Falls Sie sich je gefragt haben, liebe Lesende und Leidende, warum angesichts der Impf- und Umweltbeschlüsse von Regierung und Bundesverfassungsgericht die Bürger nicht massenweise auf die Straße gehen und für ihre Grundrechte demonstrieren – hier ist die bittere und profane Antwort: weil es nicht um den Kaffeebecher geht.
Ich erinnere mich an den ersten Arbeitstag nach der Bundeswehr im Hause einer renommierten Versicherung in Frankfurt (…und nein, wenn Sie glaubten, „Stromberg“ sei Satire gewesen – war es nicht!), als ich, vorsichtig den Kaffeebecher balancierend, vor einem der ersten Personalcomputer Platz nahm. Mein neuer Arbeitskollege, ein alter erfahrener Innendienstmitarbeiter und so motiviert wie ein Grenzbeamter an der deutsch-dänischen Grenze, begrüßte mich mit dem Satz: „Drücken Sie nicht STRG-ALT-ENTF, sonst bricht das komplette System zusammen“. Und seitdem kreisten meine Gedanken sechs Monate um diese drei Tasten… Der zweite Satz, den ich an diesem Tag hörte, war der Satz: „Wo ist mein Kaffeebecher?“ Dieser kam von einer mir ebenfalls neuen Kollegin aus der Küche. Ich registrierte den Satz nur unbewusst, weil mir ja völlig egal war, wo ihr Kaffeebecher war. Aber nicht lange. Der Kopf einer üppig bestückten Mittdreißigerin ragte kurz durch die Bürotür und dann kam der Schlachtruf: „WAS MACHEN SIE MIT MEINER KAFFEETASSE?“
Nun, ich hatte mir in meinem jugendlichen Leichtsinn einfach irgendeinen Becher aus dem Küchenschrank über der Kaffeemaschine geholt, es standen ja genug drin. Ich hatte auch überhaupt nicht darauf geachtet, was es für ein Becher war, zumal es sich um einen schlichten hellblauen Becher unter vielen anderen schlichten farbigen Bechern gehandelt hatte. Wie hätte ich darauf kommen sollen, dass eine blaue Tasse bei einer Versicherung mit blauem Logo in irgendeiner Weise Privateigentum sein könnte? Und wer geht ins Büro und nimmt da seinen eigenen Becher mit? Mein neuer alter Kollege, der mir gegenübersaß, reckte den Kopf über den Bildschirm: „Das ist ja eine Unverschämtheit. Haben Ihnen Ihre Eltern nicht beigebracht, dass man fremdes Eigentum nicht einfach nutzt?“ Kurz war ich versucht, zu glauben, dass die beiden mich, den Neuen, einfach auf den Arm nähmen, aber die finsteren, leicht schäumenden Mienen verrieten mir, dass das hier kein Spaß war. Ich war so erschrocken, dass ich meine Eltern nicht verteidigen konnte, erst recht nicht, weil sie mir nie vermittelt hatten, dass das Benutzen mir fremder blauer Becher in Küchenschränken der Risikoprüfungsabteilungen von drögen Versicherungen ein Sakrileg in der Nähe der Kinderschändung bedeutete. Ich war erschrocken und entsetzt und spielte kurz mit dem Gedanken, STRG-ALT-ENTF zu drücken und mein restliches Leben als Musiker zu fristen.
Es war mein erster Tag und ich hatte keine 10 Minuten noch nicht gearbeitet und mich schon unbeliebt gemacht. Der Abteilungsleiter kam den Gang entlang, meinte „Guten Morgen“ und dann gleich „Guten Morgen, Herr Schneider, schön, dass Sie da sind“ und dann: „Haben Sie Ihren Platz schon eingerichtet?“, und statt meiner antwortete die Blondine giftig: „Hat er. Mit meiner Kaffeetasse!“ Da saß ich nun: Ausgebildeter Versicherungskaufmann mit leidlich gutem Abschluss und mutmaßlich mehr Fachkenntnis als die beiden Kaffeetassenbesitzer zusammen und fühlte mich wie Ursula von der Leyen bei Erdogan. Alleine und verletzt. In meiner Not tat ich das, was wohl jeder, der sich integrieren will, tut: Ich bat reumütig um Entschuldigung und Verzeihung. Ich gab offen zu, dass mir das Prinzip des individuellen Eigentums an einer in Gesellschaft weiterer farbiger Becher stehenden Kaffeetasse nicht geläufig gewesen ist und ich es nicht besser gewusst habe und dass ich die Tasse gerne spülen würde und Blondie zurückgeben würde und sie mir doch bitte erklären solle, welche Tassen ich benutzen dürfe und welche Tassen exklusive und individuelle Trinkgefäße der Kollegen wären, damit mir dies nicht einst erneut widerführe. Das stimmte die Eva Braun der Kaffeetassen milde und sie klärte mich über die grundbuchamtlich verbrieften Rechte an den einzelnen Tassen auf.
In der Mittagspause ging ich dann auf die Zeil und kaufte mir einen Becher mit „Depeche Mode“-Logo, die ich danach stolz den neuen Kollegen zeigte, natürlich mit dem Hinweis versehen, dass dies die exklusive „Thilo-Schneider-Tasse“ ist, aus der nur ich trinken darf. Damit war dann der Betriebsfrieden wiederhergestellt. An diesem Tag starb übrigens Franz-Josef Strauß. Was niemanden interessierte. Kaffeebecher waren wichtig.
Ich habe diese Affinität zur eigenen Tasse und zum Thema „Das haben wir immer schon so gemacht“ in einigen Firmen, sei es als Kunde, als Coach oder als Vorgesetzter, immer wieder erleben dürfen. Plausibel war mir das nie, denn die gleichen Leute, die in Hotels, Gaststätten und Buffets aus jedem x-beliebigen Glas und jedem x-beliebigen Becher trinken, werden an ihren Arbeitsplätzen zu Tassennazis. Ich weiß nicht, wie es in anderen Ländern ist – ich vermute jedoch, es handelt sich hierbei um eine deutsche Eigenart. Solange die eigene Kaffeetasse im Küchenschrank steht, ist alles andere nebensächlich. Und daher wird es hier erst eine Revolution geben, wenn der Individualbesitz von Kaffeebechern sozialisiert wird. Bis dahin kann durchregiert werden, egal von wem. Und ich vermute so ein wenig, dass Egon Krenz im Politbüro am Morgen des 9. November versehentlich aus der Tasse von Günter Schabowski getrunken hat. Solange dieses Volk noch alle Tassen im Schrank hat, macht es alles mit.
(Weitere beschriftete Tassen des Autors unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist soeben in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.