Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie kommen morgens auf die Arbeit und Ihre Chefin bestellt Sie zu sich. Verwundert betreten Sie ihr Büro. Sie sind sich keiner Schuld bewusst, machen Ihren Job, sind pünktlich, freundlich und haben aus Ihrer Sicht den Eindruck, dass es Ihrer Firma gut geht, Sie sind gerne dort. Also kann das nur heißen, dass Sie eine Beförderung bekommen oder eine Gehaltserhöhung oder beides.
Ihre Chefin sieht Sie streng an, weist Ihnen den Platz auf dem Sessel vor ihrem Schreibtisch zu, faltet die Hände zu einer Raute und sagt: „Ich bin unzufrieden mit Ihnen.“
Sie sind bestürzt! Sie machen Ihren Job, sind pünktlich, freundlich und haben aus Ihrer Sicht den Eindruck, dass es Ihrer Firma gut geht. Und wiederholen sich dabei. Was läuft hier falsch? Also fragen Sie Ihre Chefin: „Ich mache meinen Job, bin pünktlich, freundlich und habe aus meiner Sicht den Eindruck, dass es unserer Firma gut geht. Was ist’s, was Sie unzufrieden mit mir macht, oh Chefin?“ Die Chefin zieht die Augenbrauen zusammen: „Genau da liegt das Problem, Herr Angestellter. Sie sind zu gut. Unsere Auftragslage ist glänzend, die Mehrheit der Belegschaft ist ganz zufrieden und scheint gut und gerne hier zu arbeiten. Das geht so nicht. Unsere Mitbewerberfirmen haben da das Nachsehen und sind neidisch. So etwas wird in unserer Branche nicht gerne gesehen.“
Sie fragen nach: „Aber ist das nicht gut, Chefin?“ „Nein“, antwortet die Chefin barsch, „wenn sich unsere Mitbewerber ärgern, dann werden sie feindselig. Das will ich nicht!“ „Aber Chefin…“, Sie sind ratlos, „ist das dann nicht deren Problem? Müssten die dann nicht sehen, dass sie ihre Läden auf Vorderfrau bringen?“ „Das geht nicht!“, antwortet die Chefin, „die haben in der Vergangenheit zu viele Fehler gemacht, die kriegen das nicht mehr in den Griff!“ Sie fangen an, am Geisteszustand Ihrer Chefin zu zweifeln. „Also müssen wir bestraft werden, weil wir diese Fehler nicht gemacht haben?“, haken Sie nach. „So ist es, jetzt haben Sie es verstanden“, nickt Ihnen die Chefin zufrieden zu. „Aber ich verstehe das trotzdem nicht“, antworten Sie verzweifelt, „der Laden hier läuft bis auf ein paar Kleinigkeiten ganz gut, weil wir uns alle Mühe geben, warum sollen wir bestraft werden?“ Die Chefin sieht Sie streng an und klappt die Raute ihrer Hände auf und zu. „Deswegen bin ich ja auch Chefin und Sie nur Angestellter!“, schließt sie knapp.
„Und was haben Sie jetzt vor?“, wollen Sie wissen. Die Chefin seufzt und schickt einen Blick gen Himmel. „Wir machen Folgendes: Wir stellen zuerst einmal jede Menge ungelernter Arbeiter ein, die weder unsere Sprache sprechen, noch unsere Betriebskultur kennen. Ich habe auch schon mit dem Betriebsarzt gesprochen, er wird diese Neueinstellungen auf Dauer krankschreiben, so dass wir die laufenden Lohnfortzahlungen als Verlust von der Steuer absetzen können. Dann werden wir künftig unsere Produktion so umgestalten, dass die Absatzzahlen zurückgehen, und unsere Hauptartikel werden wir so lange schlecht reden, bis sie niemand mehr kauft, und dann werden wir unsere Produktion komplett stilllegen.“ Sie wirkt begeistert! „Außerdem gestalten wir unsere Firma radikal um. Es gehen sowieso demnächst viele Angestellte in den Ruhestand, denen wir dann eine betriebliche Altersversorgung zahlen müssten. Wenn aber unsere Kassen leer sind, dann müssen wir wahrscheinlich Insolvenz anmelden und dann bekommen die Pensionäre nichts! Im Gegenzug bemalen wir aber die Wände der Hallen und Werkstätten mit hübschen bunten Motiven und legen in den leeren Gebäuden so kleine Springbrunnen und Windräder und blühende Landschaften an. Das sieht gut aus, sorgt für Freude und schützt das Klima. Unsere Mitbewerber freuen sich, dass sie mehr Geschäft machen, wir haben einen 1A-Freizeitpark, alle mögen uns und kommen uns besuchen. Ich schicke sozusagen meine Firma in Rente. So habe ich mir das gedacht.“
„Ich belohne Sie. Mit Utopia.“
Sie sind ob dieser Wahnsinnsidee bass erstaunt und auch verzweifelt. „Aber Chefin“, rufen Sie flehentlich, „wenn Sie die Firma dichtmachen, was wird dann aus den 80 Millionen Angestellten?“ „Da gibt es mehrere Möglichkeiten“, antwortet die Chefin, „ich habe mir das genau überlegt: Entweder die bewerben sich woanders oder sie gehen hier spazieren. Die können sich ja in der Zufahrt das eigene Gemüse anbauen, was wahrscheinlich sogar hübsch aussieht, oder die finden hier neue Stellen, beispielsweise als Gesprächstherapeuten, Trauma-Betreuer, Gleichheitsbeauftragte, Punksänger oder sonstige Kulturschaffende, die für die kurzweilige Unterhaltung aller sorgen, wieder andere werden sicher Bauer oder Hirten, kurz, es darf sich dann jeder so verwirklichen, wie er will, solange er die Umwelt schont.“ Sie spielen Ihren Trumpf aus: „Weiß das der Betriebsrat eigentlich schon? Was sagt der dazu?“ Ihre Chefin grinst: „Der Betriebsrat hat die Pläne ausdrücklich gebilligt, solange sichergestellt ist, dass er Betriebsrat bleibt. Er hat das Ganze sogar mitentwickelt! Das ist alles ganz gut durchdacht!“ Sie springen erregt auf und packen die Chefin am Schlafittchen und schütteln sie durch. „Das ist barer Unsinn, das ist Selbstmord, Sie zerstören alles, was wir hier gemeinsam in 70 Jahren aufgebaut haben! Sie vernichten Existenzen, Sie brennen diese Firma nieder! Ich werde den Werkschutz rufen, damit er Sie in die Klapsmühle bringt!“
Die Chefin lächelt verzückt: „Rufen Sie ihn ruhig. Es wird niemand kommen. Den Werkschutz habe ich abgeschafft. Aber verrückt bin ich nicht. Nein, ich gestalte. Das wollte ich schon immer.“ Dann schaut sie Sie böse an: „Wenn Sie nicht mitmachen wollen, bitte. Ich kann ja niemanden zwingen. Entweder Sie gehen oder Sie fügen sich. Sie haben die Wahl!“ „Aber Chefin… Ich habe immer gearbeitet, war nie krank und habe getan, was von mir erwartet wurde. Warum bestrafen Sie mich und die Kollegen?“
Die Chefin lächelt sanft: „Das tu ich nicht. Ich belohne Sie. Mit Utopia. Das haben Sie sich alle verdient. Ich mache das nicht für mich. Ich mache das für Sie. Seien Sie dankbar. Gemeinsam schaffen wir das. Und jetzt gehen Sie erst einmal Yoga und dann Mittag machen. In der Kantine gibt es heute und in Zukunft halal-vegetarisch. Sollten Sie mal probieren. Ist mal was anderes als ewig Kartoffeln und Schweinebraten! Und achten Sie beim Rausgehen auf Ihren ökologischen Fußabdruck. Der Boden ist nämlich fruchtbar noch!“