Jesko Matthes / 23.10.2017 / 10:59 / Foto: MBL / 10 / Seite ausdrucken

Großvater und das Europa der Kriegsgräber

Von Jesko Matthes.

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, deren langjähriges Mitglied ich bin, engagiert sich unter seinem neuen Schirmherren, Dr. Frank-Walter Steinmeier, für Europa. Der Volksbund schreibt:

Wir arbeiten an einem gemeinsamen und starken Europa. Gerade in Zeiten, in denen viele an Europa zweifeln, wollen wir daran erinnern, wie wichtig es ist, gegen Nationalismus und Populismus einzutreten. Europa ist unser gemeinsames Haus, in dem wir in Frieden leben wollen.

Für dieses Projekt hat der Volksbund eine Postkarte entworfen, deren Motoiv er im September, vor der Bundestagswahl, auch in vielen deutschen Städten plakatierte. Dieses bestürzende Bild sah ich ähnlich zuletzt auf den Kriegsgräberstätten in Pomezia und am Monte Cassino. Allerdings war ich damals, mit 41 Jahren, das weitaus jüngste Mitglied der Fahrt. Umso wichtiger finde ich die Jugendarbeit des Volksbunds, die auf der Website mit einem eindrucksvollen Video aus Srebrenica gezeigt wird.

Und dennoch, ein mulmiges Gefühl werde ich nicht los, das über das Entsetzen angesichts zehntausender Toter auf einem einzigen Friedhof sogar noch hinaus geht. Dieses mulmige Gefühl kann besser verstehen, wer die Geschichte meines Großvaters kennt.

1884 wurde er in einem winzigen Ort namens Wilkonice, Kreist Gostyn, Provinz Posen, Preußen, geboren. Ich habe ihn im vergangenen Jahr besucht. Er besteht nur aus einer zweifach gewinkelten Straße, an deren Langseite das Gut liegt, dessen Verwalter mein Urgroßvater Louis Breutmann war. Er hatte sich in ein lokale Adlige verliebt und sie sogar heiraten dürfen, Wally von Parpart, fortan einfach Wally Breutmann. Er konnte sich also zu den besseren Kreisen zählen.

Und so wurde er ein hoch qualifizierter Flüchtling

Gutshaus und Verwalterhaus sind heute verschwunden, die Stallungen aus dem Jahre 1909 werden in verfallenem Zustand weiter genutzt, um den stillen, kleinen Teich stehen Buchen. Großvater wuchs dreisprachig auf, mit Deutsch, ebenso fließendem Polnisch und leidlichem Russisch. Später kamen Latein, Altgriechisch, Französisch und ein fürchterliches Englisch dazu. Dann studierte er erst Theologie, brach ab und wechselte zur Medizin, an der Universität Königsberg.

Während seiner Assistentenzeit in der Gynäkologie der dortigen Universitätsklinik begann der Erste Weltkrieg, in dem er als Soldat, Sanitäter und späterer Stabsarzt Dienst an der Ostfront leistete und das Eiserne Kreuz erster Klasse erwarb. 1919, als die Provinz Posen wieder an Polen fiel, wurde er vertrieben, allerdings per Option. Da er sich als multikultureller Preuße empfand, fiel ihm der Abschied von seiner Heimat schwer, jedoch befürchtete er Repressalien, wäre er als „Volksdeutscher“ in Polen geblieben, und so wurde er ein hoch qualifizierter Flüchtling. Er bekam eine vakante Landarztpraxis in Preußen angeboten, in Kalbe an der Milde, im heutigen Sachsen-Anhalt, und dort arbeitete er fortan, bis zu seinem 78. Lebensjahr.

Erneut leistete er Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg, zunächst als Standortarzt der Heeresversuchsstelle Hillersleben. Dort kam er über die Bekennende Kirche und seinen streng katholischen Kommandeur, den Oberst Hermann von Mallinckrodt, der zuvor in Jüterbog stationiert gewesen war, in Kontakt mit dem Widerstand gegen Hitler. 1943 wurde Großvater an die Westfront kommandiert. Heimaturlaube nutzte er nicht zur Erholung, sondern zur Arbeit in seiner Praxis. An dieser befestigte er ein Schild, in dem seine Öffnungszeiten auch in polnischer Sprache geschrieben standen.

Vom NSDAP-Ortsgruppenleiter zur Rede gestellt, antwortete er, die polnischen Fremdarbeiter hätten nichts von sinnlosen Wartereien, das Deutsche Reich auch nicht. Wieder an der Westfront, kam man seiner Konspiration beinahe auf die Schliche; im Tagebuch Goerdelers soll gestanden haben, ein B. aus der Altmark stünde für die Organisation des Gesundheitswesens im Falle eines vorzeitigen Kriegsendes durch Ableben des Führers zur Verfügung. Allerdings sei der Eintrag schon einige Jahre alt gewesen, so dass man eine lückenlose Beweiskette gegen den Praktischen Arzt Kurt Breutmann nicht in der Hand hatte, und so begnügte man sich mit dessen Degradierung und unehrenhaften Entlassung aus der Wehrmacht.

Damit wenigstens meine Knochen in Freiheit ruhen

Im Herbst 1944 nahm der frisch gebackene Zivilist seine dringend zu Hause benötigte Landarzttätigkeit wieder auf, die er ab dem 11. April 1945 unter erst amerikanischer, dann kanadischer, dann englischer und zuletzt sowjetischer Besatzung und noch in der späteren DDR bis 1961 fortsetzte. Testamentarisch verfügte er allerdings, er wolle in der Bundesrepublik beigesetzt werden, "damit wenigstens meine Knochen in Freiheit ruhen". Und so konnte ich bis vor einigen Jahren an seinem Grab in Soltau stehen – keinem Kriegsgrab, und doch einem Grab, dessen einst quicklebendiger, hoch politischer Inhalt das Dilemma der Nationen und ihrer Kriege gründlich kennen gelernt hatte.

Er, der glühende Verehrer Bismarcks, hatte später deutsch-national gewählt, im Kabinett „Müller 2“ Gustav Stresemann unterstützt, seine Hoffnungen auf dessen Freundschaft mit Aristide Briand und auf den Völkerbund gesetzt, den unrühmlichen Abgang Heinrich Brünings bedauert – und die Nationalsozialisten vom ersten Augenblick an zutiefst verachtet. Legendär ist sein Ausspruch über den örtlichen Apotheker in Kalbe, der sei so hundertfünzigprozentig, dass er das Hakenkreuz sogar auf dem Nachttopf trage. Kein Wunder, dass ich zuerst an Großvater denke, wenn jemand mich als Konservativen in die rechte Ecke entsorgen möchte - oder mir gar die „Antifa“ als Vorbild hinstellen, die rot lackierten Nazis.

Großvater sah Tausende sterben und wusste von Millionen, er wusste auch von Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Majdanek; damit komme ich zurück zum Thema.

Und dann ist es also, laut Volksbund, der Nationalismus und Populismus, der als einzige Kraft Europa bedroht?

Der Ungeist, der Europa bedroht

Ich denke, man kann es einfacher und klarer formulieren: Es ist der Ungeist, der Europa bedroht. Dieser Ungeist wohnt nicht nur bei den Nationalisten. Er wohnt auch in den Köpfen jener Populisten von der anderen Seite, die mir Europa mit dem „Euro“ gesund beten, es mir gesund beten mit einer blinden Toleranz gegenüber der internationalen Linken, die von der Roten Flora aus Hamburg anzündet, einer blinden Toleranz gegenüber Salafisten, Wahabiten und nationalreligiösen Türken, einer Toleranz, die die Mitmenschlichkeit an Menschenfeinden predigt und auslebt.

Dieser Ungeist wohnt auch in jenen Köpfen, die uns das „Europa der Regionen“ versprochen, dabei aber offensichtlich vergessen haben, auf Regionen wie Katalonien oder auch Korsika zu achten, weil sie dachten, das Rezept, das für Nordirland und das Baskenland gut funktionierte, könne man dort vielleicht vernachlässigen.

Großvater dachte sich Europa nach zwei schrecklichen Kriegen als Wertegemeinschaft. Gerade deshalb weigerte er sich, die DDR zu verlassen, die er ebenso verachtete wie zuvor das Dritte Reich. Denn ein Europa ohne Europäer kann es nicht geben. Großvater mochte auch die SPD nicht, aber er meinte jene, die das Ermächtigungsgesetz abgelehnt, sich aber mit der KPD zur SED hatte vereinigen lassen.

Kurt Schumacher, Louise Schröder, Ernst Reuter, Erich Ollenhauer und den jungen Willy Brandt ließ er gelten. Die Gründung der Bundeswehr begrüßte er, obwohl er wusste, dass sie die Teilung Deutschlands fürs Erste zementieren würde. Wie es kam, dass er, der Östliche, der ehemalige Monarchist, der Deutschnationale, so „westlich“ dachte, während selbst ehemalige Widerständler wie Martin Niemöller  begannen, offen mit einer internationalen, häufig genug antisemitischen Linken zu sympathisieren – an dieser Frage knabbere ich zeitlebens.

Zu Zeiten denke ich, er sei ein Preuße gewesen, zu Zeiten, ein Weltbürger. Das ist, für mich zumindest, kein Widerspruch, nur ein Zwiespalt, in dem ja schon der Alte Fritz lebte.

Zwei Dinge ließ Großvater nie gelten, und er schrieb sie mir und Europa ins Stammbuch: Den Terror der Ideologien und den Kotau des Einzelnen vor ihnen. Wer versucht hätte, ihm Europa als Ideologie zu verkaufen, den hätte er nicht nach der Form beurteilt, auch dann nicht, wenn es sich um die der Kriegsgräber gehandelt hätte.

Die Frage, warum diese jungen Leute gestorben waren, deren Grabkreuze ich sah und auf dem Plakat des Volksbunds sehe, hätte er vielleicht beantworten können, jedenfalls besser als ich. Die Frage, wozu sie gestorben sind, hätte er sofort beantwortet. Heute vielleicht so:

Für die künftige Freiheit des Individuums von vorgefertigten Patentlösungen, für das Kennenlernen und Begrüßen des Anderen, der diese Freiheit schätzt - und für die Abwehr all jener, die diese Freiheit mit Füßen treten. So stelle auch ich mir Europa vor. Übrigens ist es das einzige, das überlebensfähig ist.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Rainer Franzolet / 23.10.2017

Interessante Geschichte. Den Schlusssatz unterschreibe ich voll und ganz. Viele von uns haben unter ihren Vorfahren solche Biografien.  Noch mehr wissen aber leider so gut wie nichts darüber, wo sie selber eigentlich herkommen. Ich habe den Eindruck, dass die Generation WK 2 sehr häufig den Dialog mit ihren eigenen Nachkommen verweigert hatte. Entsprechend viele Entwurzelte taumeln heutzutage durch ihr eigenes Heimatland.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Jesko Matthes / 16.02.2024 / 11:00 / 39

Wie man eine potemkinsche Landesverteidigung aufbaut

Deutschland erreicht das Zwei-Prozent-Ziel der NATO auf wundersame Weise ganz von alleine, und Boris Pistorius ist ein Genie. Boris Pistorius sieht Deutschland als militärisch-„logistische Drehscheibe in…/ mehr

Jesko Matthes / 24.11.2023 / 16:00 / 52

EMA: Niemand hatte die Absicht, eine Massenimpfung zuzulassen

Die EMA gibt gegenüber EU-Parlamentariern zu, dass die Covid-Impfstoffe nicht für die epidemiologische Verwendung zugelassen wurden. Die Impfkampagnen hätten auf einem "Missverständnis" beruht. Impfzwänge und…/ mehr

Jesko Matthes / 15.11.2023 / 16:00 / 7

Auf zu den Sternen! – Der Kosmonaut Igor Wolk

Heute vor 35 Jahren startete zum ersten und letzten Mal „Buran“, das sowjetische Space Shuttle. Was dem Kosmonauten und Testpiloten Igor Wolk widerfuhr, hat bleibende…/ mehr

Jesko Matthes / 29.08.2023 / 10:00 / 17

Fabio De Masi gegen Olaf Scholz: Der Trank des Vergessens

Im Gedächtnis bleibt uns immer nur das Entscheidende. Das Unwichtige, wie ein paar Millionen oder Milliarden ergaunerte Steuergelder, vergessen wir im Angesicht des Schönen, wie…/ mehr

Jesko Matthes / 23.08.2023 / 09:30 / 30

Kurzkommentar: Arbeiterlieder sind jetzt rechts

Der Erfolg des US-Liedermachers Oliver Anthony macht den Linienpolizisten schwer zu schaffen. n-tv wirft Anthony sogar vor, er sei gar kein Arbeiter mehr, sondern Bauer.…/ mehr

Jesko Matthes / 25.07.2023 / 14:00 / 7

Hauptsache, die Brandmauer steht!

In Hintertupfenheim an der Wirra soll eine Brandmauer den Bürgermeister und seinen Möchtegern-Nachfolger vor politischen Zündlern schützen. Auch die Feuerwehr steht bereit. Doch dann wird…/ mehr

Jesko Matthes / 20.07.2023 / 13:00 / 37

Kurzkommentar: Einen Wodka-Söder, bitte!

Söder beruft sich wieder einmal auf seinen großen Vorgänger Franz Josef Strauß. Dabei kann man dem nun wirklich nicht nachsagen, die eigene Haltung nach Söder-Art immer wieder…/ mehr

Jesko Matthes / 13.07.2023 / 11:00 / 8

Milan Kundera, oder: Die Banalität des Guten

Mit dem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ wurde Milan Kundera weltberühmt. Nun ist der tschechisch-französische Schriftsteller im Alter von 94 Jahren gestorben. Irgendwann im Herbst 1988 saß ich…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com