Thomas Rietzschel / 06.04.2018 / 17:12 / 7 / Seite ausdrucken

Gesehen, gelesen, gehört, verpasst: Fracksausen im Elfenbeinturm

Bliebe immer alles, wie es ist, gäbe es keine Zukunft. Der Weg dahin wäre verbaut, nicht zuletzt durch die Schuttberge, die der Zerfall des Bestehenden aufhäuft. Die Gesellschaft würde sich bis zur Ermüdung im Kreis drehen, Langweile die Kreativität ersticken. Intellektuelle, vornehmlich bildende Künstler, Schriftsteller und Dichter, hat das zu allen Zeiten auf die Palme gebracht.

Die stilistische Anpassung der Unterwürfigen, der Eifer, mit dem sie die bestehenden Verhältnisse ausschmückten, für den Erhalt ästhetischer Schulen sowie politischer Zustände pinselten und reimten, all das veranlasst die Ungläubigen zur Abspaltung. Sie scheren aus der Rotte aus, in der die Mitläufer den Konsens pflegen. Ende des 19. Jahrhunderts, während des Fin de Siècle, löste sich die „Wiener Secession“ von der akademischen Malerei, dem Historismus. Gustav Klimt und andere waren es leid, die Geschichte auf großflächigen Schinken zu glorifizieren.

Sie hatten die Witterung einer nahenden Zeitenwende aufgenommen, ebenso wie die Naturalisten, die in Skandinavien und Deutschland aufbegehrten, so respektlos, dass dem deutschen Kaiser vor Wut die Stirnadern schwollen. Wenig später folgten ihnen – Künstlern wie Gerhart Hauptmann oder Henrik Ibsen – die Dichter und die Maler des Expressionismus. In Dresden entstand die Künstlervereinigung „Brücke“ mit Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner und Max Pechstein, unter anderem.

Beleidigte Edelwürste

Heute zählen wir sie allesamt zu den Großen der Geistes- und Kulturgeschichte. Seinerzeit indes wurden sie als „Schmierfinken“ beschimpft, der Unfähigkeit und noch Schlimmerem bezichtigt, auch von der eigenen Kollegenschaft, den Kreativen und den Intellektuellen, die es sich unter dem Rock der herrschenden Macht gemütlich eingerichtet hatten.

Der Abschied vom Gewohnten fiel zu allen Zeiten schwer, erst recht, wenn sich die intellektuell künstlerische Akklamation zu einem einträglichen Geschäft entwickelt hatte. So war es, und so ist es heute wieder. Fühlen sich doch die Verzierer des linken Zeitgeistes gerade eben wie vor den Kopf geschlagen, brüskiert von einem Aufruf, „die illegale Masseneinwanderung“ zu stoppen und „die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes“ wieder herzustellen.

Welch ein Affront, schier unfasslich für die geistige Elite von gestern! Ihr Fracksausen intoniert jeden Beitrag, mit dem sie sich von der „Gemeinsamen Erklärung 2018“ distanziert, rüpelhaft oder hochtrabend. „Top-down ist wieder in“, schrieb etwa die Süddeutsche Zeitung. Doch es sind nicht die üblichen Verdächtigten, die Dummbeutel in Springer-Stiefeln, die den Aufruf innerhalb weniger Tage über 90.000 mal unterzeichnet haben, sondern Gebildete aus der „Mitte der Gesellschaft“: Ärzte, Ingenieure, Wissenschaftler, Lehrer, Juristen und – schlimmer noch – Schriftsteller, Publizisten, Schauspieler, bildende Künstler, lauter Bekannte aus den eigenen Reihen.

Wie konnte es passieren?

Was ist da geschehen, wie konnte die Herrschaft über die öffentliche Meinung deren Wortführern so unverhofft entgleiten? Haben sie in ihren Elfenbeintürmen hoch über der schnöden Gewöhnlichkeit wieder einmal die Zeit verschlafen, so, wie die geadelten Hofmaler vorzeiten? Aber wie dem auch sei, es ist im Grunde egal. Mögen die Hofschranzen noch so sehr Zeter und Mordio schreien, die Zukunft gehört denen, die es nach einer Veränderung der feudalistisch geplünderten Demokratie verlangt.

Die „Gemeinsame Erklärung“ ist umso ernster zu nehmen, als es im Laufe der Geschichte schon wiederholt die künstlerische Avantgarde war, die der politischen Entwicklung um einige Nasenlängen voraus war. Wenn jetzt auch Publizisten, Journalisten, Maler und Schauspieler die Faxen dicke haben, dann sollten sich die Höflinge der Politik warm anziehen.

Schon der Untergang der DDR begann mit dem Exodus zahlreicher Künstler nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976. So wenige es unter dem Strich auch gewesen sein mögen, um die Autorität der Staatsgläubigen war es danach geschehen.

Ein Menetekel für Durs Grünbein, Juli Zeh, Ernst Elitz et alii.

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Leserpost

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Walter Mey / 06.04.2018

Gott steh uns bei, wenn der Merkel-Zauber noch so lange weitergeht, wie es damals nach Biermann gedauert hat. Ansonsten ganz bei Ihnen.

Ingo Schöler / 06.04.2018

Was sie dabei vergessen, den letztendlichen Umbruch bei solchen Prozessen bewirkt immer die schiere Masse von Leuten auch wenn ein paar weitsichtige vorangehen.

Dirk Jungnickel / 06.04.2018

In den vergangenen Jahrhunderten waren die Herrschenden schlauer als die Größen unserer Zeit. Sie hielten sich Hofnarren. Sie waren Opposition,  Journaille und Satiriker in einem. Sie tänzelten um die Throne und sorgten dafür, dass auch debile Herrscher nicht allzu viel Schaden anrichteten.  Auch Absolutismus hatte sein Regulativ, gewissermaßen. Heute sind die politischen Strömungen unübersehbar, sie heben sich oft teilweise gegeneinander auf und brausen als Orkänchen über die politischen Pfützen. Dann geschieht das Wetterphänomen: Zwei inhaltsreiche und gleichzeitig   harmlos Sätze verbannen die Eliten in der Orkus der Gestrigen. Dort hocken sie nun mit Heulen und Zähneklappern - hoffentlich noch eine ganze Weile.

Karla Kuhn / 06.04.2018

“Welch ein Affront, schier unfasslich für die geistige Elite von gestern! ” Von gestern, JA aber “geistige Elite ??” Wollen Sie damit andeuten, daß sie eine Gruppe von überdurchschnittlich qualifizierter Personen sein sollen ?? Ich habe selten so gelacht. “...dann sollten sich die Höflinge der Politik warm anziehen.”  Warum warm anziehen, wäre da Hals wenden nicht viel einfacher ?? “Ein Menetekel für Durs Grünbein, Juli Zeh, Ernst Elitz et alii.”  Wer weiß ?  Nach dem Mauerfall waren einige “überzeugte Kommunisten” die ersten im Westen. So etwas nennt man “Loyalität.”

Bärbel Schneider / 06.04.2018

Interessant ist es, die Unterzeichnerliste der Gegenerklärung (“Unsere Antwort für Demokratie und Menschenrechte”) durchzusehen. Kommentare verkneife ich mir lieber. Angaben zu der Zahl der Unterschriften finde ich nicht, warum wohl? Die Lagerbildung wird sich weiter fortsetzen, und es besteht überhaupt kein Zweifel darüber, auf welcher Seite mehr und die besseren Bürger stehen. Die Zeit der ewiggestrigen Linksgrünen ist vorbei. Sie wissen es nur noch nicht. Aber viele ahnen es schon.

Mark Schild / 06.04.2018

Das entscheidende Problem ist, dass wir nur eine parlamentarische, also repräsentative Demokratie haben. Aus guten Gründen spricht sich die Bevölkerung mehrheitlich für eine direkte Demokratie aus. Dann wären uns viele unerträgliche Entwicklungen erspart geblieben. Ohne Verschwörungstheorien bedienen zu wollen, aber Demokratie wird doch nur simuliert und mächtige Kräfte, die weder rechtlich noch moralisch legitimiert sind, werden dafür sorgen, dass dies so bleibt.

Winfried Sautter / 06.04.2018

Stultum facit fortuna, quem vult perdere (Das Schickal schlägt die mit Dummheit, die es verderben will).

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