Thilo Sarrazin / 19.05.2022 / 06:00 / Foto: Achgut.com / 110 / Seite ausdrucken

Der Weg in die Appeasement-Falle

Deutsche Intellektuelle meinen, die Ukraine solle sich in die Eroberung durch Russland und die Vernichtung ihrer Eigenstaatlichkeit fügen, um den Russen keinen Anreiz zu geben, Atomwaffen einzusetzen. Abwegiger könnte eine Idee nicht sein.

Vor kurzem überraschte ein Kreis von Intellektuellen um Alice Schwarzer, zu denen auch renommierte Namen wie Alexander Kluge, Martin Walser und Juli Zeh gehören, mit einem offenen Brief an Bundeskanzler Scholz. Im Kern wurde darin argumentiert, weil dem von Putin beherrschten Russland der Einsatz von Atomwaffen zuzutrauen sei, solle der Westen es mit der Unterstützung der Ukraine durch Waffenlieferungen nicht übertreiben, und der Ukraine wurde angeraten, nicht zu viel Widerstand gegen den russischen Angreifer zu leisten, um die eigenen Opferzahlen zu begrenzen.

Kurzum, die Ukraine solle sich in die Eroberung durch Russland und die Vernichtung ihrer Eigenstaatlichkeit fügen, um den Russen keinen Anreiz zu geben, Atomwaffen einzusetzen. Die Unterzeichner sind also bereit, die Ukraine zu opfern, um die russischen Machthaber nicht zu reizen. So wollen sie den Frieden in Europa sichern. Oskar Lafontaine stieß mit einem Beitrag in der „Weltwoche“ in dasselbe Horn.

Das Denkmuster ist bekannt: Um den Frieden in Europa zu sichern und einen erneuten Weltkrieg zu verhindern, stimmten Chamberlain und Daladier im September 1938 der Annexion des Sudentenlands durch das Deutsche Reich zu. Das ermutigte Hitler ein Jahr später zum Überfall auf Polen, und so begann der Zweite Weltkrieg.

Geschichte wiederholt sich zwar nicht, aber sie reimt sich

Hitler war bei seinen Plänen, den Osten zu erobern, durch Verträge und Zugeständnisse westlicher Friedensfreunde nicht zu bremsen. Daladier, Chamberlain und ihre Berater lasen seine Psyche grundlegend falsch.

Geschichte wiederholt sich zwar nicht, aber sie reimt sich doch. Heute befürchte ich, dass Alice Schwarzer, Oskar Lafontaine und ihre intellektuellen Friedensfreunde in eine vergleichbare Appeasement-Falle laufen.

Wenn Putin ein rationaler Akteur ist, müsste er auch für einen „Kompromiss“ in der Ukraine zugänglich sein. Das ist aber nicht erkennbar. Nach der Kette der von ihm verantworteten vorhergehenden Vertragsbrüche scheidet er als ausreichend zuverlässiger und seriöser Vertragspartner aus. Das rationale Kriegsziel der Ukraine kann vor diesem Hintergrund nur sein, die militärischen Kräfte Russlands soweit zu schwächen, dass eine erneute Aggression nicht möglich ist. Dabei scheint die Ukraine auf gutem Wege zu sein. Wenn sie noch einige Wochen durchhält, werden ihre besser motivierten und besser geführten Soldaten auch über die besseren Waffen verfügen.

Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass Putin und die engere Führung um ihn herum in Bezug auf die Ukraine schon seit geraumer Zeit nicht zu den rationalen Akteuren zählen. Zu den Indizien zählt die absurde Begründung für den Überfall, es gelte, einen „Genozid“ zu verhindern; dazu zählt auch die Behauptung, die Ukraine werde von „Nazis“ beherrscht, die es zu vernichten gelte. Und dazu zählt der Antisemitismus, den kürzlich der russische Außenminister Lawrow zu erkennen gab, indem er den ukrainischen Präidenten Selenskyj trotz dessen jüdischer Abstammung zu den Antisemiten zählte und im selben Atemzug Hitler jüdische Vorfahren unterschob. Hier zeigen sich in der russischen Führung äußerst krause, wahnhafte Weltbilder.

Ein sinnloser Kompromiss

Wenn Putin aber nicht rational agiert, wenn die Einverleibung und Vernichtung der Ukraine als selbstständiger Staat das alles beherrschende Ziel ist, dann ist es sinnlos, einen „Kompromiss“ anzustreben, dann kann das rationale Ziel des ukrainischen Verteidigungskrieges nur die vollständige Befreiung des ukrainischen Territoriums in den Grenzen, wie sie zur Auflösung der Sowjetunion bestanden, von der russischen Okkupation sein. In einem Krieg ist die Grenzziehung zwischen „schweren“ und „anderen“ Waffen sinnlos. Auch ist die Rückgewinnung des vom Feind besetzten eigenen Gebietes immer nur durch regionale Angriffshandlungen möglich.

Wenn Putin vor diesem Hintergrund wahnhaft genug ist, auf den roten Knopf zu drücken, so wird ihn nur seine engste Umgebung daran hindern können. Der Westen darf sich durch vage russische Drohungen mit der nuklearen Option keineswegs einschüchtern lassen, denn für die Wirksamkeit solcher Drohungen gibt es keine logische oder psychologische Grenze, wenn man einmal dem Erpressungspotenzial innerlich nachgegeben hat: Tallinn, Warschau, Prag, Berlin – wo ist die Grenze für russische atomare Erpressungen, wenn man sich einmal auf sie eingelassen hat?

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.

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Jochen Lindt / 19.05.2022

So einfach ist es nicht. Die russ. Minderheit wurde unterdrückt und rechtlos gemacht wo es nur ging, zum Schluss wurde den Russen in der Ukraine die eigene Sprache verboten. Um Konflikte zu vermeiden, besser zu vertuschen, wurde von den unfähigsten Politikern Europas das “Minsker Abkommen” ausgehandelt. Aber was sollen Politiker wie U.v.d.Leyen schon hinkriegen? Richtig: Nichts. Sobald der EU-Emissär den Raum verlassen hatte, ging die Unterdrückung munter weiter. Das von einem Regime, das den größten Gasraub der Geschichte zu verantworten hat. Momentan drehen sie Deutschland gerade den Gashahn ab, sie können nicht anders. Erpresser sind eben immer Erpresser und nicht nur manchmal. Die “freie” Ukraine wird ein Kriminellenparadies wie Kosovo.

Michael Heller / 19.05.2022

Russland hat klipp und klar formuliert, was die Bedingungen und das Ziel für diese Operation sind. Und diese Bedingungen sind absolut erfüllbar, es gibt keinen Grund für uns, deswegen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Selbstmord zu begehen, wie wir es gerade einmal wieder bereit sind, zu tun. Nicht wegen eines Failed State, der für die Amerikaner einen Stellvertreterkrieg mitten in Europa führt. Kluge und unabhängige Politiker hatten das längst erkannt, wir haben weder das eine noch das andere.

Michael Hufnagel / 19.05.2022

Danke! Stimme vollumfänglich zu!

Rolf Mainz / 19.05.2022

Hier wird die Historie falsch ausgelegt: wer sagt denn, dass Hitler den Krieg nicht begonnen hätte, wenn Chamberlain und Daladier der Annexion des Sudetenlandes nicht zugestimmt hätten? Er wäre dann vielleicht anders vorgegangen, aber es ist nicht davon auszugehen, dass er sich letztlich hätte bremsen lassen. Zweiter Fehler: Waffenlieferungen an die Ukraine auszuschliessen bedeutet nicht, das Vorgehen Russlands gutzuheissen. Es gibt andere Wege, dies Russland mitzuteilen. Und es gibt immer noch das beste Mittel: Verhandlung. Dass die Ukraine - mit wieviel Unterstützung aus dem Westen auch immer - einen Krieg gegen Russland nicht gewinnen kann, dürfte klar sein, auch wenn Teile der westlichen Presse dies suggerieren mögen. Je länger sich der Konflikt hinzieht, desto grösser die materiellen Schäden und vor allem das menschlichen Leid. Am Ende wird sowieso besagte Verhandlung stehen müssen, also so bald wie möglich ernsthaft(!) damit beginnen. Der Westen (die USA) will die NATO bis vor Russlands Grenze ausbauen - dies wird für Russland inakzeptabel sein. Wie es für die USA genauso inakzeptabel wäre, wenn Mexiko oder Kanada in ein prorussisches Militärbündnis eintreten wollten. Aber womöglich wäre ein Kompromiss möglich (und dafür braucht es keine Waffenlieferungen, im Gegenteil): die EU nähme die Ukraine auf (ebenfalls ein Ziel des Westens, womöglich auch ein Treiber des Konfliktes sogar), aber ohne NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Beide Seiten könnten dann ohne Gesichtsverlust aus dem Konflikt gehen. Wenn denn nicht noch andere “Hidden Agendas” (drüben wie vor allem hüben) eine Rolle spielen sollten… Was ich übrigens persönlich von einem EU-Beitritt der Ukraine hielte, sei dahingestellt, anderes Thema…

Johannes Goldmann / 19.05.2022

Sehr geehrter Herr Sarrazin, in den letzten Jahren haben Sie sehr erfolgreich die Lebenslügen unserer politischen Klasse durchschaut und publizistisch aufgearbeitet. Ich empfehle Ihnen, auch in Sachen Ukrainekrieg unvoreingenommen vorzugehen. Allein das Wort “Appeasement” legt nahe, dass Sie das nicht tun. Anders als das Deutschland der 30er Jahre hat das heutige Russland weder die demographischen, militärischen, technologischen, noch die wirtschaftlichen Möglichkeiten einen größeren Krieg zu führen. Die nuklearen Möglichkeiten hat es allerdings schon. Deswegen braucht Europa eine diplomatische Einigung mit Russland und keine weitere Eskalation.

Edgar Jaeger / 19.05.2022

Appropos Antisemitismus; wann haben die Appeasementpolitker die Hamas PLO u.a. dazu aufgerufen, das sie sich ergeben und auf Ihre Staatlichkeit verzichten. Im Gegensatz zu den Ukrainern haben die Palästinemser keinen funktionierenden Staat bilden können obwohl die Israelis ihnen alle Chancen gaben.

robert schleif / 19.05.2022

Immer diese schiefen propagandistischen Vergleiche! Das Appeasement hat dafür funktioniert, wofür es gemacht war: Kein Weltkrieg wegen der Sudeten. Man hatte wohl auch ein schlechtes Gewissen. Das Appeasement war also nur retrospektiv kontraproduktiv. Sollte man das aber zu diesem Zeitpunkt wissen? Und ist daraus ein für die Zukunft geltendes Naturgesetz geworden? Und soll nun gar nicht mehr verhandelt, sondern gleich geschossen werden?

Egon Schieler / 19.05.2022

Bisher wurden sämtliche Verträge einseitig von den USA aufgekündigt. Mit dem NATO Beitritt der beiden skandinavischen Ländern wird die wiederholte Zündelei US-amerikanischer Bauart fortgesetzt. Den roten Knopf betätigen braucht Putin nicht. Er besitzt ausreichend konventionelles Kriegsgerät (TOS-1A) um die Ukraine in einen riesigen Kolchosenacker umzupflügen.

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