Von Heinz Theissen.
Der politische Universalismus des Westens ist mit den militärischen Interventionen im Nahen und Mittleren Osten sowie in Nordafrika gescheitert. In seiner Nachfolge haben sich sowohl das wirtschaftsliberale als auch das links-humanistische Milieu einem globalistischen "Eine-Welt-Denken" verschrieben. Der globale Freihandel soll nach dem Win-win-Prinzip weltweiten Wohlstand fördern, die "Weltoffenheit" dient mit interkulturellen Begegnungen dem Weltfrieden, und eine "Global Governance" in Form multilateraler Abstimmungen soll globalen Gefährdungen wie dem Klimawandel wehren.
Doch wie zuvor der politische Universalismus, vernachlässigt auch der Globalismus wesentliche Aspekte der Realität. Zu ihr gehören immer auch die Partikularität von Interessen, die Ängste vor dem Fremden und der Wunsch nach schützenden Abgrenzungen, sowohl gegenüber Finanzströmen, gegenüber Dumpingprodukten wie auch gegenüber Migranten. Vom seltsamen Paradox "offener Grenzen" fühlen sich die Bürger nicht mehr geschützt.
Die Global Player haben überall von der Öffnung der Märkte für Produkte und Menschen profitiert; die dem Management ausgezahlten Gehälter sind längst eine Form oligarchischer Selbstbedienung. Darüber empören sich sprachlos unbeholfene Populisten. Neuer Nationalismus, Separatismus und Stammesdenken bleiben aber letztlich Nullsummenspiele, allerdings mit kriegstreiberischen Folgen. Auch kehren viele europäische Staaten aufgrund der Durchlässigkeit der europäischen Aussengrenzen zu ihren nationalen Grenzregimen zurück. Eine entgrenzte Globalität droht auch länderübergreifende regionale Ordnungen zu zerstören.
Nach Schätzungen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Berlin belaufen sich illegale Finanzströme aus Afrika auf 50 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Enormer Schaden entsteht aus der aggressiven Steuervermeidung internationaler Konzerne. Man mag noch so viele entwicklungspolitische Initiativen starten, gegenüber diesen Entgrenzungen laufen sie ins Leere. Wer vor lauter globalen Visionen die Nah- und die Partikularinteressen übersieht, darf sich nicht wundern, wenn der Utopismus in regressive Gegenextreme umschlägt.
Wo der Kulturrelativismus des Westens mit dem Islamismus und anderen religiösen Fanatismen die "Rache Gottes" heraufbeschworen hat, sucht uns nunmehr auch die "Rache der Geografie" (Robert D. Kaplan) heim. – Statt utopistischer Globalität und regressiver Abschottung ginge es heute um Differenzierung und Kontrolle. Die nach dem politischen Universalismus notwendig gewordene Strategie der Selbstbegrenzung nach aussen und Selbstbehauptung nach innen beginnt sich weniger in übergreifenden Strategien als im schrittweisem Handeln abzuzeichnen.
Eine weltweite multilaterale Ordnung ist eine Utopie
Von der angelsächsischen Welt hat die Globalisierung ihren Ausgang genommen, und von dort könnte sie auch ihr Ende nehmen. Statt für multilaterale Freihandelsabkommen, ob innerhalb Europas oder zwischen den USA und asiatischen Staaten, interessiert man sich nun für bilaterale Abkommen, in denen statt fiktiver Gemeinsamkeiten konkrete Gegenseitigkeiten festgelegt sind. Eine weltweite multilaterale Ordnung ist eine Utopie.
Eine neue Weltordnung kann nicht gegen Russland und China, sondern nur mit ihnen, also in einem multipolaren Kontext entstehen. China und die USA, Russland und die EU werden über kurz oder lang zu "frenemies" werden, die trotz allen politischen Differenzen in den wirtschaftlichen Feldern verschränkte Interessen haben. Der Krieg in Syrien kann ohne die Kooperation von Russland und den USA nicht beendet, der Islamismus ohne das kleinere Übel des autoritären Russland nicht eingedämmt werden. Schliesslich wird der Westen Russland auch brauchen, um die chinesische Expansion einzuhegen.
Während die USA Hunderte von Milliarden Dollar in die Konflikte des Mittleren Ostens investierten, haben sie sich passiv gegenüber dem Geschehen an ihrer eigenen Grenze verhalten. Hätten die USA – gemäss Robert D. Kaplan – ihre Energie und ihr Geld statt nach Afghanistan und in den Irak in die Entwicklung Mexikos gesteckt und dieses auf dem Weg zur Ersten Welt vorangebracht, wäre keine Mauer vonnöten.
Woher aber soll die Weisheit für eine Neuordnung kommen? Die grösste Chance für eine Kooperation der Grossmächte liegt in den wachsenden Gefahren, denen sie ausgesetzt sind. Sie stehen nicht mehr nur feindlichen Mächten, sondern global agierendem Kapital, asymmetrisch kämpfenden Terroristen, Schleppern, Drogen- und Menschenhändlern gegenüber. Das Rettende kann aber nur wachsen, wenn innergesellschaftlich wie international endlich in offenen Diskursen über die notwendigen Grenzen der Offenheit gerungen wird.
Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Dieser Beitrag erschien zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ).