Ahrensburg ist nicht der Ort, an dem bedeutende politische Verlautbarungen vorgenommen werden. Meist macht die kleine Stadt im norddeutschen Bundesland Schleswig-Holstein keine Schlagzeilen, die über die Stadtgrenzen hinaus Bedeutung haben.
Aber es stehen Bundestagswahlen vor der Tür und daher bekommen selbst Orte wie Ahrensburg ab und zu hochrangige Besucher ab. Manchmal haben diese sogar etwas Interessantes zu sagen. Und so kam es, dass Ahrensburg letzte Woche – wahrscheinlich erstmals in seiner Geschichte – in den internationalen Nachrichten auftauchte.
Dies war einem Wahlkampfauftritt von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zu verdanken, der vor einer kleinen Gruppe von Parteianhängern eine Rede hielt. Auch einige Journalisten waren anwesend und sie waren höchst überrascht von dem, was Schäuble zu sagen hatte.
Seit Monaten wiederholt die deutsche Regierung ihr zentrales Mantra in der Eurokrise: es werde weder ein weiteres Rettungspaket für Griechenland noch einen Schuldenschnitt für Griechenland geben. Wenn das derzeitige (zweite) Bailout-Programm ausgelaufen sei, so die Merkel-Regierung, wären alle Probleme gelöst. Griechenland könnte dann anfangen, sich an den Kapitalmärkten zu refinanzieren, und sogar mit der Rückzahlung seiner enormen Schulden beginnen.
Angesichts der Tatsache, dass die griechische Wirtschaft nach wie vor schrumpft, die Arbeitslosigkeit steigt und die Schuldenspirale außer Kontrolle gerät, waren diese Behauptungen schon immer recht schwer zu glauben. Aber Merkel und ihre Partei versuchten alles, um vorzutäuschen, die Eurokrise sei vorbei, überwunden nicht zuletzt dank Merkels glorreichem Krisenmanagement. Das Letzte, was Merkel brauchte, war eine Debatte über ihre Europolitik, denn das würde lediglich auf die Alternative für Deutschland aufmerksam machen, eine neu gegründete euroskeptische Splitterpartei.
Umso überraschender war das, was Wolfgang Schäuble zu verkünden hatte. Fast beiläufig – und so, als handele es sich um die selbstverständlichste Sache der Welt – informierte Schäuble sein Publikum, dass ein drittes Rettungspaket für Griechenland geschnürt und Athen auch über das Jahr 2014 unterstützt werden sollte.
Gleich nach Bekanntwerden der Meldungen über Schäubles nicht abgestimmte Bemerkungen bemühte sich die deutsche Regierung um Schadensbegrenzung. Er müsse aus dem Zusammenhang gerissen zitiert worden sein; vermutlich habe er nicht das gesagt, was in den Medien berichtet wurde. Leider tauchte einige Tage später eine Aufzeichnung der Veranstaltung auf, die bestätigte, dass gar nichts aus dem Kontext gerissen worden war. Der Finanzminister hatte tatsächlich in sehr klaren Worten geäußert, dass es ein drittes Rettungspaket für Griechenland geben würde.
Das war ein deutlicher Schlag gegen Kanzlerin Merkels Kampagne für ihre Wiederwahl und er wurde ihr von Deutschlands wohl erfahrensten und schlauesten Politiker zugefügt. Schäuble ist seit Jahrzehnten in der Politik und hatte hohe Ämter in Parlament und Regierung inne. Das wirft die Frage auf, wie ein so dilettantischer Fehler – in einem Wahlkampf die Wahrheit zu sagen – passieren konnte.
Dafür gibt es zwei mögliche Antworten: entweder er hatte wirklich einen geistigen Aussetzer und vergaß einfach, dass er eine offizielle Rede hielt, oder er meinte tatsächlich, was er sagte.
Ein Versprecher ist höchst unwahrscheinlich. Schäuble ist zwar schon 70 und er muss recht erschöpft sein, nachdem er sein Land in den letzten vier Jahren durch die Eurokrise gesteuert hat. Aber er ist auch für seine Disziplin und sein Strategiebewusstsein bekannt. Derart den Überblick zu verlieren, wäre etwas Neues bei ihm.
Wenn seine Bemerkungen kein Versehen waren, können wir spekulieren, welchen Zweck er damit verfolgte. Es ist allgemein bekannt, dass Schäuble und seine Kanzlerin eine komplizierte Beziehung zueinander haben. Vor langer Zeit löste sie ihn als Parteivorsitzender der Christlichen Demokraten ab und später durchkreuzte sie seine Ambitionen auf das Amt des Bundespräsidenten. Bezeichnenderweise siezen sich Schäuble und Merkel nach wie vor, was selbst im förmlichkeitsbesessenen Deutschland durchaus eine Leistung ist, nachdem sie nun fast ein Virteljahrhundert zusammenarbeiten.
Aber wäre diese Animosität so groß, dass Schäuble Merkels Wahlkampf aktiv sabotieren würde? Schwer vorstellbar.
Eine viel wahrscheinlichere Erklärung ist, dass Schäuble, der sein Ministeramt auch in der neuen Regierung behalten will, jedem Vorwurf von Wahlbetrug entgegenwirken wollte. Wenn er vor der Wahl auf den nächsten griechischen Bailout hingewiesen hat, könnte ihm danach niemand vorwerfen, sein Wort gebrochen zu haben.
Es gibt eine weitere, vielleicht noch plausiblere Erklärung für sein Verhalten. In der derzeitigen Regierung ist Schäuble der europafreundlichste unter den Ministern. Er gehört der alten Garde seiner Partei an, die Europa und eine noch weiter gehende Integration als endgültiges politisches Ziel ihres lebenslangen Projekts betrachtet.
Merkels Beziehung zu Europa und der EU ist viel nüchterner. Sie ist leidenschaftlich pro Amerika und das Verhältnis zu Deutschlands östlichen Nachbarn wie etwa Polen ist ihr wichtig. Mit der Europäischen Union hatte Merkel jedoch stets eine geschäftliche Verbindung, keine Liebesbeziehung.
Indem Schäuble nun vor der Wahl das nächste griechische Rettungspaket ankündigt, manövriert er Deutschland in die von ihm bevorzugte Position der aktiven Unterstützung einer stärkeren europäischen Integration hinein.
Welche Motive Schäuble auch gehabt haben mag, er hat gewonnen. Nachdem Merkel Schäubles Bemerkungen zu Griechenland einige Tage lang ignorierte und dann herunterspielte, musste sie seine Haltung widerwillig akzeptieren. Plötzlich schließt nicht einmal Merkel den nächsten Bailout für Griechenland aus. Sie kann es nicht mehr, wenn sie glaubwürdig bleiben will.
Die Bundesbank prognostiziert schon seit langem, dass Griechenland frisches Kapital brauchen wird. Die meisten deutschen Ökonomen sind der gleichen Meinung und nach allen vorliegenden Daten ist das nächste Rettungspaket beschlossene Sache – nur über die Höhe wird noch diskutiert. Gleiches gilt für die Frage, ob Griechenland über das Rettungspaket hinaus einen weiteren Teilerlass seiner Schulden benötigen wird. Da nun ihr eigener Finanzminister offen über das kommende griechische Hilfspaket gesprochen hat, würde Merkel dumm dastehen, wenn sie es kategorisch ausschließen würde - nur um ihm nach der Wahl zuzustimmen.
Das Griechenlandpaket könnte jedoch möglicherweise nach ihrer Wiederwahl Merkels geringstes Problem sein. Auch Irland wird voraussichtlich um erneute Hilfe ersuchen und nicht weit dahinter steht Portugal. Derzeit wird auch deutlich, dass der Anfang des Jahres vereinbarte erste Bailout für Zypern nicht ausreichen wird. Zudem wird die geplante europäische Bankenunion den deutschen Steuerzahler sehr teuer kommen.
Vielleicht sollte Wolfgang Schäuble weiter Wahlkampf in der schleswig-holsteinischen Provinz machen. Es warten noch mehr unangenehme Wahrheiten, die er aussprechen könnte.
Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der New Zealand Initiative (www.nzinitiative.org.nz).
‘Greece is the word that could sink Merkel’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 29. August 2013. Aus dem Englischen von Cornelia Kähler (Fachübersetzungen - Wirtschaft, Recht, Finanzen).