Dirk Maxeiner / 01.08.2019 / 13:00 / Foto: Agence Role/Vergue / 114 / Seite ausdrucken

Gleisschubser

Ich weiß nicht, wer den Begriff erfunden hat. Gleisschubser. Das Wort ist ziemlich neu, jedenfalls konnte ich im Duden keinen Gleisschubser finden. Da gibt es nur schubsen, ein „schwaches Verb“. Als synonym wird „stupsen“ aufgeführt.  Doch seit einiger Zeit ist der „Gleisschubser“ überall. Menschen, die andere auf die Gleise vor einen Zug, eine S- oder U-Bahn stoßen und dabei deren Tod absichtlich oder fahrlässig in Kauf nehmen, werden vielfach Gleisschubser, wahlweise „Bahnsteigschubser“ genannt. Auch bei dem Mann, der einen achtjährigen Jungen grausam tötete, indem er ihn auf Gleis 7 des Frankfurter Hauptbahnhofs vor den Zug stieß, wird auf das merkwürdige Synonym zurückgegriffen.

Was hat eine solche Tat mit „schubsen“ zu tun? Das Wort klingt doch sehr harmlos, in vielen Zusammenhängen fast freundschaftlich, siehe Duden „stupsen“. Und das ist dann doch ziemlich frivol. Denken ist Sprechen, ist das "innere Gespräch der Seele mit sich selbst", meinte Platon. Aber was reden die, die das Wort gebrauchen, bloß mit sich selbst? Oder beruhigen sie sich nur selbst? Oder wollen sie, dass die Menschen, die das Wort „Gleisschubser“ lesen oder hören, sich beruhigen? 

Ist der Gleisschubser womöglich das neueste Produkt von „Framing“? Framing bedeutet, dass unterschiedliche Formulierungen einer Botschaft – bei gleichem Inhalt – das Verhalten des Empfängers unterschiedlich beeinflussen. Es macht einen Unterschied ob man jemanden einen Mörder oder Gleisschubser nennt. Nun gibt es kein Framing-Handbuch, in dem drin steht, dass man aus einem Mordversuch ein Gleisschubsen machen soll. Der Begriff hat sich schlicht von selbst vervielfältigt. Sprache formt unsere Denkweise und damit die Art, wie wir Wissen erzeugen und die Realität konstruieren. Das Wort Gleisschubser scheint in dieser Hinsicht sehr hilfreich zu sein. Allerdings nur für die, die es gebrauchen.

Bei den Empfängern der Botschaft passiert seit einiger Zeit häufig das Gegenteil. So ist der „Gleisschubser“ im Netz innerhalb weniger Tage zu einem Synonym für Verharmlosung geworden. Die Menschen lesen ironische Anführungszeichen mit, sobald der Begriff auftaucht. Zwischen den Zeilen steht sozusagen ein kopfschüttelnder Elefant. Auch das ist nichts Neues. So ähnlich geht es dem Begriff „Qualitätspresse“, der bei vielen ein nach innen gerichtetes Kichern auslöst. Auch der Begriff des „Schutzsuchenden“ ist längst zu einer Chiffre für eine Sprache geworden, die die Wirklichkeit konstruieren will. Besonders tragisch ist die Zerstörung des Begriffes „Flüchtling“, ein Wort das in Deutschland bis vor einigen Jahren in der ganz großen Mehrheit Verständnis und Hilfsbereitschaft auslöste.

Foto: Agence Rol Vergue via Wikimedia

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Leserpost

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Petra Horn / 01.08.2019

Es ist ein zynischer Begriff. Verharmlosend, menschenverachtend, abwertend, böswillig. Wer ihn benutzt, trampelt auf den Opfern, ihren Familien und allen, die ebenso Opfer werden könnten, achtlos herum. Wir alle könnten irgendwann im Gleisbett liegen und wie Abfall überfahren und zerquetscht werden.

J. Polczer / 01.08.2019

“Gleisschubser” eine neue Form der Verharmlosung. Wer hat´s erfunden? Die Politik oder die Journaille?

Michael Scheffler / 01.08.2019

Kennen wir alles aus der DDR. Da haben wir auch gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen.

beat schaller / 01.08.2019

Danke Herr Maxeiner! Hoffentlich hilft das einigen wieder auf die Beine. b.schaller

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