Hamed Abdel-Samad, Gastautor / 20.12.2016 / 08:29 / Foto: Freud / 29 / Seite ausdrucken

Guten Morgen, Berlin!

Von Hamed Abdel-Samad.

Ich bin oft aus beruflichen Gründen innerhalb Deutschlands umgezogen. Aber ich kam nach Berlin nur wegen Berlin. Ich wollte in dieser Stadt einfach leben. Denn Berlin ist mir ähnlich: Verrückt, frei und voller Narben! Die Brüche und Umwälzungen dieser Stadt haben mich immer fasziniert.

Berlin ist oft in die Knie gegangen, ließ Kriege, Zerstörung, Teilung, Diktatur, Mauer und Belagerung über sich ergehen. Aber Berlin ist immer aus den Trümmern auferstanden und pflanzte Blumen auf den eigenen Narben. Berlin wurde mit jeder Wunde erwachsener und lernte aus den Fehlern der Vergangenheit. Es öffnete seine Arme für Menschen aus aller Welt, für das Leben, die Kunst und die Freiheit. 

Heute zahlt Berlin den Preis für seine Weltoffenheit. Es wurde im Herzen getroffen, ausgerechnet am Weihnachtsmarkt, ausgerechnet vor der Gedächtniskirche, die immer noch mit einer Narbe der Vergangenheit geschmückt ist. 

Berlin, die Stadt, die niemals schläft, ist gestern zu früh ins Bett gegangen, mit Tränen in den Augen und Kummer im Herzen. Aber ich konnte nicht schlafen. Ich weine um meine Stadt, um meine Nachbarn, um mein Land. Und ich mach mir Sorgen!

Ich glaube an Berlin und bin mir sicher, dass diese Stadt auch das wegstecken wird. Denn Berlin hat sich für das Leben entschieden. Ich mache mir aber Sorgen, dass nun die Hass- und Wutindustrie noch mehr Konjunktur bekommt. Und Hass liegt Berlin nicht so. 

Wir sollten mit aller Härte gegen die Angreifer vorgehen, gar keine Frage. Aber bitte nicht die Falschen dafür bestrafen! Bitte lasst uns gegen die Prediger der Gewalt vorgehen, aber nicht jeden Muslim verdächtigen! Lasst uns lernen, zwischen Mensch und Ideologie zu unterscheiden!

Die Wunde wird heilen, wenn wir zusammenhalten und ehrlich über die Ursachen reden und effektive Maßnahmen dagegen ergreifen, aber nicht, wenn wir uns gegeneinander wenden und unsere Weltoffenheit aufgeben! Denn gerade diese ist die Lebensversicherung von Berlin! 

Lasst uns das tun, was die Terroristen hassen, und was Berlin am besten kann: Uns dem Leben und der Freiheit zuwenden!

Guten Morgen Berlin! Ich hab dich lieb!

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Leserpost

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Jürg Sand / 20.12.2016

Das hat nichts mit Berlin und seiner Geschichte zu tun. Berlin ist nicht persönlich betroffen, der Ort kann Köln, Freiburg, Hamburg oder München heissen. Der Dchihad wurde mit einer unverzeihlichen Irrsinnstat willkommen geheissen und die Verantwortlichen kämpfen seither gegen den Machtverlust, gegen ihre Kritiker, nicht gegen den Dschihad!

Bernhard Freiling / 20.12.2016

Das sind die ersten wirklich bewegenden Worte, die vom Herzen kommen und die zum Herzen gehen, die ich zu diesem Anschlag gelesen habe. Danke dafür!

Andreas Hahn / 20.12.2016

Guten Morgen, lieber Hamad Abdel-Samad, Du ehrlicher, aufrechter Mensch. Deine Worte tun uns gut, sind tröstlich. Wir haben Dich auch lieb! Wir sprachen mit Dir nach Deiner Lesung in Brunsbüttel und bewundern Dein Engagement! Andreas Hahn Ellen Kühn

Martin Schott / 20.12.2016

Sehr geehrter Herr Abdel-Samad, vielen Dank für Ihre Worte und Ihre aufrichtige Anteilnahme. Sie haben wie so oft völlig Recht. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass die große Mehrheit der Deutschen sehr wohl zwischen dem einzelnen Muslim und einer politischen Ideologie wie dem Islamismus unterscheiden kann. Die große Mehrheit der Medien und des parteipolitischen Spektrums wiederum scheint den Deutschen diese Trennschärfe nicht zuzutrauen. Mehr als zwölf Stunden sind seit dem Anschlag vergangen und die Medien haben in der Endlosschleife Stunde um Stunde die unwahrscheinlichsten Szenarien für den Hintergrund der Tat durchgekaut, nur nicht das wahrscheinlichste, das aufgrund der immer dichteren Indizienlage nun auch zutreffend erscheint. Von einer ehrlichen Debatte über die Ursachen sind wir offenbar weit entfernt. Und das beunruhigt mich am allermeisten.

B.Kröger / 20.12.2016

Ein wunderbarer Text Herr Abdel-Samad! Eine Liebeserklärung an die gebeutelte Stadt Berlin.

Franck Royale / 20.12.2016

So einfach ist eben leider nicht, zwischen Mensch und Ideologie zu unterscheiden - schon gar nicht, wenn eine Ideologie sämtliche Aspekte des Menschseins durchdringt. Wo hört die Unschuld auf, wo fängt die Schuld an? Kein anderes Land hat sich so intensiv mit dieser Frage beschäftigt wie Deutschland. Wieviel Ideologie verträgt eine weltoffene, demokratische Gesellschaft? Haben wir wirklich aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt? Momentan sieht es nicht danach aus.

Ottmar Gerstner / 20.12.2016

“Wir sollten mit aller Härte gegen die Angreifer vorgehen”. Oft gehört und selbstverständlich. Wie wäre es zusätzlich mit:  “Wir sollten mit aller Härte gegen die politisch Verantwortlichen vorgehen, welche die Voraussetzungen solcher Verbrechen schufen” ?

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