Lars Klingbeil hat die SPD als Vorsitzender in ihre größte Niederlage geführt und tritt jetzt auf, als hätte er die Wahl gewonnen. Doch sein einziger Kraftquell ist die Brandmauer. Oder hofft er auf Dr. Tschentscher?
Die Bundestagswahl ist zwar erst ein paar Tage her, aber irgendwie scheinen etliche Politiker und Meinungsbildner, insbesondere im SPD-nahen Milieu, eine Zahl schon wieder vergessen zu haben, die des eigenen Wahlergebnisses. Deshalb hier nur zur Erinnerung: Die SPD war der größte Wahlverlierer. Sie büßte 9,3 Prozentpunkte ein und kam nur noch auf 16,4 Prozent. Ein schlechteres Ergebnis der deutschen Sozialdemokraten in nationalen Wahlen hat kein noch lebender Genosse selbst erleben können, denn das gab es zuletzt 1887. Nur bei den letzten beiden Europawahlen schnitt die SPD bundesweit noch schlechter ab.
Lars Klingbeil hat die Partei als einer von zwei Vorsitzenden mit in die aktuelle Niederlage geführt. Nach diesem Desaster einen solchen Verlierer zum neuen Hoffnungsträger und Mann des Generationswechsels aufzubauen, zeugt schon von einer einer recht speziellen Weltwahrnehmung. Aber vielleicht hatte er seine wahre Größe bislang nur noch nicht ausspielen können und nur ausgewählte Genossen haben das erkannt. Doch die sollte die Öffentlichkeit alsbald kennenlernen.
Genosse Klingbeil trat mit Unschuldsmine und in vollster Überzeugung der eigenen moralischen Überlegenheit plötzlich auf, als hätte er die Wahlen gewonnen, statt krachend verloren. Er gab den selbstverständlichen Vorturner der Regierungspartei SPD, die sie seit der Jahrtausendwende bis auf vier Jahre auch immer war. Und zu Zeiten der Koalitionen mit der CDU hat sich selbige auch immer nach den ideologischen Vorgaben des Juniorpartners gerichtet. Weil das immer so war, ist Genossen Klingbeil eventuell gar nicht aufgefallen, wie aberwitzig das mit seinem Wahlergebnis wirkt.
Aber er weiß ja, dass Friedrich Merz sich von allen möglichen Alternativen zur Koalition mit den Roten schon von vornherein losgesagt hat. Das verleiht ihm eine Stärke, die ihm die Wähler nicht geben wollten. Er kann jetzt laut fordern und verlangen, in der Erwartung, dass viele seiner Forderungen erfüllt werden. So konnte die SPD seinerzeit mit der Kanzlerin der Alternativlosigkeit schließlich auch verfahren. Obwohl das nicht ganz stimmt, denn Angela Merkel hatte so manche SPD-Forderung schon akzeptiert, bevor die Genossen sie überhaupt öffentlichkeitswirksam erheben konnten.
Empörung über wichtige Fragen
Ob die Lockerung der Schuldenbremse, die Neuverschuldung über sogenannte Sondervermögen oder die Abkehr vom Plan einer mehr an den Interessen der deutschen Bevölkerung ausgerichteten Migrationspolitik - all das können die Genossen jetzt vollmundig verlangen und auf das Umfallen des künftigen Kanzlers zählen.
Und wenn die Unionsparteien im Bundestag sich erlauben eine Kleine Anfrage nach der staatlichen Förderung rotrotgrün ausgerichteter politischer Vereinigungen zu stellen, die sich selbst „Nichtregierungsorganisationen“ nennen, aber wie selbstverständlich staatliche Förderung und Steuerprivilegien genießen, dann ist Empörung angesagt. Da gibt es kein bisschen Schuldbewusstsein und Schamgefühl. Dabei hätten die Unionsparteien die bösen Fragen vermutlich auch nicht gestellt, wenn diese Vereinigungen sich weiter auf Aktionen und Demonstrationen gegen die AfD beschränkt hätten. Aber vor dieser Bundestagswahl wurden sie auch gegen CDU und CSU in Marsch gesetzt, was so manchen Christdemokraten zum Nachdenken brachte, welches politaktivistische Geflecht da mit Hilfe von Steuergeldern gezüchtet wurde.
Die Reaktion des Genossen Hoffnungsträgers war klar: „Klingbeil stellt Union Ultimatum: Fragen zu NGO-Geldern belasten Gespräche mit SPD schwer“, titelte n-tv.de beispielsweise. Weiter hieß es:
„Eine Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion über die staatliche Unterstützung von Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) belastet die bevorstehenden Gespräche mit der SPD über die Bildung einer Koalition. Der neue SPD-Fraktionschef Lars Klingbeil sprach von einem "Foulspiel" und forderte die Union auf, die Anfrage zurückzuziehen. "Ich kann mir keine Situation vorstellen, wo wir morgens in Arbeitsgruppen zusammensitzen und über die Investitionen in die Bundeswehr, in die Bahn oder Infrastruktur diskutieren. Und nachmittags erlebe ich, dass die Union genau solche Anfragen rausschickt und Organisationen, die unsere Demokratie schützen, an den Pranger stellt", sagte der SPD-Co-Chef.“
Der Genosse Demokratieschützer will also, dass der CDU-Parteichef die CDU-Abgeordneten nötigt, auf grundlegende parlamentarische Rechte zu verzichten? Es sind ja nur Fragen, die in der „Kleinen Anfrage“ stehen und wenn die Antworten darauf tatsächlich gefährlich für die Demokratie sein könnten, dann ist es umso wichtiger, dass sie schnell und drängend gestellt werden. Oder fürchtet da einfach jemand um Pfründe von Organisationen, die ihn und die Seinen unterstützen?
Der Generationswechsler und der Beliebteste
Lars Klingbeil ist jedenfalls, so wollen es auch die geneigten Medien vermitteln, der führende Genosse der Zukunft. Neben Boris Pistorius, weil der ja unter den von Meinungsforschungsinstituten befragten Deutschen der beliebteste Politiker sein soll. Ich kann das empirisch nicht bestätigen, aber das liegt vielleicht daran, dass ich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis keinen Menschen kenne, der jemals von Meinungsforschern zu ihrem beliebtesten Politiker befragt wurde.
Genosse Klingbeil und seine Anhängerschaft geben sich selbstbewusst. Dass der generationswechselnde Hoffnungsträger bei der Wahl zum Fraktionsvorsitzenden weniger Zustimmung bekam, als sein Vorgänger Rolf Mützenich ficht ihn offenbar ebenso wenig an, wie das schlechte Bundestagswahlergebnis. Deutlich genug war die Mehrheit mit 85 Prozent immerhin, ein „ehrliches Ergebnis“, wie er sagte.
Während er also gefühlt jeden Tag mit selbstbewussten Kraftdemonstrationen gegenüber dem möglicherweise künftigen großen Koalitionspartner aufwartet und die bald kommende Neuaufstellung der Partei preist, schafft er es offenbar nicht einmal, seine Ko-Vorsitzende Saskia Esken davon zu überzeugen, ihren Platz einigermaßen ehrenvoll zu räumen. Mit ihr als Gesicht der neuen SPD dürfte die Partei kaum etwas von der Stärke gewinnen, die die führenden Genossen der Öffentlichkeit gern vorgaukeln wollen.
Dennoch meldete t-online.de gestern:
„Die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken beansprucht eine führende Position in möglichen Sondierungs- und Koalitionsgesprächen mit der Union. ‚Sondierungen und Koalitionen werden von Parteien verhandelt. Insofern versteht es sich, dass die Parteivorsitzenden die Delegation zu diesen Gesprächen anführen‘, erklärte ein SPD-Sprecher auf Anfrage des ‚Tagesspiegel‘ am Mittwoch.
Ob Esken darüber hinaus ein Ministeramt oder die Vizepräsidentschaft des Bundestages anstrebt, ließ der Sprecher offen. Er betonte, dass Regierungsämter traditionell erst am Ende von Koalitionsverhandlungen festgelegt würden. In SPD-Kreisen kursiert jedoch die Annahme, Esken könnte für den Posten einer Bundestagsvizepräsidentin infrage kommen.“
Ergriffenheit von sich selbst
Damit wäre immerhin ein wohldotierter Posten gefunden. Aber dass sie auch noch die Koalitionsverhandlungen begleiten soll, halten nicht alle Genossen für eine gute Idee. Die dpa meldete bereits am Dienstag:
„Lars Klingbeil sollte nach Meinung von Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter nach dem Wahldebakel seiner Partei alleiniger SPD-Chef werden. ‚Lars Klingbeil ist tatsächlich für mich persönlich der Hoffnungsträger der SPD für die nächsten Jahre, wahrscheinlich Jahrzehnte’, sagte Reiter der Deutschen Presse-Agentur in München. ‚Er hat alles, was uns abgegangen ist. Er ist sympathisch, er ist klar, er ist jemand, der sich gut ausdrücken kann.’“
Gut, Letzteres lässt sich wohl nur im Vergleich zu den Textbausteinen des Bundeskanzlers verstehen. Wenn man den Klingbeil-Auftritten im Wahlkampf gelauscht hat, dann knödelte er oft große Worte mit einer Ergriffenheit von sich selbst in den Raum, als hätte er gerade einen Rhetorik-Kurs bei Robert Habeck begonnen. Aber für diese Art des Auftritts gibt es bestimmt Liebhaber und ich gehöre auch nicht zur Zielgruppe von Generationswandlern.
Doch zurück zum eigentlichen Thema. Reiter hat sicher recht, wenn er glaubt, dass sich ohne die Genossin Esken besser verhandeln ließe. Das von ihm erwartete Umfallen würde Friedrich Merz ohne sie sicher etwas leichter fallen.
Genosse Klingbeil kann derweil darauf hoffen, dass er das katastrophale Bundestagswahlergebnis nur noch drei Tage lang allein mit Sprüchen überspielen muss. Am Sonntag wird - vielleicht zu seinem Glück - in Hamburg gewählt. Die Umfragen verheißen den dortigen Regierungsparteien SPD und Grünen zwar starke Einbußen, doch eine knappe rot-grüne Regierungsmehrheit scheint noch möglich. Die SPD unter ihrem Spitzenkandidaten, dem Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher, kann letzten Umfragenzufolge 32 Prozent einfahren. Damit würde sie zwar ungefähr sieben Prozentpunkte verlieren, aber bliebe immerhin auf Platz eins. Die CDU würde nur mit gut der Hälfte, genauer mit 17 Prozent, auf dem zweiten Platz landen, knapp vor den Grünen.
Wenn es zur weiteren rot-grünen-Mehrheit reicht, würde sich das nach der Niederlage bei der Bundestagswahl beinahe wie ein Sieg anfühlen und ließe sich als Hoffnungszeichen verkaufen, hinter dem sich der deutlich katastrophalere Verlust vom Vorsonntag vergessen lässt.
Die CDU entscheidet über die Stärke der SPD
Das ist zwar nur der übliche Etikettenschwindel, denn auch in Hamburg hat die SPD verloren und wurde zur Bundestagswahl sogar mit - für Hamburger Verhältnisse - mageren 22,7 Prozent abgestraft, aber in den Medien funktioniert er meist. Wenn es einen Anlass für die Berliner Genossen gibt, sich als Gewinner darzustellen, werden die geneigten Medien darauf schnell einsteigen. Lästig für Klingbeil dürfte dabei nur werden, dass diese geneigten Medien in solchen Fällen auch dazu tendieren, den Landespolitiker, der nicht so viel verliert wie die Bundespartei, zum neuen Hoffnungsträger auszurufen. Kommt dann aus dem Willy-Brandt-Haus bald ein Notruf an Dr. Tschentscher?
Letztlich liegt es aber nur an Friedrich Merz und seinen Parteifreunden, ob die SPD so mächtig bleibt, wie sie sich gerade darstellt. Sie wird - das zeichnet sich ab - bei ihren oft ideologisch konnotierten Forderungen nicht bescheiden und wenig kompromissbereit sein. Was Merz’ Fünf-Punkte-Papier oder das Sofort-Programm angeht, werden die wesentlichen Inhalte mit dieser SPD kaum umzusetzen sein, denn der Partei von Klingbeil und Genossen nützt das in ihrer Anhängerschaft kaum noch etwas. Die SPD-Wähler, die einen Kurswechsel ihrer Partei dringend gewünscht hätten, haben sich in den letzten Jahren zumeist verabschiedet. Mit den verbleibenden 16,4 Prozent ist sie keine Volkspartei mehr und sieht sich wahrscheinlich gezwungen diejenigen zu bedienen, die die Genossen als verbliebenes Klientel erkennen, um nicht weiter in den Abgrund zu stürzen. Solange die Genossen die CDU nach Belieben gegen die Brandmauer drücken können, werden sie das ausnutzen.
Vielleicht übersteigt das irgendwann die Bereitschaft zum Nachgeben in den Unionsparteien. An der Basis weiß man dort sehr wohl: Die SPD-Vorstellungen über die inhaltliche Ausgestaltung der nächsten schwarzroten Koalition laufen darauf hinaus, dass - wie der Volksmund sagt - hier der Schwanz mit dem Hund wedelt. Und die Bundestagswahlergebnisse im Osten zeigen, was passiert, wenn die Christdemokraten für das Festhalten an der Brandmauer ihre Inhalte opfern. Die Erfolge der AfD im Osten sind nämlich nicht so sehr eine Ost-Besonderheit, wie es viele Medienschaffende gern sehen möchten, sondern hier ist das geschehen, was im Westen eine Wahl später passieren kann, wenn es keinen Politikwechsel hin zur Priorität der Lösung akuter Probleme gibt. Das dürften die Christdemokraten nicht wollen.
Ob die sich so mächtig fühlende, aber dennoch schwache Dauerregierungspartei SPD in den Koalitionsverhandlungen überreizt, weil sie die Kraft der Brandmauer überschätzt? Friedrich Merz hat eher nicht das Format, an dieser Stelle einen Kurswechsel zu vollziehen. Aber Markus Söder schon. Der dürfte ohne Skrupel jede Position vertreten, wenn sie ihm nützlich erscheint. Da ist er vollkommen flexibel. Die Macht der SPD hängt an der Stabilität der Brandmauer. Die Macht von CDU und CSU wächst, wenn sie diese in Frage stellt und sei es nur, um die eigene Verhandlungsposition zu verbessern. Der Kampf um die Brandmauer bleibt offenbar die wichtigste politische Auseinandersetzung in Deutschland. Schade, denn man müsste wirklich dringend mal über ein paar politische Inhalte und Sachthemen reden.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.