Ein Ausflug nach Weimar ist lehrreich. Zunächst lernt man auf dem Marktplatz gegenüber dem berühmten Hotel Elephant (hier nächtigten unter anderen Martin Buber, Walter Hasenclever, Thomas Mann und Adolf Hitler), dass die Thüringer Rostbratwurst zu Recht den Markenschutz einer geografischen Herkunftsangabe genießt. Wirklich, nirgendwo kommt die Wurst dicker, knackiger, saftiger und besser gewürzt vom Grill.
Ferner beweist die klassizistische Stadt Weimar aufs Anschaulichste, dass zwischen Hochkultur und höchster Barbarei nicht mehr als hundert Jahre liegen müssen. Unweit vom Elephant steht am Frauenplan das Wohnhaus des 1832 verschiedenen Gröddaz, des größten deutschen Dichters aller Zeiten. Das trotz der ausgestellten Altertümlichkeiten wundersam lebendige Museum mit seinen farbenfrohen Wänden und knarzenden Dielen gibt Kunde von einer imaginierten Welt des Wahren Guten Schönen, die in Weimar für Jahrzehnte eine Heimstatt hatte.
Klugheit, Fleiß, Güte und von allem das richtige Maß, so ging das Credo des Freiherrn. Eines seiner Bekenntnisse ist im Goethehaus prominent ausgestellt, von Eckermann datiert auf den 27. April 1825: „...jedes Gewaltsame, Sprunghafte ist mir in der Seele zuwider, denn es ist nicht naturgemäß.“
Diese Betrachtung ist natürlich viel zu schön, um wahr zu sein. Das Dementi findet man zehn Kilometer nordwestlich von Weimar. Im Konzentrationslager Buchenwald am Ettersberg wurden von 1937 bis zur Befreiung durch die US-Armee am 11. April 1945 geschätzt 56.000 Menschen auf die eine oder andere Art ermordet. Nach dem Abzug der Amerikaner erfolgte alsbald eine Nachnutzung des KZ durch die sowjetische Geheimpolizei. Im Speziallager Nr. 2 wurden 28.500 Menschen ohne Gerichtsurteil interniert; bis 1950 starben hier 7.100 von ihnen.
Groteske, grimmige und schwer erträgliche Details
Auf dem Nazi-KZ-Gelände steht noch der Stumpf einer Eiche, unter der Goethe bei seinen häufigen Besuchen auf dem Ettersberg gern gesessen haben soll, von Häftlingen angeblich „Goethe-Eiche“ genannt. Buchenwald ist voller grotesker, grimmiger und schwer erträglicher Details. Wie der Tatsache, dass dort zeitweise ein Häftlingsbordell existierte, welches der Leistungsoptimierung der männlichen Sklaven dienen sollte. In ihm konnte der GV für zwei Reichsmark vergleichsweise günstig ausgeübt werden. Cora Stephan hat das haarsträubende Stück Geschichte in ihr episches Epochenporträt „Ab heute heiße ich Margo“ eingeflochten. Die Passage wird man nie wieder los.
Nun war Buchenwald kein ausgewiesenes Vernichtungslager, sondern in der Hauptsache ein Logistikzentrum für den Umschlag zur Liquidierung vorgesehener Lebendware. Wer sich für Vernichtung im industriellen Maßstab interessiert, fährt besser gleich nach Auschwitz. Interessant an Buchenwald ist vor allem das, was die DDR daraus machte. Nämlich ein riesiges Memorial ihrer eigenen Geschichtsklitterungshoheit, das vielleicht nicht zufällig architektonische Anklänge an das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg aufweist.
Buchenwald war zur DDR-Zeit ein Aufmarschplatz zum orchestrierten Massengedenken. Zehntausende wurden bei jedem passenden Anlass dorthin geschafft, um ihnen die zentralen Botschaften des SED-Staates einzuhämmern. 1. Der Sozialismus hat den Nationalsozialismus (DDR-Sprech: „Faschismus“) besiegt und dessen Chefs und Handlanger bestraft. 2. Im Adenauerstaat („Bonner Regime“) dagegen ist sie wieder an der Macht, die Nazibrut.
Der „antifaschistische Kampf“ als Staatsdoktrin und Legitimation des Realsozialismus, für dieses Theater bot Buchenwald die ideale Bühne. Was die Aufführung hätte stören können, wurde ausradiert. Selbstverständlich war die Folgenutzung des KZ durch die Russen ein Tabu. Ebenso das Häftlingsbordell, an dessen Organisation auch Kommunisten mitgewirkt hatten. Die zwiespältige Rolle der „roten Kapos“ – politische Häftlinge, zumeist Kommunisten, die einen Teil des Lageralltags in Selbstverwaltung geführt und sich dabei durchaus nicht immer heldenhaft verhalten hatten –, sie wurde gleichfalls ausgeblendet. Übermächtig im Fokus der Buchenwald-Inszenierung: Die Leiden und die klandestinen Widerstandsnetze kommunistischer Lagerinsassen.
Von den Machthabern in Ost-Berlin systematisch instrumentalisiert
Nichts oder nur sehr wenig erfuhren die in- und ausländischen Besucher der Gedenkstätte während der DDR-Ära über die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden, den Mord an Sinti und Roma, die Verfolgung von Homosexuellen und nichtkommunistischen Nazigegnern wie Sozialdemokraten. Buchenwald verließ der arglose Besucher mit der Überzeugung, Kommunisten seien die Hauptopfergruppe der Nazis gewesen; sie allein hätten Widerstand gegen die Nazis geleistet. Jede Menge Thälmänner! Ernst Thälmann, 1933 verhafteter KPD-Führer und Straßenkämpfer während der Weimarer Republik, war zuletzt in Buchenwald inhaftiert und wurde 1944 - möglicherweise von der SS - ermordet. In der DDR wurde er zum Mythos erhoben, ein Vorläufer von Che Guevara.
Nach einem Besuch in Buchenwald schrieb ein zorniger Prof. F. Bergmann von der Medical School in Jerusalem anno 1960 an den DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl:
Die Tausende Juden, die in Buchenwald gemordet wurden, und die Millionen Juden, die in den Gaskammern erstickt wurden, haben nicht genügt, meinem Volk einen Platz einzuräumen unter all den Nationen, die ihre Söhne verloren haben?
Erst nach der erneuten Befreiung des Lagers – diesmal von seinen ideologischen Usurpatoren – wurden wichtige Fakten endlich publik. In einem schlichten, 1999 eröffneten Gebäude am Eingang der pathetischen DDR-Monumentalarena zeigt die Ausstellung „Geschichte der Gedenkstätte Buchenwald“, wie das Lager von den Machthabern in Ost-Berlin systematisch instrumentalisiert wurde. Der finanzielle Aufwand sowie die Akribie, mit denen dieses Geschäft über viele Jahre gepflegt wurde, nötigen einem beinahe Respekt ab. Es handelt sich um ein Meisterstück der Firma Walter Ulbricht & Söhne.
Angesichts dessen, denkt man bei der Abfahrt aus Buchenwald, sollten sich die Leute mal lieber nicht so aufregen über einen wie Sigmar Gabriel. Der einstige Popmusik- und heutige Shoa-Experte hatte im Frühjahr in der „Frankfurter Rundschau“ nicht ganz geschichts- und dudenfest verlauten lassen: „Sozialdemokraten waren wie Juden die ersten Opfer des Holocaustes“. So what? Bei Siggi kommen die Juden doch wenigstens vor! In zweiter Reihe, immerhin.