Von Peter Hemmelrath.
Die Angeklagte Siham O., die vor Gericht stets im bodenlangen Niqab erscheint und von Ermittlern als „radikal und gewaltbejahend" eingestuft wurde, darf vor Gericht den Gesichtsschleier tragen und sich ungehindert als Opfer inszenieren.
Siham O. redet schnell. So schnell, dass die wenigen Zuschauer im Saal 1 des Hochsicherheitstrakts des Düsseldorfer Oberlandesgericht (OLG) ihr kaum noch folgen können. Trotzdem rattert die mutmaßliche Terror-Unterstützerin ihren Vortrag im Schnelltempo herunter und macht weder zwischen den Sätzen noch zum Luftholen Sprechpausen. Angekündigt hatte die 1998 geborene Deutsch-Marokkanerin, die sich faktisch selbst verteidigt und ihren Anwalt seit Prozessbeginn damit zum Statisten degradiert hat, einen Antrag zur Beweisführung.
Darin fordert Siham O. die Vernehmung eines in Deutschland lehrenden islamischen Theologen als Zeugen. Als einen von zwei potenziellen Zeugen benennt sie Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster. Ein solcher Zeuge werde, so ihre Überzeugung, bestätigen, dass das ihr zu Last gelegte Tun eine „religiöse Angelegenheit“ sei, die „ihren Ursprung im Islam hat“.
Und damit sei sie nur den Geboten ihrer Religion gefolgt, argumentiert Siham O. sinngemäß. Eine Missachtung dieser Sichtweise, etwa durch eine Ablehnung eines islamischen Theologen als Zeugen, würde ihr in Artikel 4 Absatz 2 des Grundgesetzes verbrieftes Recht auf Religionsausübung verletzen. Spätestens mit dieser Argumentation gerät das, was rund 20 Minuten zuvor lediglich als Antrag angekündigt war, gleichzeitig aber auch zu einem vorweggenommen Plädoyer auf einen Freispruch.
Auffällig dabei ist, dass die sonst bei Gerichten in solchen Fällen üblichen Ermahnungen, langsam und verständlich zu sprechen, bei Siham O. unterbleiben. Im Zuschauerraum kommt das so an, als käme es dem Senat nicht ungelegen, dass ihre dreisten Ausführungen damit kaum verständlich sind. Denn der am Donnerstag vergangener Woche von ihr erläuterte und mit Koranzitaten gespickte Antrag ist nur der vorläufige Höhepunkt einer Mischung aus Posse und Prozessverschleppung, in die Siham O. dieses Verfahren inzwischen gestürzt hat.
„Pflicht als Muslima“
Begonnen hatte alles am 17. April. Seit diesem Tag muss sich Siham O. zusammen mit anderen Angeklagten vor dem 7. Strafsenat des OLG wegen mutmaßlicher Unterstützung der Terror-Organisation Islamischer Staat (IS) verantworten. Die Bundesanwaltschaft wirft ihnen vor, den IS von 2020 bis 2022 mit Geldzahlungen unterstützt zu haben. Die Zahlungen sollen sich „aus zahlreichen von den Angeschuldigten gesammelten Einzelspenden“ zusammengesetzt und in der Summe mehr als 250.000 Euro betragen haben. Mit größeren Summen dieser Gelder wurden Frauen aus von Kurden in Syrien betriebenen Gefangenenlagern freigekauft. Kleinere Summen konnten von den Empfängerinnen dazu genutzt werden, ihren Lebensstil im Lager zu verbessern.
Anfänglich war Siham O. noch von vier Mitangeklagten umgeben. Nachdem sich mehrere von ihnen geständig zeigten, wurden jedoch in zwei Fällen die entsprechenden Verfahren abgetrennt. Dass das Verfahren gegen die ebenfalls geständige Anna Y. nicht abgetrennt werden konnte, liegt nur daran, dass ihr ebenfalls angeklagter Mann Harun Y. bis heute bestreitet, den IS vorsätzlich unterstützt zu haben. Damit wird seit Wochen nur noch gegen das Ehepaar Y. und Siham O. verhandelt. Und O. beharrt bis heute auf ihrer Darstellung, sie habe mit ihrer Beteiligung an der Spendensammelkampagne nur „Frauen und Kindern helfen wollen“. Dies sei ihre „Pflicht als Muslima“ gewesen.
Ursprünglich sollte das Verfahren bereits Mitte Juni beendet sein. Zuletzt aber wurden Termine bis in die Weihnachtszeit hinein vergeben. Dass sich noch immer kein Ende abzeichnet, dürfte aber weniger Harun Y., sondern hauptsächlich Siham O. zu verdanken sein. Denn die nutzte den Prozess erst einmal wochenlang zu wüsten Vorwürfen gegen die Bundesanwaltschaft. „Dass ich hier auf der Anklagebank sitze, ist nur der Unwissenheit der Behörden zu verdanken, die es nicht für nötig erachten, sich mit den Strukturen des Islam zu befassen“, behauptete sie etwa.
Im bodenlangen Niqab und mit schwarzen Handschuhen
„Ich sitze seit einem Jahr in Haft und warte darauf, dass die Willkürhandlungen endlich aufgedeckt werden, damit ich mein Leben weiterleben kann“, forderte Siham O. an anderer Stelle. Gleichzeitig aber stellte sie klar, an einem Leben in Deutschland gar nicht interessiert zu sein: „Ich sehe hier keine Zukunft. Der Islam wird in Deutschland nicht gerne gesehen.“ Ein „sorgloses Leben als Muslima“ sei für sie aufgrund „der Willkür der Behörden“ nicht möglich.
Noch absurder wurden ihre Vorwürfe dadurch, dass sie fast im gleichen Atemzug selbst einräumte, wegen eines Ausreiseversuchs mit Hilfe eines gefälschten Passes sei bereits in Hamburg gegen sie ermittelt worden. Dennoch hatten ihre Tiraden gegen die Bundesanwaltschaft keinerlei Ermahnungen des Gerichts zur Folge. Selbst als Siham O. die Behörden mit der Formulierung „Deutschland scheint bei der Verfolgung religiöser Gruppen seine Vergangenheit nicht ganz abgestreift zu haben“ indirekt mit dem NS-Regime verglichen hatte, blieb das für sie folgenlos.
Damit kann eine Angeklagte, die von Ermittlern als „radikal und gewaltbejahend“ eingestuft wurde, den Prozess bis heute ungehindert dazu nutzen, sich als Opfer zu inszenieren. Abgerundet wird das Bild dadurch, dass Siham O., die vor Gericht stets im bodenlangen Niqab und mit schwarzen Handschuhen erscheint, ihren Gesichtsschleier mit Erlaubnis des Senats auch während der Verhandlungen aufbehalten darf. Lediglich wenn sie das Wort ergreift, muss sie den Schleier kurzzeitig lüften.
IS-Gräuelbilder aufgrund ihres Informationsbedürfnisses
Dennoch platzte dem Vorsitzenden Richter Lars Bachler bislang nur ein einziges Mal der Kragen. Auslöser war die Darstellung von Siham O., auf ihren Datenträgern gefundene IS-Gräuelbilder „nicht zur Unterhaltung konsumiert“, sondern aufgrund ihres Informationsbedürfnisses gespeichert zu haben. Daraufhin ließ Bachler einige der Dateien im Saal zeigen. Zu sehen waren blutüberströmte und zerhackte Leichen sowie abhackte Köpfe, die in die Kamera gehalten wurden, und mehrfach Leichen, denen ganze Körperteile abgetrennt wurden.
Wirkung hatte dies jedoch nicht, denn zuletzt forderte Siham O., ein IT-Experte solle mit Hilfe eines „Zeitstempels“ der Dateien beweisen, dass diese gar nicht von ihr aufgerufen und sie erst nach ihrer Verhaftung von deren Existenz Kenntnis genommen habe. Andere ihrer Beweisanträge sind ähnlich unsinnig, so etwa der, die Vernehmung einer Polizistin, die bei ihr 2021 eine Gefährderansprache vorgenommen hatte, solle belegen, dass sie damals keine Ahnung davon hatte, dass der IS noch immer in Syrien aktiv war. Tatsächlich könnte die Vernehmung der Polizistin aber nur hervorbringen, welche Geschichten Siham O. ihr damals weiszumachen versucht hat.
Gleichzeitig nutzt Siham O. abgelehnte Beweisanträge aber auch geschickt dazu, den Prozess weiter zu verlängern. So fordert sie in solchen Fällen die Möglichkeit einer Stellungnahme zur Ablehnung. Darin erneuert sie faktisch ihren gerade abgelehnten Antrag. Das wiederum bringt die Bundesanwaltschaft in die Position, eine Stellungnahme zu ihrer Stellungnahme abgeben zu müssen. Damit aber drohen Abläufe, die der erneuten und wesensgleichen Stellung eines bereits abgelehnten Antrags entsprechen. Und das wird bei Strafverfahren üblicherweise als Form der Prozessverschleppung gewertet.
Ungewöhnliche Nachgiebigkeit,
Was sich die junge Frau, die von sich selbst sagt, dass der Islam „das Wichtigste in ihrem Leben“ sei, von dieser Verteidigungsstrategie verspricht, wird wohl ihr Geheimnis bleiben. Dass ihr Streben nach einem Freispruch vor dem Hintergrund der nicht von ihr bestrittenen Zahlungen sowie der von Ermittlern in jahrelanger Arbeit über sie gesammelten Erkenntnisse kaum Aussichten auf Erfolg haben dürfte, müsste ihr eigentlich selbst bewusst sein.
Erkennbar ist aber nur, dass sich Siham O., die ihren Schulbesuch abgebrochen hat, weil ihre Vollverschleierung dort nicht akzeptiert wurde, wohl in der Untersuchungshaft ein hohes Maß an juristischem Fachwissen angelesen hat. Das sie aber seit nunmehr fünf Monaten nur dazu nutzt, die Düsseldorfer Richter immer wieder aufs Neue herauszufordern.
Die Nachgiebigkeit, die Siham O. dabei bis heute beanspruchen kann, ist auch deshalb ungewöhnlich, weil Angeklagte oder Verteidiger, die Spielchen zu spielen beginnen oder unverschämt werden, bei Staatsschutz-Verfahren des OLG Düsseldorf regelmäßig die Erfahrung machen, schnell und unmissverständlich in die Schranken gewiesen zu werden. Dies bekam etwa Martin Yahya Heising zu spüren, als er vor Jahren dem OLG bei der Verteidigung von Sabri Ben A. vorwarf, Urteile „aus politischen Erwägungen“ heraus zu fällen. Karina Puderbach-Dehne, die in diesem Fall den Vorsitz innehatte, ließ sich das nicht gefallen und wies den Anwalt mit scharfen Worten zurecht.
Eine immer dreister agierende Angeklagte
Vergleiche mit anderen Verfahren führen jedoch zu der Frage, warum im Fall von Siham O. faktisch alle Sicherungen versagen. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass IS-Frauen schon seit Jahren mit deutlich milderen Urteilen bedacht werden als entsprechende männliche Angeklagte. Auch die Nachsicht, die IS-Frauen für ihr Verhalten vor Gericht beanspruchen können, ist deutlich größer. So wäre es bei einem männlichen Angeklagten kaum vorstellbar, dass eine Richterin ihm gestattet, sein Salafisten-Käppi während der Verhandlung aufzubehalten.
Hier aber hat ein Mann den Vorsitz. Drei der vier beisitzenden Richter sind Männer. Und die Anklage wird ausschließlich von Männern vertreten. Das könnte die Hemmungen davor, eine immer dreister agierende Angeklagte auch einmal weniger sanft anzufassen, ebenso erklären wie die Erlaubnis, ihren Gesichtsschleier auch während der Verhandlung aufzubehalten.
Und eine Angeklagte, die intelligent genug ist, sich in der Haft juristisches Fachwissen anzueignen, dürfte auch schlau genug sein, solche Vorteile schnell zu begreifen und für sich zu nutzen. Das könnte auch das Ende dieses Prozesses noch sehr schwierig gestalten. Denn dass Siham O. freiwillig wieder damit aufhört, weiter auf unsinnigen oder längst abgelehnten Beweisanträgen zu bestehen, käme einem Wunder gleich.
Lesen Sie auch den ersten Artikel: Sihams Auftritte im Islamisten-Prozess
Peter Hemmelrath arbeitet als Journalist und Gerichtsreporter u.a. für dpa, FOCUS, Junge Freiheit, Nordwest-Zeitung und Bonner General-Anzeiger.