In roter Handschrift steht über das Konterfei von Terry Reintke, der Spitzenkandidatin der Grünen für die Europawahl, „Verräter“ geschrieben. Dieser knappe Kommentar offenbart ein Phänomen von Selbstzerstörung.
An einer großen Kreuzung in Berlin-Friedrichshain steht zurzeit ein Wahlplakat der Grünen für ihre Spitzenkandidatin zur Europawahl, Terry Reintke. Es wurde beschmiert wie ein gewöhnliches Plakat der AfD. Dieser Stadtteil, wo Alternative aus linken Milieus in ihren ureigenen Hausbesetzer-Habitaten schon immer mit dem Immobilien-Kapitalismus und der Gentrifizierung haderten, steht für eine fatale Absage an die erträumte Umverteilung von Oben nach Unten.
Verfügt und mitverantwortet durch die eigenen Genossen im Senat und im Eigentumsübergang auf „progressiv“ eingestellte Parvenüs findet hier ein schleichender Häuserkampf linksgrüner Hipster-Spießer gegen die Pseudoromantik der grenzdebil verkrusteten Antifa statt, die generell auch etwas gegen elektrische Bonzenkarren und Penthouses mit Photovoltaik hat. Friedrichshain ist ein Labor, wo die Revolution zum Kannibalen wurde. An diesem spannenden Ort also steht das Wahlplakat der Grünen für ihre Spitzenkandidatin, das einer denkwürdigen „Korrektur“ unterzogen wurde.
In großer roter Handschrift aus der Sprayflasche steht über das Konterfei von Terry Reintke „Verräter“ geschrieben (noch nicht einmal gegendert). Dieser knappe Kommentar offenbart das Phänomen einer Selbstzerstörung, und erinnert an Georg Büchners Sentenz „die Revolution frisst ihre Kinder“ aus seinem Drama „Dantons Tod“. Kein Grund zur Häme, aber für eine nähere Betrachtung von „Verrätern“, die aus den eigenen Reihen kommen und in Ungnade gefallen sind.
Das ist sie also, die neue, schmutzige Wirklichkeit im „Elysium“ der Weltverbesserer, wo man den Makel und das Stigma des kläglichen Scheiterns, der gebrochenen Versprechen, der verfehlten Ziele, der Lüge, der Vetternwirtschaft und des herrschaftsverliebten Zynismus nicht mehr länger vom aseptischen Haltungskosmos der „Guten“ fernzuhalten vermag. Nun kann diese neue Wirklichkeit nicht länger kontrolliert und ausgesperrt werden, weil sie sich mit der brutalen Kraft falscher Politik bereits so manifestiert hat, dass sich ihre utopischen Ansprüche mit ungeheuren Scherkräften an den Sollbruchstellen der Gesellschaft, Wirtschaft und Ökologie entfalten.
Der linksgrün-moderne Chic ist eine trügerische Charmeoffensive
Die Pächter der politischen Floskeln „Gerechtigkeit“, „Klimaneutralität“, „Kreislaufwirtschaft“, „Unterhaken“, oder „Solidarität“ sorgen für das realisierte Gegenteil in einem an Wahnwitz grenzenden Chaos unvorhergesehener, „unvorhersehbarer“ Kollateraleffekte, die beim Wähler ganz schlecht ankommen. Der Panik um das Ende im kollektiven Klimakollaps läuft die Panik um das Ende des individuellen Wohlstands den Rang ab. Zwei Tode kann kein Wähler sterben, also muss er sich als erstes dem nächstliegenden Desaster widmen, um es für sich persönlich zu vermeiden.
Es stehen nun grüne „Verräter“ mit dem Rücken an der Wand. Auch Teile der eigenen Wählerklientel haben sie im Geiste bereits dorthin verwiesen (zum Beispiel Natur- und Artenschützer). Verängstigt und sauer beginnen sich Linksgrüne auch auf der „Insel der Seligen“ abzuwenden, weil sie bereits zu Opfern der „Transformation“ geworden sind. Oder sie ahnen, dass ihnen vollendeter Abstieg, Entmündigung und politische Heimatlosigkeit blühen – wie sie zwar aus der eigenen Verblendung geboren, aber von den Genossen und politischen Freunden rücksichtslos, eilfertig und irreversibel als „vernünftig“ exekutiert wurden.
Richtig gut ging es den indigenen, linksgrünen Friedrichshainern in ihren alternativen Anarcho-Habitaten ja nie. Man redete sich vieles schön, damals, in den windschiefen Verschlägen und kalten Bauwagenburgen, den verbarrikadierten, besetzten Häusern ohne fließend Wasser im Angesicht der Wasserwerfer. Für die „angeranzten“ Kieze galt das Niedrigmietsegment. Heute wird es von solventen, gaffenden Touristen geflutet auf der Suche nach Airbnb-Appartements, veganen Restaurants und gendersensiblen „Locations“. Die Widersprüche kommen also nicht nur mit den Mannschaftswagen der Exekutivgewalt, sondern auch zu Fuß mit dem Rollkoffer.
Der linksgrün-moderne Chic ist eine trügerische Charmeoffensive von gut kapitalisierten Konterrevolutionären, die mit den alten Anliegen der Habenichts-Antifa nichts am Hut haben, dafür lieber mit den zeitgeistigen Anliegen in einem staatlich gefördert Lohnverhältnis stehen. Die „Verräter“ sind gewiefte Opportunisten einer Elite, die die Polizei ruft, wenn der Antifant seinen Hund auf den Grünstreifen der Karl-Marx-Allee kacken lässt, ohne das schwarze Plastikbeutelchen zu zücken.
Aufforderung zur Neuausrichtung oder Abstrafung
Politiker der Grünen und Linken werden heute in Friedrichshain – wenn auch aus anderen Beweggründen – zu Abwahlkandidaten wie im ganzen Rest des Landes. In den Berliner Trutzburgen der Weltverbesserer würde das den betroffenen Parteien besonders weh tun. Sie verstehen die Welt nicht mehr, wenn sie als „Verräter“ diffamiert werden.
Also werfen sie sich umso mehr in Positur als Retter der Demokratie und versuchen heuchlerisch, den sich ausbreitenden Flächenbrand tiefgreifender Legitimationszweifel mit gesinnungspolitischen Brandschneisen zu bekämpfen, die im demokratischen Biosphärenreservat höchst verboten sind. Man holzt dort ab, wo es nicht sein dürfte. Linksgrüne Politik meinte immer, sich im Zweifel über alles hinwegsetzen zu können (im Angesicht der hehren Ziele auch über Gesetze).
Wenn der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck in direkter Nachbarschaft zum Biosphärenreservat auf Rügen ein Flüssiggas-Hafenterminal bauen lässt oder in Naturschutzgebieten das massenweise Aufstellen von Windrädern mit Kahlschlägen und meterdicken Betonsockeln einfädelt, ist das genau genommen antigrün. Wenn die Grünen Waffen an Kriegsparteien liefern und ihre Rhetorik sich kaum mehr von erzkonservativen Revanchisten unterscheidet, ebenso. Wenn als Folge einer desaströsen Wohnungsbau- und Wirtschaftspolitik die Mieten und Löhne wie kommunizierende Röhren unaufhaltsam steigen und darüber hinaus sich der Verdacht erhärtet, dass Grüne nicht nur beim „Wärmepumpengesetz“ gerne kungelten – dann ist der Zweifel gesät, ob solchen Geistesgrößen noch die Gesinnungsabsolutheit erster Klasse zusteht.
Grüne und linke Politiker inklusive ihrer Klientel haben bis heute nicht durchdrungen, dass die „Demokratie“ der Bundesrepublik Deutschland nicht als eitles Herrschafts-Abonnement einer wie auch immer gut gemeinten, als „richtig“ propagierten Polit-Utopie von Berufspolitikern gedacht war, sondern vielmehr als bürgerliches Votum oder Konsequenz für akzeptable oder miserable Politik, und somit als eine Aufforderung zur Neuausrichtung oder Abstrafung, die nur der Souverän verfügen darf. Der Missbrauch staatlicher Institutionen zur politischen Willensbildung „am Souverän vorbei“ ist eigentlich nicht statthaft. Das müsste auch die Innenministerin wissen.
Der Wähler ist Bedingung und Störfaktor zugleich
Wenn man aktuell einigen Politikern zuhört, könnte man meinen, sie verstünden das Vorrecht der Bürger auf freie Meinung, auch auf eine falsche, als Anmaßung oder Demütigung ihres eigenen Standes, gar noch als Delegitimierung staatlicher Organe. Politiker sind aber keine Organe des Staates. Sie sind als Stellvertreter der Bürger mit einer speziellen Angst ausgestattet, ihre Vorrechte und Apanagen einzubüßen und nach einer Wahl vielleicht ohne veritable Ausbildung und Zweitverwendungspotenzial sozial abzusteigen. Politik ist Verteilungskampf, der Wähler ist dort Bedingung und Störfaktor zugleich, wenn er danach drängt, miserable Politik als solche zu begreifen und abzuschaffen. An diesem Punkt stehen Deutschland und die Grünen.
Abgesehen davon: Demokratie funktioniert nicht a priori, sondern schlussendlich immer a posteriori, was dem Gros des Parteienspektrums ein Dorn im Auge ist. In der Erkenntnistheorie wird als „a priori“ die Erkenntnis aus Vernunft bezeichnet, als „a posteriori“ die Erkenntnis aufgrund von Erfahrung. Was für die Politik und die Bürger besser wäre, liegt auf der Hand.
Nun haben sich deutsche Regierungen seit vielen Jahren auf ersteres verlassen und konsequent ihrer Form ideologischer, pseudoreligiöser, moralistisch geprägter „Vernunft“ zur Gültigkeit verholfen (a priori). Faktisch gesehen hat dies zu enormen Prozessen mit negativen Folgen in Migrations- und Sicherheitsfragen, in der Energie- und Klimapolitik, bei Wirtschaftswachstum und Wohlstandsbewahrung geführt. Das kann man heute messen und beklagen.
Ein Manko für Grüne und Linke, die gern träumen
Nun gilt es für die Wähler, Politiken ins Auge zu fassen und zu bevorzugen, die ihre Erkenntnisse endlich wieder aus den Erfahrungen schöpfen (a posteriori), von denen es mittlerweile ja unübersehbar klare und wirklichkeitsgetreue zuhauf gibt, wenn man nur die Augen öffnet, um zu schauen. Davor fürchten sich die verantwortlichen Parteien, vor allem die, die noch regieren, denn die Entscheidung für eine „Politik a posteriori“ trifft der Souverän mit dem Grundgesetz in der Hand, nicht der Gesetzgeber mit dem Parteibuch, den NGOs und der allerorten beschworenen Haltung im Rücken. Der Souverän schaut lieber auf das, was ist, weniger auf das, was sein sollte: Ein Manko für Grüne und Linke, die gern träumen. Sie werden zunehmend unter Druck geraten, wenn ihnen nicht noch passende Finten einfallen.
Das politische Milieu zerreißt förmlich im Angesicht der selbst verursachten Widersprüche und Falschheiten, die sich die Regierenden anmaßen. Keine Haltung und Weisheit im gesamten politischen Spektrum von links bis rechts ist von diesen Friktionen gefeit. Das „alle gegen einen“ (Kampf gegen Rechts: gegen die AfD, gegen greise „Putschisten“, gegen „Deportationsverschwörer“, gegen Hass und Hetze) mündet bald in ein „alle gegen alle“, weil im Zustand der Zerrüttung kein Festhalten mehr an demokratischem Anstand und Fairness möglich erscheint. Die Regierungsparteien bestimmen auch hier die Spielregen, nicht die AfD.
Es ist als absurd zu bezeichnen, wie die Verursacher dieses Dramas mit dem Finger auf die verfemte Alternativpartei zeigten, als sei diese Nie-Regierungspartei für den Niedergang des demokratischen Gemeinsinns allein verantwortlich – obwohl weitestgehend vom politischen Geschehen und Verantwortung isoliert. Die Demokratiedefizite kommen jedoch nicht nur aus dem Stall rechter Schwurbler: linke und grüne Verschwörungstheoretiker haben Konjunktur und sind geradezu versessen darauf, das Bürgertum mit Bannfluch zu versehen und zur Rechenschaft zu ziehen, wenn es die Falschen zu wählen gedenkt.
Ein vielstimmiges Politgeraune
Es werden Maßnahmen angedroht, die einer Demokratie „a posteriori“ nicht würdig sind. Nancy Faeser, Saskia Esken und Lisa Paus – ganz im Gewande politischer „Vernunft“ – treten wie die drei Erinnyen, die Rachegöttinnen, auf: namentlich Alekto, die „Unaufhörliche“ bei der Jagd (auf Rechte), Megaira, die mit dem „neidischen Zorn“ (auf Andersdenkende) und Tisiphone, die „Rächende“. Der Kampf gegen rechts ist ein vielstimmiges Politgeraune, das wie ein düsteres, mythisches Geschehen die demokratische Zukunft Deutschlands bedroht aber in der Sache nichts weiter als ein Begleitbändchen, ein Vademecum für Unmündige ist, während auf der Straße ein islamistischer Mob die Vernichtung Israels und der Juden skandiert und Deutschland in ein Kalifat verwandeln will. Der Faschismus, den die drei deutschen Politikerinnen meinen, hat nur ein weißes, deutsches Gesicht. Alles andere wird ausgeblendet, denn es dient nicht der Gehorsamkeitsverpflichtung des deutschen Wählers, der hier den Schuld-Rucksack tragen soll.
Am Ende des Mythos einer grünen Zeitenwende, die uns vor dem Untergang bewahren sollte, müssen Deutschland und die Ampel verfrüht die Konsequenzen dieser Erzählungen verkraften. Die Schuldigen suchen verzweifelt nach Belegen für die Standhaftigkeit ihrer waghalsigen Politikexperimente, deren Namen immer mit „wende“ enden, aber noch mehr suchen sie ihre Legitimation durch Ausgrenzung Andersdenkender zu festigen. Sie versuchen zu beweisen, dass die Abtrünnigen gefährlich für die Demokratie sind. Da kommen die tatsächlich verwerflichen Angriffe auf Kandidaten, Wahlkämpfer und Plakatkleber der SPD und Grünen zur rechten Zeit: Man weiß schon vor der Beweisaufnahme, dass es rechtsextreme Schlägertrupps sein müssen, die solches betreiben.
Nun werden wöchentlich mehrere Politiker und Ehrenamtliche körperlich oder verbal angegriffen, was absolut inakzeptabel ist. Deren Opfer werden mit großem Bohei in den Medien bedacht, und sogar eine Ministerpräsidenten-Konferenz wird von der Innenministerin anberaumt, soweit die Opfer den etablierten Parteien angehören. Wer die Statistiken zur Kenntnis nimmt, muss jedoch zugeben, dass in der Vergangenheit mehrheitlich Mitglieder und Politiker der AfD Opfer von Schlägertrupps oder zumindest gutmeinenden „Demokraten“ waren, die Sachbeschädigungen und Körperverletzungen zufügten. Das gab der Innenministerin oder ihren Vorgängern keinen Anlass, die Demokratie im Namen dieser Opfer zu schützen. Solche Doppelmoral wird auch an der Wahlurne bewertet.
Egal wer in Friedrichshain wem Verrat vorgeworfen hat: Er steht mit seiner Anklage für viele Deutsche, die sich von Politikern verraten und verkauft fühlen.
Dieser Text erschien zuerst in leicht gekürzter Fassung im wöchentlichen Newsletter von Achgut.com (jeweils am Freitag), den Sie hier kostenlos bestellen können.
Fabian Nicolay ist Gesellschafter und Herausgeber von Achgut.com.