Der grüne Vizekanzler Robert Habeck inszeniert sich als Intellektueller mit dem großen Durchblick. In einer Rede maßt er sich Erkenntnis an, die selbst Hegel in den Schatten stellt.
Robert Habeck hat sich bei einer Rede im brandenburgischen Neuhardenberg am 9. November 2024 über die Meinungsfreiheit geäußert. Europa dürfe die Meinungsfreiheit nicht Elon Musks Social Media-Unternehmen „X“ und chinesischen Plattformen anvertrauen. Er betonte auch: Die Meinungsfreiheit sei ein hohes Gut. Frei war gewiss die Entscheidung des Vizekanzlers, seine Kanzlerkandidatur einige Tag vor seiner Rede in einer infantilen Inszenierung unter anderem auf dem ‚Desinformations‘-Portal X anzuteasern. An seinem Arm befand sich ein Taylor-Swift-Freundschaftsbändchen mit der Aufschrift „Kanzler Era“. Wie lustig. Wie süß. Mit dem Entschluss, Kanzlerkandidat zu werden, kehrte er auch auf die von ihm so geschmähte Plattform zurück: „back for good“, also für immer, wie er schrieb.
Darf man das noch als Scheinheiligkeit bezeichnen oder steht dann schon bald die Polizei vor der Tür? Habecks bislang leider hoch erfolgreiche Versuche, politischen Opponenten die repressive Macht des Staates wegen teilweiser Nichtigkeiten spüren zu lassen, kennt man. Eine „scharfe Anwendung des Digital Services-Act ist das Mindeste“, sagte er im Oktober 2024 mit Blick auf die Meinungsfreiheit in den sozialen Medien. Die fatalen Folgen für die Architektonik liberaler Demokratien lassen sich bereits im anti-liberalen Meldestellen-Wesen rund um die „trusted flagger“ beobachten.
Bei seiner Rede in Neuhardenberg sagte der Bundeswirtschaftsminister aber etwas noch viel Beunruhigenderes, etwas, das noch prägnanter die Selbstüberschätzung dieses Mannes, um die herum er das Image des einfühlsamen Knuddelbärs aufgebaut hat, abspiegelt – und das wiederum eng mit dem Kampf unter anderem seiner Partei gegen die Meinungsfreiheit verknüpft ist.
Habeck sprach über den 9. November, dieses geschichtsträchtige Datum in der deutschen Geschichte: Die Ausrufung der Republik im Jahr 1918, die Reichspogromnacht 1938 und der Fall der Mauer 1989; er beschwor die vielen Krisen in der Welt (von denen er die Wirtschaftskrise in Deutschland zumindest mitverantwortet) und hob sodann darauf ab, dass irgendjemand doch die Signatur der Zeit erkennen müsse. Wenn es schon so viele Krisen gibt, dann, so insinuierte Habeck, dürfe nicht auch noch die Krise der Verwirrung über diese Krisen hinzukommen.
Habeck, der große Philosoph
Behutsam erklärte Habeck seinen Zuhörern ein markantes Wort aus der Rechtsphilosophie Hegels: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (1) Erst wenn eine historische Gestalt abgeschlossen ist, so könne man ihre Bildungsgesetzlichkeiten erkennen. Die Eule der Minerva ist das Symbol der Weisheit. Was Habeck mit edler philosophischer Referenz wohldidaktisiert erläuterte, kennt in einer Variante auch der Volksmund: „Hinterher ist man immer schlauer.“ Habeck hingegen will die Gegenwart, von der er Teil ist, bereits als Zeitgenosse vollumfänglich erkennen. Er will den Flug der Eule der Minerva bereits jetzt fliegen: „Für politische Handlung“, sei das, was für die Philosophie tröstlich ist, „zu wenig“. Und so setzte Habeck, seinem Status als „Kanzlerkandidat für die Menschen“ entsprechend, denkbar groß an: „Heute, am 9. November 2024, nach der US-amerikanischen Wahl und dem Bruch der Ampelregierung, frage ich mich: Kann man erkennen, in welcher Zeit man lebt? Kann man in seiner Zeit die Veränderungen und Bedingungen der Geschichte seiner Zeit begreifen?“ Und mit Blick auf seinen bevorstehenden Eulenflug: „Wenigstens muss es darum gehen, möglichst früh in der Dämmerung aufzusteigen und möglichst hoch. Ich möchte das mit dieser Rede versuchen.“
‚Autsch‘, möchte man da rufen, als hätte einem jemand mit Springerstiefeln auf den großen Zeh getreten: Robert Habeck setzt sich an die Stelle eines Symbols der Weisheit. Und während Hegels Eule der Minerva erst im Nachhinein das Wesen einer historischen Formation erkennt, unterliegt Habeck dieser Beschränkung gerade nicht – er übertrifft vielmehr noch die Eule der Minerva, denn er beansprucht ja, die geschichtliche Gestalt bereits im Werden zu erkennen. Und aus dieser intellektuell schier übermächtigen Position steigt er auf – „möglichst früh und möglichst hoch“. Und aus dieser Position eines weisen Weltenlenkers wird er uns in unserem Handeln anleiten, wenn er erst einmal Bundeskanzler ist. Das ist eine Kombination von drei Topoi politischer Führerschaft, die in der Geschichte stets in der Katastrophe geendet hat. Intellektueller Hochmut paart sich mit dem Wunsch, die geschichtlichen Bedingungen des eigenen Handelns als solche zu erkennen und sie auf der Grundlage dieses Erkenntnisaktes zugleich zu verändern. Je totalitärer, je repressiver ein politisches System, desto stärker war es getrieben von diesen Ansprüchen und desto tiefer reichten sie, um aus der Tiefe der Geschichte heraus, die irgendein großer Philosoph letztgültig erkannt hat, die Gegenwart zu verändern. Marx, der Schöpfer des Kommunismus, hat die Hybris, das Gesetz der Geschichte erkennen zu können, von seinem geistigen Lehrer Hegel geerbt – Habeck wird auf seiner beeindruckenden Flughöhe auch das natürlich wissen.
Mit dem Gegenentwurf einer „Stückwerk-Sozialtechnik“ (2), wie sie Karl Popper – der große Kritiker der geschichtsphilosophischen, utopistischen Hybris und einer der schärfsten Kritiker Hegels – einmal beschrieben hat, sind liberale und plurale Gesellschaften seit nunmehr fast 80 Jahren gut gefahren. Die Abkehr davon, die sich bis in die Rede des Kanzlerkandidaten für die Menschen hinein aufzeigt, ist ein Zeichen dafür, dass die liberale Gesellschaftsformation in der Tat gehörig unter Druck geraten ist. (3) Auch Habeck konstatiert dies mit dem Blick auf „die Rechten“ ebenfalls, und er merkt nicht, wie sehr er mit dem Gestus, in dem er seine in einer für Normalsterbliche kaum erreichbaren Flughöhe gewonnen Erkenntnisse vorträgt, genau dazu beiträgt.
Habeck, der große Demokrat
Wieder einmal sehen wir das, was man von den Manipulationstechniken der Grünen kennt: Die „Eule der Minerva“, die Referenz auf den Preußenphilosophen Hegel, ist einfach ein „Framing“, mit dem einem routinehaft vorgebrachten Topos grüner Reden und grüner Parteitage der Anschein großer Erkenntnis gegeben werden soll. Aber der Kaiser ist nackt. Entkleidet man Habecks Botschaft ihres philosophischen Rahmens, so tritt ein simpler links-grüner Kalenderspruch zum Vorschein: Die Rechtspopulisten und böse Autokraten machen „unsere Demokratie“ kaputt, indem sie mit ihren Trollen und Fake News die Gesellschaft spalten und Verunsicherung streuen.
Natürlich ist es keine Schande, – wie Robert Habeck – Autor von Kinderbüchern gewesen zu sein. Geschichten zu erfinden, an denen sich jüngste Menschen mit glucksendem Lachen erfreuen können, Figuren zu entwickeln, die Kindern zum Vorbild oder zur Projektionsfläche für die Bewältigung eigener Konflikte dienen können, ist eine Kunst, die hoch zu schätzen ist. Aber Thesen von so atemberaubend intellektueller Schlichtheit in den Schein großer philosophischer Entwürfe zu stellen, das darf man einem ehemaligen Kinderbuchautor wohl zum Vorwurf machen.
Komplementär zu dieser Hybris verhält sich das Misstrauen von Habeck und weiten Teilen seiner Partei gegenüber der freien Meinungsäußerung. Die „grüne Netzfeuerwehr“ ist der jüngste Versuch, das zu tun, was man so gerne den bösen Rechten – teilweise zu Recht, teilweise zu Unrecht – vorwirft: ein Grundrecht zu nutzen, um ein Grundrecht auszuhöhlen.
Die Begleiterin der Minerva ist eine Eule
Gewiss: Meinungsfreiheit, die in einer Demokratie ausweislich des Bundesverfassungsgerichts sogar den „Feinden der Freiheit“ gewährt wird, führt dazu, dass auch mal über die Stränge geschlagen wird, bisweilen auf schwer erträgliche Weise. Freiheit bedeutet nämlich, dass menschliche Handlungen nicht gänzlich einzuhegen sind. Das ist der Preis der Freiheit. Dass es einen Preis zu bezahlen gibt, wenn man gegen Gesetze verstößt, Menschen beleidigt oder herabwürdigt, gehört ebenfalls zur Freiheit dazu. Aber die Angriffe auf die Meinungsfreiheit mit Hilfe eines Regiments von Kampfbegriffen links-identitärer Provenienz und den Vorstößen unverantwortlich agierender Politiker à la Lisa „unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ Paus, ebenfalls einer Grünen, gehen weiter als diese Selbstverständlichkeiten, die jedem denkenden Menschen einleuchten. Sie hadern mit dem Prinzip der Freiheit selbst und wollen ihren Denkrahmen als die Freiheit, die Demokratie schlechthin verkaufen. Die Sprachzerstörung ist in diesem Vorgang bereits impliziert: Immer, wenn vom „Demokratieschutz“ die Rede ist, geht es in Wirklichkeit darum, dass ein bestimmter Deutungsrahmen nicht verlassen werden soll. Dass dies nicht nur den Grünen zu eigen ist, sondern auch Teilen der SPD und der CDU, war in einer gruseligen Politinszenierung bei den ZDF-Fernsehclowns Joko & Klaas zu beobachten, in der sich Merz, Habeck und Scholz zu düsterer Musik auf schwarzem Grund wechselseitig des Diskurskorridors vergewissert haben.
Und warum auch, so muss man nun nach Habecks Neuhardenberger Rede fragen, sollten die Einzelnen frei denken und sich frei ausdrücken, wenn die Eule der Minerva bereits hoch über ihnen schwebt und jenen Weg ins Licht schon sieht, den der Einzelne noch nicht erkennen kann, weil er eben die notwendige Flughöhe noch nicht erreicht hat? Seine Rede war denn auch ein raffinierter Appell an die Emotionen seiner Zuhörer. Man beschwört erst die angebliche ‚Verwirrung‘ der Menschen, deren Kanzler man sein möchte: „Auf Tiktok und X werden Desinformationen verbreitet, um den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge zu verwischen und die Menschen kirre zu machen.“ Sodann präsentiert man sich selbst als den Ausweg aus dieser schrecklichen Konfusion, die der Einzelne ohne Anleitung nicht zu bewältigen vermag. Das entspricht Werbung im eigentlichen Sinne – Bedarfsweckung: „Robert“, so sollen die Zuhörer nach der Rede denken, „bitte führe uns aus der Verwirrung. Steig für uns in deiner Weisheit auf und erlöse uns von den bösen Rechten.“
Aber vergessen wir nicht: Die Begleiterin der Minerva ist eine Eule – sie sieht tagsüber schlecht. An Habeck kann man das beobachten: Er sieht die liberalen Demokratien unter Druck – und beschädigt sie selbst mit seinem Gestus des allwissenden, sich selbst seiner geschichtlichen Handlungsbedingungen vergewissernden Herrschers. Ein größerer Widerspruch zu dem penetrant vor sich her getragenen „Auf Augenhöhe“-Gestus, den er derzeit in deutsche Küchen bringt, um dort „zuzuhören“, ist kaum denkbar: Hier Habeck, die Eule der Minerva, dort „die Menschen“, deren Kanzler er sein will. Das sorgfältige Lesen von Polit-Kitsch verrät bisweilen mehr über den politischen Prozess als die größte Sammlung standardisierter Daten.
„Halten wir die Freiheit hoch!“
In einer freiheitlichen Gesellschaft sollte diese Art von Paternalismus eigentlich schon längst passé sein. Vertrauen wir lieber weiterhin auf die Initiativen der vielen Einzelnen – auch auf die Fähigkeit, gemeinsam und vernetzt zu handeln, kreativ, widerständig, in Eintracht, eben: unvorhersehbar. Die wechselseitige Korrektur in freier und offener Rede, ja auch die Herausforderung des politischen Opponenten in polemischer, satirischer und pointierter Weise, ist das Gegengift zur Hybris geschichtsholistischer Weisheitsanmaßungen. Die Verschwisterung von intellektueller Überheblichkeit, geschichtsphilosophischem Sendungsbewusstsein und politischem Herrschaftsanspruch ist eine der Hauptrouten in die Knechtschaft. Habeck beschreitet sie, wenn er in seiner Rede meint, es sei „Zeit, den Kompass neu zu eichen, Zeit, diesen 9.11.‘24 in seiner politischen Bedeutung […] zu erkennen – also, aus dem Eulenblickwinkel des Minervaflugs, Zeit, die Kraft aufzubringen, in unserer Geschichte Geschichte zu schreiben.“
Wer so selbstgewiss auftritt, der erkennt auch ebenso gewiss die Ketzer, die seine Lehre bedrohen. Seine enge politische Vertraute Franziska Brantner, Vorsitzende der grünen Partei seit dem 16. November 2024 und Parlamentarische Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium, identifizierte kürzlich in einem Video zwei aus der Geldanlageszene stammende Youtuber, die die Gesellschaft „vergiften“. Ihre Vergehen: Sie hatten die Wörter „linksgrünversifft“ und „Regenbogenpresse“ verwendet. Brantner lobte die Trusted Flagger-Meldestelle „Respect!“ und schrieb: „Mit Desinformation erreicht man (nicht nur) auf YouTube Millionen. Meinung & Fake verschwimmen, Algorithmen treiben es an.“ Hochgeladen hatte auch Brantner ihr Video auf „X“, der abgefeimten Desinformationsplattform von Elon Musk. Habecks letzte Worte in seiner Neuhardenberger Rede lauten: „Halten wir die Freiheit hoch!“
Wer neugierig ist, wohin Orwellsche Sprachzerstörung, gepaart mit Doppelmoral und patriarchaler Selbstgewissheit, noch führt, der wird den Fortgang des Experiments wohl weiter bestaunen können. Der vermutlich nächste CDU-Kanzler Friedrich Merz hat seine Koalitions-Blinker schon mal mit einem grünen Lämpchen ausgestattet. Habeck und Merz: Das heißt wohl eine noch schärfere staatliche Repression gegenüber Bürgern, die sich zugespitzt in die Debatte einbringen. Wir dürfen deshalb damit rechnen, dass für die breite Mitte der vernünftigen, arbeitenden Mittelschicht die Diskurskorridore noch enger werden, die Meinungsfreiheit noch stärker unter Druck gerät. Wer sich da schließlich noch durchzwängt, der wird mit immer höherer Wahrscheinlichkeit ein echter Radikaler sein. Die Förderung des radikalen Rechtspopulismus ist ein Resultat des Handelns der Eule mit dem grünen Federkleid. Wäre sie mal lieber am Boden geblieben.
Der Beitrag erschien zuerst bei Novo-Argumente.
Dr. Christian Zeller ist Soziologe.
Quellen:
(1) G. W. F. Hegel: „Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke 7“, Suhrkamp 1986, S. 28.
(2) Karl R. Popper: „Das Elend des Historizismus“, Mohr Siebeck 2003, S. 57.
(3) Kolja Zydatiss / Mark Feldon: „Interregnum. Was kommt nach der liberalen Demokratie?“ LMV, 2024.
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