Vera Lengsfeld / 06.08.2022 / 16:00 / Foto: Imago / 12 / Seite ausdrucken

„Gray Man“ oder doch eher graue Maus?

Beim Durchzappen blieb ich an „Gray Man“ hängen. Angeblich die teuerste Netflix-Produktion aller Zeiten, Nummer eins in dutzenden Ländern. Warum nicht einmal ansehen, was die Zeitgenossen bevorzugen?

Neulich Abend war ich zu träge, „The Trial of Socrates“ von I. F. Stone, ein philosophischer Politthriller, weiterzulesen, also schaltete ich nach längerer Zeit mal wieder den Fernseher an. Die öffentlich-rechtlichen Sender ignoriere ich schon lange, also bleibt Netflix. Beim Durchzappen blieb ich an „Gray Man“ hängen. Angeblich die teuerste Netflix-Produktion aller Zeiten, Nummer eins in dutzenden Ländern, prominent in Deutschland. Warum nicht einmal ansehen, was die Zeitgenossen bevorzugen?

Szene eins spielt in Floridas Hochsicherheitsgefängnis. Ein junger Brudermörder sitzt einem CIA-Agenten gegenüber, der ihm anbietet, ihn sofort aus dem Gefängnis herauszuholen, wenn er sich von der CIA als Spezial-Killer ausbilden lässt und der Agency lebenslang dient. Der Gefangene, dessen Ähnlichkeit mit Ryan Gosling mich verblüffte, konterte mit der Frage, woher der CIA-Mann wisse, dass er je wieder töten wolle. Das sähe er ihm an, war die Antwort.

Achtzehn Jahre später sehen wir den Killer, der inzwischen 6 heißt, in Bangkok, wo er inmitten einer Party einen angeblichen Hochverräter beseitigen soll. Das klappt nicht gleich, weil ein Kind in der Schusslinie steht, das der Killer zur großen Verärgerung des Chefs in der Zentrale, Charmichael (Regé-Jean Page), nicht umbringen will. Da weiß man schon, wer der eigentliche Böse ist.

Was hat Chris Evans in dieser Klamotte zu suchen?

Es beginnt eine Massenschlägerei, an der sich auch die überaus attraktive CIA-Überwacherin (Ana de Armas) vor Ort beteiligt. Am Ende stehen sich 6 und der Hochverräter allein gegenüber. Letzterer outet sich als Mitglied 5 der „Sierra Group“, der auch 6 angehört. „Das wird dich nicht davon abhalten, mich zu töten.“ „Ich glaube nicht.“ Diesem an Banalität kaum zu übertreffenden Dialog folgt der finale Kampf, der mit dem Sterben von 5 endet. Vor dem Tod übergibt 5 seinem Mörder ein Amulett und drängt ihn, sich anzusehen, was es enthält. Was ihn bewegt, anzunehmen, dass 6 das tun wird, bleibt offen. Die schöne Agentin erscheint auf der Bildfläche, 6 tritt ab. Bei der Durchsuchung von 5 stellt sich heraus, dass das Gesuchte nicht mehr da ist.

Ab sofort wird die Jagd auf 6 eröffnet. Zum Jäger wird der freischaffende Killer und Folterer Loyd Hansen erkoren, der von der CIA wegen seiner unkontrollierbaren Brutalität gefeuert wurde. Moment mal, der sieht ja aus wie der Klasse-Schauspieler Chris Evans? Was hat der in dieser Klamotte zu suchen?

Fitzroy, der Ausbilder der Sierra-Gruppe (Billy Bob Thornton) ist pensioniert und sitzt merkwürdigerweise in Baku (Aserbaidschan) mit seiner herzkranken Nichte Claire (Julia Butters), die von Loyd Hansen aber bereits entführt worden ist, während Fitzroy einen alten Kumpel beerdigte. Es folgen ein spektakulärer Flugzeugabsurz mit 6 als einzigem Überlebenden, Explosionen und Schießereien in Wien und Prag, die 6 und die mit ihm mittlerweile verbündete attraktive Agentin fast ohne Kratzer überstehen. Allerdings ist 6 das Amulett beim Kampf gegen einen tamilischen Freelancer aus der Hansen-Truppe abhandengekommen. Bleibt nur noch, die entführte Nichte zu befreien.

Könnte Gegenstand eines zweiten Films sein

Wo sie ist, kann mit Hilfe des Codes ihres Herzschrittmachers herausgefunden werden. In einem Schloss in Kroatien. Die Agentin und 6 düsen los. Im Schlosspark kommt es zu einer Begegnung von 6 und Hansen. 6: „Ich konnte dich gleich nicht leiden.“ Hansen: „Da haben wir etwas gemeinsam.“ Solche Banalitäten durchziehen alle Filmdialoge.

Daran ändert sich auch nichts, als in einer Folterszene Arthur Schopenhauer, der sich freilich nicht mehr wehren kann, zitiert wird. Claire wird im ersten Anlauf von 6 befreit, gerät aber wieder in die Hände von Hansen, der eben einen Handgranatenwurf von Fitzroy überlebt hat. Da ist der Zuschauer bereits genervt, muss aber noch ein weiteres Handgemenge von 6 und Hansen über sich ergehen lassen, während er sich mit wachsender Verzweiflung fragt, warum die Scharfschützin, die Hansen vor der Linse hat, dem nicht ein Ende macht. Nein, der finale Schuss kommt von einer Agentin aus der Zentrale, die Hansen erledigt, 6 sowie seine Komplizin abführen lässt und Claire in Gewahrsam nimmt. Also muss das Mädchen noch einmal befreit werden, diesmal aus den Fängen der CIA, was 6 natürlich gelingt.

„Und darum wird beim Happy End im Film jewöhnlich abjeblend“, fällt mir spontan Tucholsky ein. Aber was aus der grauen Maus 6 wird, könnte Gegenstand eines zweiten Films sein, vor dem uns ein höheres Wesen beschützen möge. Nein, nicht nötig, man muss „Gray Man 2“ ja nicht anschalten. Im Abspann sehe ich plötzlich, dass 6 nicht nur Ryan Gosling verblüffend ähnlich sieht, sondern es tatsächlich selbst war. Bleibt die Frage aller Fragen, was Weltklasse-Schauspieler wie Gosling und Evans bewegt hat, bei einem solchen Schmarren mitzuwirken.

Foto: Imago

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JLloyd / 06.08.2022

Danke für’s Anschauen & Rezensieren - da muss ich ersteres nicht mehr.

Milan Viethen / 06.08.2022

Rambo 3 :“ What’s this? “ “ Blue light.” “ What does it do ?” It turns blue !” Legendär.

Dirk Jungnickel / 06.08.2022

Also, liebe Vera, da muß ich NETFLIX doch ein wenig verteidigen. Wer nämlich sucht, der findet (meist) auch. Leider sind die deutschen Titel - Übersetzungen oft hahnebüchen und die Ankündigungstexte nicht viel besser. Ich suche desderwegen manchmal eine halbe Stunde - und verderbe mir den Abend allerdings trotzdem manchmal .  Wie neulich bei der deutschen hochgelobten und hochgeförderten Produktion WAS WÄRE WENN von einem Florian Koerner von Gustorf (nie gehört). Hauptrollen immerhin Christiane Paul und Ronald Zehrfeld. Die Heldin trifft auf einer Reise mit ihrem Mann in Budapest auf ihren Geliebten aus Mauerzeiten. Beiden Hauptdardstellern kann man kaum Vorwürfe der Unbedarftheit machen, weil die Dialoge derartig hausbacken und unglaubhaft sind sowie die Regie offensichtlich von inszenatorischen Einfällen noch nie etwas gehört zu haben scheint. “Republikflucht”- Geschichte wird angedeutet und absurderweise Richtung Serbien auch ausgeführt. Kurzum: Eine Film - Idee, die einer wirklichen Umsetzung bedurft hätte. Aber wie gesagt: Auf NETFLIX und Prime Video findet man durchaus Kunstwerke, wie Filme aus der Niederlande und Skandinavien.

Gerhard Hotz / 06.08.2022

Sind die Dialoge in den ersten fünf Minuten banal und langweilig statt spritzig und witzig, kann man gleich abschalten oder weiterzappen. Das bessert sich dann meistens nicht mehr. Zu Gosling und Evans: Alle Stars sieht man zuweilen in schlechten Filmen. Offenbar gibt es einfach nicht genug gute Drehbücher.

Rolf Lindner / 06.08.2022

Liebe Frau Lengsfeld, haben Sie Ihre Lebenszeit auf dem Jahrmarkt gewonnen? Selbst, wenn ich sieben oder neun Leben hätte, wie man es Katzen nachsagt, ich würde nicht eine Sekunde dafür vergeuden, mir solchen Mist anzusehen. Schon gar nicht, eine Rezension darüber zu schreiben. Soweit ich Sie aus ihren Publikationen kenne, ist ihre Zeit so etwas nicht wert. In meinen jungen Jahren gab es so einen Klamaukfilm, “Petroleummiezen” genannt, mit Brigitte Bardot und Claudia Cardinale. Das Kino überfüllt. Mit einem Freund, der sich Stunden für die Karten angestellt hatte, saß ich richtig in der Mitte des Publikums. Wenige Minuten nach dem Start des Films verließen wir angesichts des horrenden Blödsinns das Etablissement und hörten uns mit einem gewissen Vergnügen das Murren des restlichen Publikums an. Traurig, dass die Masse auf so ‘was steht, aber die steht ja auch auf der Schmierenkomödiantin Annalena, obwohl ich der zumindest damals noch B.B. und C.C. vorgezogen hätte.

Peter Wachter / 06.08.2022

Frau Lengsfeld, mir gefällt die Serie “Frau Jordan stellt gleich”, vielleicht wär das auch was für sie, Inhalt: “In der spritzigen neuen Comedy-Serie führt Moderatorin und Schauspielerin Katrin Bauernfeind als Gleichstellungsbeauftragte Eva Jordan ein kleines Team im Kampf gegen frauenfeindliche Ungerechtigkeiten aller Art an. Mit Witz und Verve setzt sie sich für die Anliegen ihrer Geschlechtsgenossinnen ein und tritt dabei schon mal in das ein oder andere Fettnäpfchen”. Also, ich finde, das stimmt wirklich, ausnahmweise selbstironisch, kritisch und luschtisch. Sehbar auf Pro7 (in Mediathek), auf Joyn PLUS+ oder sixx. Viel Vergnügen, Gesundheit, Glück und schönes WE.

Emmanuel Precht / 06.08.2022

Geld? Wokeness? Irrsinn? Sie wissen wo die Kinder zur Schule gehen! Wohlan…

Jürgen Fischer / 06.08.2022

»Bleibt die Frage aller Fragen, was Weltklasse-Schauspieler wie Gosling und Evans bewegt hat, bei einem solchen Schmarren mitzuwirken.« Ähm ... Geld? Einen Grund muss es ja haben, warum der Schmarren »angeblich die teuerste Netflix-Produktion aller Zeiten« ist.

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