnlichen Corona-Virus. Aber wenn sie gleichwohl dann auch gegen den neuen China-Virus helfen und diesen daran hindern, in und durch die Schleimhäute in Organe des Körpers einzudringen, dann umso besser. Es kommt nicht darauf an, durch was genau die Antikörper ausgelöst sind, sondern wogegen sie immunisieren.)
Lesen Sie morgen: Die Zahlen des RKI passen irgendwie nicht zur Wirklichkeit.