Die bevorstehenden Parlamentswahlen in Großbritannien könnten sich de facto als zweites Referendum über den Brexit erweisen. Hier ein Überblick über die verschiedenen möglichen Szenarien und wie sich die EU in jedem der Fälle positionieren würde:
Die erste Möglichkeit, die von den meisten als das wahrscheinlichste Szenario betrachtet wird, besteht darin, dass die Konservativen die absolute Mehrheit der Sitze erhalten. Wenn dies geschieht, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie einfach den "Boris-Deal" verabschieden werden, also kommt es dann zum Brexit.
Boris Johnson hat nun jedoch versprochen, die Übergangsphase nicht zu verlängern, mit dem Ziel, die Wähler der Brexit-Partei zu überzeugen. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es in ungefähr einem Jahr zu einem "No Deal-Brexit" kommt, da es ehrgeizig wäre, die künftigen Beziehungen in so kurzer Zeit zu verhandeln. Sabine Weyand, Leiterin der Handelsabteilung der Europäischen Kommission, hat gerade gewarnt, dass das Vereinigte Königreich nur dann einen "bare bones"-Deal – das heißt begrenzten Marktzugang – erhalten wird, wenn Boris seinen kurzen Zeitplan einhält.
1992 stimmten die Schweizer in einem Referendum knapp gegen eine Regelung, wonach sie im Gegenzug für den vollen Marktzugang zur EU automatisch EU-Regeln hätten übernehmen müssen, wie es heute für Norwegen der Fall ist. Die Verhandlungen zur Ausarbeitung eines „Chequers"-Deals dauerten fünf Jahre, von 1994 bis 1999. Dann erklärten sich die Schweizer bereit, im Gegenzug für den vollen Marktzugang zur EU freiwillig EU-Regeln zu übernehmen. In Anbetracht dieser fünfjährigen Erfahrungen mit der EU und der Schweiz könnte sich die EU hier durchsetzen, zumindest, wenn beide Seiten bereit sind, integrierte Lieferketten von stark regulierten Unternehmen wie Automobil- oder Chemikalienherstellern zu schützen.
Ein Prozess, kein Ereignis
Das Versprechen, das Boris Johnson gemacht hat, ist letztlich das Ergebnis davon, dass die EU nicht einfach eine kurze Verlängerung anbietet, was eine Parlamentswahl vor dem Brexit verhindert hätte. Vielleicht ist es jetzt an der EU und dem Vereinigten Königreich, eine weitere „standstill period“ während des Übergangs auszuhandeln. Da das Vereinigte Königreich bereits eine gewisse Souveränität wiedererlangt hat, wäre dies, technisch gesehen, keine "Verlängerung". Schließlich ist der Brexit ein Prozess, kein Ereignis, er bedeutet ständige Verhandlungen mit der EU.
Das Rücktrittsabkommen lässt ohnehin nur eine einmalige Verlängerung zu, und um dem entgegenzuwirken, denkt die Europäische Kommission bereits daran, das große EU-UK-Handelsabkommen zunächst provisorisch in Kraft treten zu lassen, um danach die Verhandlung eines „gemischten Abkommens" zu ermöglichen. Ein solches Abkommen könnte einen größeren Marktzugang ermöglichen, bedarf aber auch der Zustimmung der Parlamente der Mitgliedstaaten und nicht nur des Europäischen Rates und des Europäischen Parlaments.
Während das Vereinigte Königreich voraussichtlich beim Zeitplan nachgeben muss, wird die EU wahrscheinlich gezwungen sein, von ihrer "Rosinenpickerei" abzusehen. Kontinuierlich hat sie ausgeschlossen, dass ein Abkommen nach Schweizer Art verhandelt werden könnte, und behauptet, dass dies in irgendeiner Weise „die vier Grundfreiheiten (der EU, Anm. d. Red.) teilen" würde, auch wenn die Regelung mit der Schweiz seit fast zwanzig Jahren reibungslos funktioniert. Man fragt sich, was wohl große Unternehmen dazu sagen würden, wenn die EU eine "No Deal"-Schlappe riskierte, falls das Vereinigte Königreich anböte, sich im Bereich Produktion und Chemikalien weiterhin nach EU-Vorschriften zu richten, wenigstens vorübergehend. Bei gleichzeitiger Weigerung, dass die City of London von Brüssel aus regiert wird, ohne ein Mitspracherecht für Großbritannien.
Aus Angst vor einer Schädigung der Lieferketten wird alles auf ein Arrangement im Stil des Chequers-Plans ausgerichtet werden. Jedes Mal, wenn die EU eine Aktualisierung der vom UK übernommenen Vorschriften vorlegen wird, wird es Stimmen geben, die zu einer Überprüfung mahnen, ob der Marktzugang zur EU das noch wert ist. Es wird ein "Pick and Choose" geben wie nie zuvor.
Zusätzliche bürokratische Hürden und Kontrollen
In einem zweiten Szenario verfehlen die Tories knapp die Mehrheit und wären daher auf 8 bis 10 DUP-Abgeordnete angewiesen. Ein Szenario, in dem Mitglieder der Brexit-Partei diese Position einnehmen, ist kaum zu erwarten, da es unwahrscheinlich ist, dass es dieser Partei gelingt, auch nur einen einzigen Sitz zu erhalten. Wenn die DUP wieder ins Spiel kommt, wird die EU nicht bereit sein, Irland in den "No Deal"-Topf zu werfen, sodass mit einer Wiederaufnahme der Verhandlungen zu rechnen ist.
Den Brexit den Unionisten in Nordirland schmackhafter zu machen, ist auf jeden Fall eine gute Idee. Auch wenn Friedensnobelpreisträger Lord Trimble den "Boris-Deal" unterstützt, gibt es in Nordirland teilweise Wut darüber. Berichten zufolge soll der Brexit dort das Risiko für eine paramilitärische Gewaltanwendung erhöhen.
Das "Boris-Abkommen" sieht vor, dass Nordirland nicht nur rechtlich, sondern auch praktisch im Zollgebiet des Vereinigten Königreichs verbleiben wird, vorausgesetzt dass es den Briten gelingen wird, niedrigere Zölle auszuhandeln. Dann bedürfte es Kontrollen auf der Irischen See, was auch schon zu Protesten von Lkw-Fahrern geführt hat.
Es gäbe Zollerklärungen für Warenlieferungen aus Großbritannien nach Nordirland, auch wenn Boris Johnson dies offenbar geleugnet hat, indem er im Wahlkampf erklärte, dass es "keine Zölle oder Kontrollen für Waren geben wird, die aus Großbritannien nach Nordirland gehandelt werden und nicht nach Irland weiter geschickt werden". Vielleicht war er etwas verwirrt, denn es wird zwar keine Zölle auf solche Waren geben, aber leider werden im Rahmen des "Boris-Deals" für diese Waren gewisse zusätzliche bürokratische Hürden und Kontrollen gelten.
Loch in der EU-Außengrenze
Eine weitere Sorge ist, dass für Waren, die von Nordirland nach Großbritannien gehandelt werden, "Exit Summary Declarations" erforderlich würden, selbst wenn Artikel 6 des Nordirischen Protokolls es dem Vereinigten Königreich ermöglichen könnte, bei einigen Waren auf diese zu verzichten. Außerdem gehen Quellen in der EU-Kommission davon aus, dass die Kontrollen der Irischen See weniger dramatisch sein werden, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Der springende Punkt werden wahrscheinlich die Kontrollen für Waren sein, die aus Großbritannien nach Nordirland gelangen, denn darüber ist die EU am meisten besorgt.
Viele Details sind noch unklar, aber im Falle einer solchen Neuverhandlung dürfte die DUP nur in dem Maße Zugeständnisse einräumen, in dem sich auch die EU bei innerbritischen Kontrollen flexibel zeigt. Diesmal wäre es nicht die DUP gegen Irland, sondern die DUP gegen Länder wie die Niederlande, Belgien, Frankreich und Deutschland: Länder, die ein Loch in der EU-Außengrenze fürchten, obwohl ihr eigener Abschnitt an dieser Grenze ziemlich undicht ist.
Aus diesem Grund würde die EU wahrscheinlich Forderungen der DUP nach einer Lockerung der irischen Seegrenze erfüllen, aber die Frage ist, ob ihre Zugeständnisse die DUP zufriedenstellen würden, welche bekanntlich ein harter Verhandlungsführer ist. Jeder hätte wieder einen "No Deal" vor Augen.
Eindeutig nicht das Ende der Welt
Ein drittes Szenario ist, dass sich die "alle außer die Konservativen und die DUP"-Koalition eine Mehrheit der Sitze unter Jeremy Corbyn sichert, der es irgendwie schafft, diese wackelige Regenbogenkoalition davon zu überzeugen, ihn als Premierminister zu unterstützen. Dies würde sicherlich ein zweites Brexit-Referendum voraussetzen, das die Liberal Democrats intensiv vorantreiben würden, und vielleicht sogar ein zweites schottisches Referendum auf Antrag der SNP.
Corbyn würde dann eine Wahl zwischen "Bleiben" und "weichem Brexit" treffen, was wahrscheinlich so wenig Souveränität für das Vereinigte Königreich mit sich bringen wird, dass viele Brexiteers und vielleicht sogar die Konservative Partei die Abstimmung mit dem Vorwurf boykottieren könnten, dass die Wahl nur zwischen "EU-Mitgliedschaft" und "EU-Mitgliedschaft ohne Stimmrecht" bestehe.
Trotz einigen Murrens wird die EU wahrscheinlich mit Corbyns Neuverhandlung fortfahren. Schließlich ist eine Angleichung oder eine Harmonisierung der Vorschriften und der Handelspolitik mit dem Vereinigten Königreich attraktiver als die Auseinandersetzung mit einem "Konkurrenten", wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel formuliert hat.
Wenn die britischen Wähler dann für die Option "Bleiben" stimmen würden, wäre das auch für die EU eindeutig nicht das Ende der Welt, auch wenn dort inzwischen viele die Gefahren erkannt haben, die damit einhergingen, das Vereinigte Königreich doch noch im Club zu behalten. Mit mehr als 17 Millionen Brexit-Wählern, die zu recht wütend wären, dass ihnen gesagt wurde, sie sollten bitte noch einmal abstimmen, aber diesmal mit dem richtigen Ergebnis.
Von einem schlechten Mieter zu einem guten Nachbarn
Wie gesagt, es ist unwahrscheinlich, dass die Konservative Partei dem einfach zustimmen würde, da sie inzwischen zur "Brexit-Partei" geworden ist. Es ist wahrscheinlich, dass sie lieber den Boris-Deal doch noch umsetzen würde, indem sie einfach darauf warten würde, dass Corbyns wackelige Minderheitsregierung zusammenbricht. Die EU würde sich hilflos fühlen, da sie dann wüsste, dass der Brexit trotz des zweiten Referendums im Anmarsch wäre.
Und selbst wenn die Tories diesen Weg nicht gehen würden, würde sich Großbritannien früher oder später als ein viel schwierigerer Partner herausstellen, als es vor 2016 jemals gewesen ist. Daher spielt diese Wahl nicht nur für die Zukunft des Vereinigten Königreichs, sondern auch für die Zukunft der EU eine Rolle. Der Brexit sollte das Vereinigte Königreich von einem schlechten Mieter zu einem guten Nachbarn machen. Ein weiterhin blockierendes Großbritannien würde von den EU-Chefs nur als ein noch schlechterer Mieter angesehen werden.
Es ist – erstens – natürlich unfair, einen Mitgliedstaat, der der zweitgrößte Geldgeber ist und weithin als ein Mitglied betrachtet wird, das sich stärker als viele andere an die EU-Vorschriften hält, als einen "schlechten Mieter" zu betrachten. Aber das ist – zweitens – eine genaue Beschreibung dessen, wie einige EU-Chefs das Vereinigte Königreich sehen.
Option „Bleiben“ möglicherweise nicht lange tragfähig
Vor einigen Wochen beschuldigte der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Tony Blair – ausgerechnet Blair –, am Brexit mitschuldig zu sein. Juncker sagte: "Wenn es um die politische Union ging, darum, näher zusammenzukommen, wollten sie (die Briten) nichts mit der EU zu tun haben. Das war sogar bei meinem Freund Tony Blair der Fall. (....) Wenn man sich über 40 Jahre lang an dieses Narrativ hält, dann überrascht es nicht, dass sich die Leute während des Referendums daran erinnern."
Hier offenbart sich nicht nur die seltsame Überzeugung, dass Politiker die Anschauungen der Bevölkerung prägen, es ist außerdem geradezu bizarr, zu behaupten, dass die britische Öffentlichkeit möglicherweise nicht für den Brexit gestimmt hätte, wenn nur die britische Führung die Unzufriedenheit der Bevölkerung über den Kurs der EU ignoriert hätte. In Brüssel gibt es sehr wenig Selbstreflektion darüber, warum Großbritannien 2016 den Austritt beschlossen hat.
Ein Vereinigtes Königreich, das am Ende doch in der EU verbliebe, hätte was von "zurück in die Zukunft", wobei die Agenda zur Reform der EU, die Open Europe immer vorangetrieben hat, wieder in den Vordergrund rücken würde. Diese Agenda, die sich wirklich darauf konzentriert, die EU zu einem bescheideneren Vehikel zu machen, das sich auf die Beseitigung von Handelshemmnissen konzentriert, könnte jetzt für das europäische Festland viel attraktiver sein als vor 2016, als die sogenannten euroskeptischen Populisten noch viel schwächer waren. Es wäre auf jeden Fall eine Möglichkeit, um – vielleicht vergeblich – die weiterhin bestehenden Bedenken der Brexiteers im Vereinigten Königreich zu zerstreuen.
Auf jeden Fall haben die britischen Wähler jetzt den Schlüssel in der Hand. Abgesehen von der geringen Chance, dass die DUP für einen Machtausgleich sorgt, sieht die Lage ziemlich schwarz-weiß aus: Eine absolute Tory-Mehrheit bedeutet Brexit. Andernfalls wäre ein mindestens einjähriger Verbleib in der EU realistisch. Die EU wird in beiden Szenarien einfach mitspielen, auch wenn sie jetzt erkennt, dass die Option "Bleiben" möglicherweise nicht lange tragfähig ist.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Brexit Central.
Pieter Cleppe ist Leiter des Brüsseler Büros des Think Tanks Open Europe. Er schreibt regelmäßig für Rundfunk- und Printmedien in ganz Europa und diskutiert häufig über die EU-Reform, die Flüchtlingskrise und die Eurokrise.