Von Roger Schelske.
Der Wunsch nach Zugehörigkeit gehört zu unserer emotionalen Grundausstattung. Vieles von dem, was wir in Gruppen tun, dient nicht irgendeinem konkreten Zweck, sondern der Bekräftigung der Gemeinsamkeit und der Bestätigung von Zugehörigkeit. Dabei gilt: Extremere Formen des Gruppenverhaltens eignen sich besser für die Stärkung des Zusammenhalts einer Gruppe, weil sie eine stärkere Abgrenzung gegenüber der Umwelt ermöglichen. In einer Mafiaorganisation oder einer zentralamerikanischen Jugendgang wird die Zugehörigkeit durch kriminelle Handlungen markiert. In manchen Subkulturen sind es auffällige Tätowierungen oder ein ungewöhnlicher Kleidungsstil, durch die sich die Gruppenmitglieder von Nicht-Mitgliedern abgrenzen. Wie es nicht anders zu erwarten ist, existiert dieser Mechanismus auch in der Politik. Politische Organisationen sind darauf angewiesen, ein Gefühl der Gemeinsamkeit unter ihren Mitgliedern zu erzeugen, denn nur so werden sie handlungsfähig. Auffällige Rituale und extreme Verhaltensweisen sind deshalb auch in der Politik typische Begleiterscheinungen des Gruppenhandelns.
So weit ist das in der Sozialpsychologie ein alter Hut und vollkommen unstrittig. Ein Punkt wurde in diesem Zusammenhang jedoch bisher nicht ausreichend beachtet: Die Bestätigung von Zugehörigkeit erfolgt auch über Ideologien und Überzeugungen. Der Zusammenhalt einer Gruppe wird stärker, je extremer die gemeinsamen Überzeugungen ausfallen und je weiter sie sich von den Standards von Logik und Vernunft entfernen. Auch Parteien sind anfällig für diesen Mechanismus. Politische Positionen werden häufig nicht deshalb vertreten, weil ein bestimmtes Ziel erreicht, ein konkretes Problem gelöst oder ein Argument entkräftet werden soll, sondern weil sie die Gemeinsamkeit einer Gruppe bestärken.
Man mag sich über die Flat-Earth-Bewegung mokieren, aber vieles von dem, was in der Politik abläuft, folgt demselben Muster. Die DDR war ein besonders drastisches Beispiel dafür. Je größer der Widerspruch zwischen den Verlautbarungen des Regimes und der Realität ausfiel, desto stärker konnte damit die Differenz zwischen Freund und Feind markiert werden. Wer die offizielle Verlautbarung, wonach zwei plus zwei fünf zu sein habe, akzeptierte, gehörte zur Gruppe und durfte mit Belohnung rechnen. Wer hingegen behauptete, zwei plus zwei sei vier, galt als umzuerziehender Klassenfeind.
Allen politischen Gruppen ist eine gewisse Grundneigung zum Extremismus eigen. Je extremer sie nämlich in ihrem Überzeugungssystem werden, desto stärker identifizieren sich ihre Mitglieder mit der Gruppe und desto effektiver können sie im politischen Wettbewerb agieren. Deshalb ist es in demokratischen, pluralistischen Gesellschaften notwendig, für Korrektive zu sorgen, vor allem durch eine kritische Öffentlichkeit, die verhindert, dass sich politische Gruppierungen zu stark in ihre Überzeugungssysteme verrennen, indem sie die Standards von Konsistenz, Logik und Plausibilität als Bedingung für die Beteiligung am politischen Wettbewerb einfordert. Wenn allerdings auch die Medien dem Mechanismus der Abgrenzung folgen, dann fällt das entscheidende Korrektiv weg. Unter solchen Bedingungen kann ein politisches System kippen und sich in eine DDR verwandeln, in der Zustimmung Macht generiert und Macht Zustimmung erzeugt.
Die Grünen – realitätsfremd, aber selig
Wir beobachten eine solche Entwicklung aktuell im Zusammenhang mit Themen wie Energie, Klima, Gender oder Einwanderung. Die beteiligten politischen Akteure sind die GRÜNEN, die SPD, die LINKE sowie Teile der Union. Auf der gesellschaftlichen Ebene gehören die Kirchen und große Teile der Medien dazu. Diese Akteure bestärken sich gegenseitig in ihren Positionen und schaffen ein Gemeinsamkeitsgefühl durch die Suspendierung der Logik. Die Verteidigung einer möglichst unbegrenzten Einwanderung unqualifizierter junger Männer aus dem arabischen Kulturkreis lässt sich logisch nicht begründen. Dasselbe gilt für die Behauptung, das soziale Geschlecht sei völlig unabhängig vom biologischen Geschlecht oder die Forderung, die europäischen Nationalstaaten müssten sich in einer europäischen Föderation auflösen.
Eine Aussage wie „Wir müssen den gefährlichen Klimawandel stoppen, bevor es zu spät ist“ findet innerhalb dieses Überzeugungskartells allgemeine Zustimmung, obwohl sie unsinnig ist. Wer auch immer nämlich damit angesprochen sein mag, es ist offensichtlich, dass dieses „wir“ nicht in der Lage ist, effektiv auf die Erderwärmung einzuwirken. Paradoxerweise überzeugen solche Aussagen aber gerade durch ihre fehlende Plausibilität. Indem nämlich die Zustimmung einen Preis erfordert, nämlich die Aufgabe rationaler Standards, werden sie erst gruppendynamisch wirksam.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für den Mechanismus der kollektiven ideologischen Selbstbestätigung konnte ich auf dem jüngsten Landesparteitag der bayerischen GRÜNEN Anfang Februar beobachten. Von einem Delegierten aus München wurde ein Antrag eingebracht, auf Landesversammlungen nur noch vegetarische und vegane Kost aus ökologischer Erzeugung anzubieten. Der Parteivorstand sprach sich aber klar gegen den Vorschlag aus, und zwar einerseits, immerhin, unter Verweis auf die Wahlfreiheit der Delegierten, und andererseits aus praktischen Gründen. Es wäre nämlich unter den vorgeschlagenen Bedingungen kaum noch möglich gewesen, einen geeigneten Veranstaltungsort zu finden, da das Catering in den meisten bayerischen Kongresshallen von festen Vertragspartnern bestritten wird. Mit anderen Worten, die Realität stand in offensichtlichem Widerspruch zur Idee eines fleischlosen Parteitags.
Dennoch wurde der Antrag nur äußerst knapp abgelehnt. Fast die Hälfte der Delegierten stimmte dafür, entgegen jeder Logik. Die Bekräftigung der Gruppenidentität hatte für diese Delegierten offenbar nicht nur Vorrang vor der Realität. Gerade durch das Ignorieren der Realität konnte die Gruppenidentität bekräftigt werden. Das galt letztlich für den gesamten Parteitag: Bei den dominierenden Themen Klima und Europa wurden Logik und Realität ausgeblendet. Dafür war die Partei so einig und geschlossen wie selten. Es herrschte eine Stimmung seliger Harmonie.
Man könnte das skurril und lustig finden, aber inzwischen hat dieser Mechanismus auf große Teile der Öffentlichkeit übergegriffen und die Regierungspolitik erfasst. Der Kohleausstieg lässt sich nur unter diesem Aspekt erklären, denn weder klimapolitisch noch energiepolitisch ergibt diese Entscheidung Sinn. Das Wall Street Journal nannte es die dümmste energiepolitische Entscheidung der Welt – die aber für die GRÜNEN, die den Kohleausstieg als zu halbherzig kritisierten, noch immer nicht dumm genug ist. Auch der Beschluss des Brandenburger Landtags, eine Frauenquote bei Landtagswahlen einzuführen, steht im offensichtlichen Widerspruch zur Realität, nämlich der des Grundgesetzes. Dass die GRÜNEN in Bayern sogleich nachgezogen sind und eine ähnliche, verfassungswidrige Regelung fordern, passt ins Bild.
„Liebe Befreundete“ – klingt logisch!
Wir befinden uns in einer Spirale der Radikalisierung. Während in normalen Zeiten die politische Dynamik zur Mitte hin tendiert, weil die Korrektive im politischen Prozess greifen und eine Radikalisierung verhindern, schlägt aktuell die Stunde der Sektierer. Wenn sich eine Gruppe in Richtung Abgrenzung bewegt und die Standards der Logik und Rationalität zugunsten der Gruppenidentität an Verbindlichkeit verlieren, dann treten die Sektierer auf den Plan, die diesen Prozess immer weiter vorantreiben.
Auf dem grünen Parteitag regte jemand an, die Delegierten nicht mehr mit „liebe Freundinnen und Freunde“ anzusprechen, sondern mit „liebe Befreundete“. Gestalten wie diese sorgen dafür, dass politische Positionen immer extremer werden. War die europäische Föderation vor wenigen Jahren noch eine hypothetische Option, so ist es in weiten Teilen von GRÜNEN, LINKEN und SPD inzwischen Konsens, dass die EU den Nationalstaat vollständig zu ersetzen habe. War früher von einem veränderten Energiemix die Rede, so gilt heute das Ziel 100 Prozent Erneuerbare für viele als unverhandelbar.
Wurden vor einigen Jahren noch verschiedene Wege einer ökologischen Verkehrspolitik diskutiert, so gilt inzwischen das möglichst baldige Verbot des Verbrennungsmotors als common sense. Dieselbe Entwicklung ist in nahezu allen Politikbereichen zu beobachten, vor allem aber in der Sprachpolitik. Sprache eignet sich besonders gut, um Zugehörigkeit zu markieren. Je weiter der Neusprech innerhalb einer Gruppe von der etablierten Norm abweicht, desto besser erfüllt er diese Funktion. Entsprechend ändert sich die „geschlechtergerechte“ Schreibweise ständig, da es ja immer noch ein bisschen „gerechter“ beziehungsweise extremer geht.
Je weiter die Radikalisierung getrieben wird, desto höher werden die Kosten eines Ausstiegs aus dieser Spirale, denn mit einer Rückkehr zu den Standards von Konsistenz, Logik und Plausibilität stünden nicht wenige Aktivisten, Politiker, Journalisten und Kardinäle als Trottel da, die einen nackten Kaiser bejubelt haben. Und je größer der Einfluss der Sektierer wird, desto höher werden die Kosten auch für diejenigen, die gegen die Radikalisierung ankämpfen. Die einen ziehen sich resigniert zurück, den anderen bleibt nichts anderes übrig, als sich mit den Radikalen im konkurrierenden Lager zu verbünden, mit der Folge, dass die Mitte weiter erodiert. Wenn man sieht, wie auf Parteitagen der GRÜNEN haarsträubendster Unsinn beklatscht wird und in den Medien unwidersprochen bleibt, dann ist klar: Die Gefahr ist real. Wir befinden uns an einem Punkt, an dem das Szenario einer grünen DDR nicht mehr ausgeschlossen werden kann.
Roger Schelske ist Politikwissenschaftler