Antje Sievers / 17.11.2008 / 23:22 / 0 / Seite ausdrucken

Grünkohlsaison

?Jetzt ist wieder Grünkohlzeit?, hörte ich neulich eine Frau auf dem Wochenmarkt sagen, ?Ich würde ja gern mal welchen machen, aber die Kinder essen ihn ja nicht!? ?Meine essen überhaupt kein Gemüse? antwortete eine andere Kundin, ?höchstens noch Karotten, und die nur mit Pommes. Und Ketchup. Und nur, wenn es hinterher noch Eis gibt!? Weiß Gott, die Zeiten haben sich geändert. Wenn ich da an meine Kindheit denke! Ich entstamme einer dreihundertjährigen Dynastie von norddeutschen Bauerntrampeln. Bei uns lebten drei Generationen unter einem Dach. Und gegessen wurde, was auf den Tisch kam. Meine Großeltern, die sich durch zwei Weltkriege gehungert hatten, wären nicht einmal im Traum auf die abstruse Idee verfallen, Kinder nach ihren Sonderwünschen zu ernähren. Wenn wir etwas mochten, aßen wir es; wenn nicht, blieb es eben liegen. Infolgedessen litten wir auch nicht an solchen modernen Essstörungen.
Pommes? Die galten damals nicht mal als Lebensmittel. Eine Tüte Pommes Frites gab es sehr, sehr selten mal als Leckerei; als kleine Belohnung für eine gute Schulnote zum Beispiel.
Wir aßen einfach alles, selbst Gerichte, die heute die meisten Erwachsenen als Zumutung empfinden würden…

Ausgequetschte Zitronenhälften aus Mutters Küche zum Beispiel, die wir mit Zucker bestreuten und stundenlang an ihnen herumlutschten. Genauso gern kauten wir Speckschwarten.
Wenn unsere Mutter abends Frikadellen oder Koteletts für unseren Vater briet, war es ein Hochgenuss für uns, mit trockenem Landbrot das Fett aus der schweren, blau emaillierten Pfanne zu stippen.
Wir schaufelten rein, was die authentische norddeutsche Küche hergab; Gerichte, die heute überwiegend in der Versenkung verschwunden sind. Zum Wohle der Menschheit, kann man da nur sagen. Denn dazu gehörte zum Beispiel Grützwurst mit Rosinen, eine Delikatesse aus Schweineblut, Schweinefett und Grütze. Oder süßsaure Linsen, ein Eintopf, der wie Erbrochenes aussah, roch und schmeckte. Oder dicke Pferdebohnen mit ihrem unverwechselbaren Aroma von Moder und Schmierseife.
An der einsamen Spitze dieser Horrorgerichte stand das Schwarzsauer. Das ist ein Gericht, das mit der schönen alten Sitte der Hausschlachtung vom Speisezettel verschwunden ist. Laut wikipedia entspricht das norddeutsche Schwarzsauer der schon bei den Spartanern bekannten ?Blutsuppe?. Die unverzichtbaren Bestandteile waren frisches Schweineblut, Essig und Fetzen von Schlachtabfällen. Man aß es, wenn ich mich recht erinnere, mit Kartoffelbrei. Ganz genau kann ich das nicht mehr sagen, denn wenn meine Mutter Schwarzsauer zubereitete (nur mein Vater und mein ältester Bruder aßen es, was bestätigt, dass dieser Ekelfraß nichts für Weicheier war) floh ich stets in die hinterste, äußerste Ecke unseres Gartens.
Oder ich verließ die Stadt.
Es gab aber auch Spezialitäten, an die ich mich gern erinnere; Küche der genügsamen Nachkriegsjahre ohne Schnörkel und exotische Zutaten. Während man eine Straße weiter schon solche Dinge wie Wassermelone, Pizza und Oliven kannte, herrschte in der Maison Sievers kulinarische Frühgeschichte. Gemüsesuppe, auf Querrippe und Markknochen gekocht, mit dicken Graupen angereichert, so was aß ich gern! Oder etwas, das meine Mutter “Frühlingsessen” nannte: Pellkartoffeln mit Petersiliensoße und Schinkenwürfeln. Oder Labskaus, dass berühmte Seemannsgericht, das vor dem Genuss genauso aussieht wie hinterher. Und Suppen gab es bei uns ständig, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Zum Nachtisch gab es Zitronensaftsuppe mit Rosinen und Eischnee (lecker) oder Rotweinsuppe mit froschlaichartig aufgequollenem Sago.
Während die normalen Menschen draußen in der richtigen Welt normale Dinge wie Brötchen, Toast, Marmelade und weiche Eier frühstückten, hockten wir löffelnd vor Milchsuppe oder Grütze in tiefen Tellern, die mein Vater ?Kummen? nannte. Wenn er rief: ?Frau, meine Kumme ist leer; und bring mal die Kruke mit dem Zucker mit!?, dann sah man vor dem inneren Auge bucklige Mönche durch unsere Küche schlurfen.
Und im November begann dann die schreckliche Grünkohlzeit.Warum alle Norddeutschen diesen unästhetischen, blähenden Bauernfraß lieben, ist mir bis heute ein Rätsel.
In meiner Kindheit wurde er in riesigen Töpfen mit Gänseschmalz zubereitet, zusammen mit Kassler und salzigen, fettspritzenden Kohlwürsten. Als ob das alles noch nicht widerlich genug gewesen wäre, streuten wir uns noch Esslöffelweise Zucker über den Kohl. Das war so Usus. Endgültig geheilt von der Unsitte des Grünkohlgenusses wurde ich eines Heiligabends.
Meine Großmutter hatte den Waschkessel vom Boden gewuchtet und rund eineinhalb Tonnen Grünkohl sowie eine fette Weihnachtsgans von der Größe eines Flugsauriers angesetzt. Zu diesem Festmahl servierte sie ihrer Familie in seliger Unkenntnis kulinarischer Feinheiten einen billigen, sauren Rotwein. Drei Tage lang dachte ich, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Ich hatte eine veritable Gallenkolik erlitten
Also auf und auf in die schöne Grünkohlsaison! Aber seien Sie klug und trinken Sie hinterher einen Aalborg-Akvavit! Oder besser drei.

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