Von Valbona Ava Levin.
Wutanfälle von Kindern im privaten und öffentlichen Raum sind zur Normalität geworden. Was tun?
Wenn ein Kindergartenkind sagt, es habe „Wut im Blut“, ist das berührend und irritierend zugleich. Es versucht, ein Gefühl, das es nicht in sich halten kann, im Körper zu verorten. Es zeigt auch, dass das Kind schon am Diskurs der Erwachsenen über Wut teilgenommen hat.
In meiner Praxis hat es sich angebahnt, und ich hatte es vorhergesagt. Es waren zunächst die Kinder aus ganz gutem Hause, dann aus gutem Hause und nun trifft es fast die Hälfte der Familien: ein Kind, das weit über die Trotzphase hinaus bei kleinsten Schwankungen der Befindlichkeit einen Wutanfall bekommt. Die betroffenen Kinder werden immer älter.
Immer mehr Kinder haben Wutanfälle, und die Eltern (besonders die Mütter) haben immer häufiger Angst vor ihrem eigenen, manchmal erst fünf Jahre alten Kind. Ist die Wutpotenzierung ein moderner Hype, der sich ausbreitet wie ein Lauffeuer?
In meiner therapeutischen Praxis verraten mir Eltern ihre Wünsche: Sie würden gern ein harmonisches, ruhiges Leben mit ihren Kindern führen. Lebt im Haushalt ein Kind, das regelmäßig Wutanfälle hat, entpuppt sich der Wunsch als Illusion, und das Leben wird zum Karussell, mit Höhen und Tiefen und leichter Übelkeit.
Wie kommt die Wut ins Kind?
Die Kinder leiden unter der Wut, ihre Eltern auch. Die zuständigen Disziplinen reden die Wut schön und sprechen von starken Gefühlen. Das Leiden der Kinder wird als Ausdruck der Individualität oder Kreativität umgedeutet. Oder es wird als unheilbar, hochgefühlig oder genetisch präsentiert.
In der Medizin gibt es Joker, diese Joker sind allgemein bekannt und werden, wenn man nicht weiter weiß, gerne eingesetzt: Genetik und Psychologie. Wenn etwas genetisch oder psychologisch ist, dann ist das Problem zwar nicht erkannt, aber die Diskussion gebannt. Wenn es genetisch ist oder das Problem „zwischen den Ohren liegt“, ist es, als würde gesagt: Nichts zu machen, musst du damit leben. So wird Eltern geraten, mit der Wut ihres Kindes umzugehen, anstatt ihre Kinder von dieser Last zu befreien. Was ist aber das Problem, weshalb haben Kinder Wutanfälle?
Alles, was Kinder probieren und teils fehlerhaft erledigen über zwei Wochen lang, ist normal. Wenn Fehler, wie zum Beispiel ein falsches Bewegungsmuster beim Krabbeln oder Gehen, länger als zwei Wochen anhalten, ist es nicht mehr normal. Wenn es, typischerweise im Leselernprozess, eine Laut-Verwechslung beim Sprechen gibt, die länger dauert, ist es nicht mehr normal.
Die Grenzen der Eltern zu suchen und ihre Stabilität zu testen, ist normal und wird immer wieder auf der jeweils neuen Entwicklungsstufe aktualisiert. Für Wutanfälle gibt es eine Phase, in der diese normal sind – die Trotzphase mit ihren theatralischen Szenen im Supermarkt. Wenn allerdings Kinder ihre eigenen Eltern schlagen, beleidigen, kritisieren und die einfachsten Aufforderungen widerständig verhindern (z.B. Schuhe anziehen, Zähne putzen, ins Bett gehen), ist das nicht normal.
Außerdem ist es nicht normal, wenn Kinder mit fünf, sieben oder gar 13 Jahren immer noch Wutanfälle haben. Diese Anfälle ziehen die Familien auf links, und die Kinder sind in der Therapie oft nicht einmal arbeitsfähig. Damit ist gemeint: Diese Kinder entscheiden dann – als Kindergarten- oder Schulkinder – darüber, ob sie zur Therapie kommen, ob die Therapie etwas oder nichts bringt, ob der Klavierunterricht was bringt, dass Kita/Schule/Sport/Freund/Lehrer nicht gut genug für sie sind.
Verzweifelte Hilfeschreie
Wer dagegen die Frechheit besitzt, die Fragen ursachorientiert zu stellen, bekommt ganzheitliche Antworten. Wie können wir unsere Annahmen und die entstehenden Antworten überprüfen? Auf die ganz alte wissenschaftliche Art: Am Ergebnis!
Das Ergebnis muss aber in all seinen Aspekten gleichzeitig betrachtet werden. Der Mensch muss immer ganzheitlich wahrgenommen werden. Das ist ein Gesetz, das beim Blick auf Kinder nicht missachtet werden darf. So stellt sich die Frage: Tut den Kindern diese Wut gut?
Kleine Kinder sind normalerweise bezaubernd. Sind sie es nicht mehr, stellt dies bereits einen Hinweis dar, dass das Kind leidet. Kinder zeigen auf ihre kindliche Art, dass etwas nicht stimmt. Sie rächen sich, wenn sie ihren Zauber verlieren müssen. Sie müssen aus Verzweiflung ein Gegenbild erzeugen. Das heißt, sie müssen uns Erwachsene ihre eigene Not spüren lassen. Das ist die Klugheit der kindlichen Symptome. Sie bringen jene in Not, die das Kind in Not gebracht haben: ihre Eltern, ihre Erzieher, die Lehrer.
Nimmt man den Kindern die Sicherheit, Ruhe und kindliche Leichtigkeit und Unbefangenheit – ihre Form der Freiheit – werden sie genau diese Qualitäten im familiären und sozialen Umfeld verhindern.
Es gibt Therapeuten, die die Kindesentwicklung kennen. In der normalen Kindesentwicklung haben wir einen Kompass, der uns ans Ziel führt. Und daraus ergibt sich eine klare Antwort auf die Frage, wer die Wut im Kinde kontrollieren kann: die Eltern! Wer kann Ruhe, Sicherheit, Freiheit im Kinde herstellen – die Eltern!
Eltern können und sollen erziehen
Um ein kleines – in der Welt der Kindertherapeuten bekanntes – Geheimnis preiszugeben: Kinder brauchen eine kindgemäße Sprache, eine kindgerechte Erziehung und sichere Eltern.
Nehmen wir nur die Entwicklung des Verstandes und des Geschlechts. Die Phase der Entwicklung der Verstandes- und Geschlechtsebene beginnt mit 14 Jahren. Sie deutet sich mit 12 Jahren schon an, es gibt nichts ohne Übergänge (Phasen der Dämmerung). Das bedeutet aber auch, dass alle Forderungen der Eltern und Pädagogen, sich vorher schon als Verstandes- und Geschlechtswesen zu entwickeln, Kinder in Nöte bringt, die sie überhaupt nicht einordnen können.
Kinder, heute sind es sogar schon Kleinkinder, die ständig nach ihrem Befinden und ihrer Meinung befragt werden, die aufgefordert werden, bewusste Willenserklärungen abzugeben und sich mit den Themen der Erwachsenen zu befassen – diesen Kindern nehmen wir die Ruhe, die Sicherheit und den kindlichen Zauber. Sie nehmen diesen Raub aber nicht einfach hin. Sie wehren sich mit ihren Mitteln.
Ich liebe die Kleinen dafür, wie sie sich wehren. Sie müssen ihre Not fratzenhaft zeigen. Sie verhindern Sprachfluss, sie verhindern, trocken zu werden, sie schreien ihre Eltern an, sie beißen, sie verhindern Harmonie. Sind Kinder in Not, ist es notwendig, ihre Not zu wenden, weil sie es allein nicht können. Schaffen können sie es nur mit den liebenden Eltern.
Sobald wir den Wahnsinn unterlassen, von den Kindern zu fordern, ein Problem zu lösen, dass sie nur offenbaren, aber nicht verursachen, können notwendige Wut-Symptome wie von Zauberhand verpuffen. Zeitgeschichtlich leben wir 2025 in einer Phase, in der Kinder wie Erwachsene, Eltern wie Kinder behandelt werden. Traut euch, liebe Eltern, euer Kind zu erziehen. Erziehen heißt: Sag deinem Kind, was es tun soll!
Valbona Ava Levin lebt in Hamburg und leitet eine Praxis mit dem Schwerpunkt auf der Behandlung von Kindern. Kürzlich erschien von ihr der Ratgeber für sichere Eltern gut entwickelter Kinder „Echte Wonneproppen“. International bildet sie Therapeuten in 'Sensomotorischer Entwicklungstherapie' (Valbona-Methode) aus.