Ich lebe in Neuseeland und es ist seltsam für mich, in diesen Tagen über Deutschland zu schreiben, denn ich erkenne das Land, in dem ich geboren wurde und das ich vor 20 Jahren verlassen habe, kaum wieder.
Im November letzten Jahres zerbrach die Ampelkoalition in Deutschland, und für Februar wurden vorgezogene Neuwahlen angesetzt. Ich meldete mich pflichtbewusst als im Ausland lebender Deutscher zur Wahl an. Nach dem vorgeschriebenen Verfahren wandte ich mich an die Stadtverwaltung des letzten Ortes, an dem ich vor meiner Auswanderung vor einundzwanzig Jahren gelebt hatte. Deutschland erlaubt seinen Bürgern, fünfundzwanzig Jahre nach ihrer Auswanderung zu wählen, also bin ich immer noch wahlberechtigt – wenn auch nur knapp.
Obwohl meine Anmeldung schon Monate vor der Wahl einging, erhielt ich meine Wahlunterlagen erst am Samstag, den 22. Februar – genau einen Tag vor der Wahl. Der Poststempel zeigt, dass sie am 10. Februar aus Deutschland verschickt wurden.
Wäre deutsche Effizienz nicht zu einem Oxymoron geworden, hätten sie vielleicht bedenken können, dass die Post nach Neuseeland für eine Hin- und Rückreise mindestens vier Wochen braucht – knapp zwei Wochen, um mich zu erreichen, und zwei weitere für den Rückweg. Nach deutschem Recht müssen die Briefwahlunterlagen am Wahltag bis 18 Uhr im örtlichen Wahlbüro eintreffen – aus diesem Teil der Welt ein Ding der Unmöglichkeit, wenn sie so spät verschickt werden.
Da wir in Deutschland sind, hätte ich natürlich auch nicht elektronisch wählen können – nicht einmal per Fax, das es im bürokratischen Deutschland aufgrund einer technischen Zeitumstellung immer noch gibt. Ich hätte auch nicht in der deutschen Botschaft wählen können. In der Tat können das nicht einmal deutsche Diplomaten. Der deutsche Botschafter im Vereinigten Königreich, Miguel Berger, schrieb in den sozialen Medien, dass seine Stimmzettel nie in London angekommen seien. Zehntausende Deutsche im Ausland waren mit der gleichen Situation konfrontiert.
Es reichte kaum für eine parlamentarische Mehrheit
Der deutsche Wahlprozess ist symptomatisch für das ganze Land: Nichts funktioniert so, wie es sollte. Trotzdem hat die Wahl wie durch ein Wunder ein Ergebnis gebracht. Der Vorsitzende der Christdemokraten, Friedrich Merz, wird wahrscheinlich Bundeskanzler werden. In diesem Fall wird er eine Koalition aus seiner Christlich-Demokratischen Union (CDU und ihrer bayerischen Schwesterpartei CSU) und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) anführen.
Seit ihrer Gründung in den späten 1940er Jahren haben CDU und SPD die Politik dominiert, zunächst in Westdeutschland und dann in der wiedervereinigten Bundesrepublik. So kamen CDU/CSU und SPD bei der Bundestagswahl 1980 zusammen auf 87 Prozent der Stimmen. Ein Bündnis zwischen diesen Parteien hätte man früher als „Große Koalition“ bezeichnet. Doch davon ist nichts mehr zu spüren.
Bei der Wahl im Februar erhielt die CDU/CSU nur 28,5 Prozent der Stimmen, die SPD nur 16,4. Ihre gemeinsamen 45 Prozent reichen kaum für eine parlamentarische Mehrheit. Sie wurde nur erreicht, weil etwa 15 Prozent der Stimmen an Parteien gingen, die an der 5-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament scheiterten. Das ist weit entfernt von den Zeiten, in denen diese Parteien bis zu 90 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnten.
Aus der Ferne kann ich den Niedergang manchmal kaum glauben
Es ist seltsam für mich, in diesen Tagen über Deutschland zu schreiben, denn ich erkenne das Land, in dem ich geboren wurde, kaum wieder. Als jemand, der 1975 geboren wurde, habe ich den Niedergang Deutschlands aus erster Hand miterlebt. Ich bin in einem wohlhabenden Westdeutschland aufgewachsen, das sein „Wirtschaftswunder“ bereits hinter sich hatte, aber immer noch ein Vorbild an Effizienz war. Ich war vierzehn, als die Berliner Mauer fiel, und fünfzehn, als die Wiedervereinigung Deutschland wieder zusammenfügte.
Als ich 2004, in den letzten Jahren der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder, Deutschland verließ, befand sich das Land in einer schweren Wirtschaftskrise. Seitdem beobachte ich das Geschehen aus dem Ausland – zunächst aus London, dann aus Sydney und jetzt aus Wellington. Ich habe immer noch mehrere Online-Zeitungsabonnements aus Deutschland, höre deutsche Podcasts und halte Kontakt zu Freunden und Familie. Aus der Ferne kann ich den Niedergang manchmal kaum glauben, aber jedes Mal, wenn ich zu Besuch bin, trifft es mich. Es ist eine Sache, darüber zu lesen und zu hören, aber in Deutschland kann man es heutzutage überall sehen. Nehmen Sie einfach einen Zug. Oder gehen Sie durch die einstmals prestigeträchtigen innerstädtischen Einkaufsstraßen. Ganz zu schweigen von einem Blick auf die Toiletten einer normalen staatlichen Schule. Die Zeichen des Niedergangs und des Verfalls sind überall zu sehen.
Es ist schwer zu beantworten, wenn man mich fragt, was mit Deutschland passiert ist oder was schiefgelaufen ist. Das liegt aber nur daran, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Das Land hat sich in so vielen verschiedenen Bereichen in die falsche Richtung entwickelt – und das alles auf einen Schlag.
Nicht ein einziges Problem
War es Deutschlands Feindseligkeit gegenüber dem technologischen Wandel? Die überbordende Bürokratie? Seine korporatistischen Industriestrukturen? Sein halbstaatlich kontrolliertes Bankensystem? Seine naive Flüchtlingspolitik? Die mangelnden Infrastrukturinvestitionen? Seine verrückte Energiepolitik, die es von russischen Energieimporten abhängig gemacht hat? Seine Trittbrettfahrerei bei der amerikanischen Verteidigung und die Vernachlässigung seiner eigenen Streitkräfte? Seine manchmal arrogante Außenpolitik gegenüber seinen Nachbarn? Seine Konzentration auf Exporte nach China?
In Wahrheit war es all das – nicht ein einziges Problem, sondern zahlreiche Fehler, Ereignisse und systematische Irrtümer. Diese Kombination stellt eine enorme Herausforderung für die nächste Regierung dar. Da viele dieser Probleme miteinander verbunden sind, können sie nicht isoliert reformiert werden.
Am deutlichsten wird der Niedergang der einst so stolzen Infrastruktur in Deutschland. Die Deutsche Bahn war einst für ihre Präzision bekannt. Sie hatte sogar einen Werbeslogan „Alle reden vom Wetter. Wir nicht.“ Heutzutage kommen die Züge regelmäßig zu spät (bei Regen, Hagel oder Sonnenschein), wenn sie überhaupt noch ankommen. Als die Regierung während der Energiekrise versuchte, die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs mit 9-Euro-Monatskarten zu fördern, brachte die zusätzliche Nachfrage ein bereits überlastetes System zum Zusammenbruch.
Energiekosten sind in die Höhe geschossen
Die wirtschaftlichen Indikatoren sind ebenso alarmierend. Die gepriesene Autoindustrie, in der jeder siebte Deutsche direkt oder indirekt beschäftigt ist, hat die Revolution der Elektrofahrzeuge nicht vorausgesehen. Jetzt müssen die deutschen Autobauer mit Tesla und den chinesischen Herstellern mithalten. In der Zwischenzeit baut der Chemieriese BASF seine deutschen Standorte ab, BMW verlagert die Produktion nach Osten und ThyssenKrupp kämpft um seine Wettbewerbsfähigkeit. Dies sind nur einige große und offensichtliche Unternehmen. Unternehmensschließungen und Verlagerungen ins Ausland finden überall in Deutschland statt.
Die Energiekosten sind im Vergleich zu den europäischen Nachbarn in die Höhe geschossen – das Ergebnis politischer Entscheidungen, die mit guten Absichten, aber katastrophalen Folgen getroffen wurden. Nach Fukushima stieg Bundeskanzlerin Angela Merkel abrupt aus der Kernenergie aus, und zwar nicht aufgrund strategischer Überlegungen, sondern weil Umfragen vor einigen Landtagswahlen Angst in der Bevölkerung zeigten. Dies erhöhte die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas, aber der Umweltidealismus siegte über die Energiesicherheit und den wirtschaftlichen Pragmatismus.
Diese Entwicklungen fanden nicht in einem politischen Vakuum statt. Als ich Deutschland während Schröders Kanzlerschaft verließ, führte die Regierung gerade schmerzhafte, aber notwendige Arbeitsmarktreformen durch, die später die Wirtschaft wiederbeleben sollten. Schröder zahlte den politischen Preis für diese Reformen, legte aber den Grundstein für den darauf folgenden Wohlstand. Was Deutschland als nächstes brauchte, war eine Führungspersönlichkeit, die auf diesem Rahmen mit einer strategischen Vision aufbaute.
Merkels Erbe
Stattdessen bekam es Merkel. Ihre sechzehn Jahre an der Macht waren durch taktisches Abdriften gekennzeichnet – stark in tagespolitischen Manövern, aber ohne strategisches Denken, um sie zu steuern. Ihre kürzlich erschienenen 720-seitigen Memoiren offenbaren, dass Merkel nie einen langfristigen Plan für irgendetwas hatte. Es ging nur um Prozesse, nicht um Strategien. Merkel rückte ihre CDU bei jedem wichtigen Thema nach links – von der Atomkraft bis zur Migration – und schuf so Raum für populistische Herausforderer von rechts wie die Alternative für Deutschland (AfD).
Wenn sie mit Krisen konfrontiert wurde, war Merkels Ansatz immer, schwierige Entscheidungen zu verschieben. Ihre Russlandpolitik, trotz ihrer Behauptung, sie habe „nie Illusionen über Putin gehabt“, machte Deutschland strategisch verwundbar – und Deutschlands osteuropäische Nachbarn wütend. Ihre einseitige Entscheidung, 2015 mehr als eine Million Flüchtlinge aufzunehmen, hat Integrationsprobleme geschaffen, deren Lösung Generationen dauern wird.
Dennoch wählten die Deutschen sie viermal, und sie blieb beliebt, als sie aus dem Amt schied. Kein Wunder, dass ihr Nachfolger Olaf Scholz als Merkels natürlicher Erbe angepriesen wurde – ein weiterer zuverlässiger, beständiger Staatschef, der ohne Drama auskommen würde.
Tiefgreifende geopolitische Folgen
Die Realität sah anders aus. Seine „Ampel“-Koalition sollte Parteien vereinen, die ideologisch meilenweit voneinander entfernt waren: Sozialdemokraten (rot), die bei den Ausgaben nach links ziehen, Grüne (grün), die auf Klimamaßnahmen drängen und Liberale (gelb), die Haushaltsdisziplin fordern. Solche Spaltungen hätten eine außergewöhnliche Führung erfordert, um Kohärenz zu schaffen. Scholz war nicht einmal in der Lage, eine grundlegende Kommunikation zwischen seinen Koalitionspartnern herzustellen.
Wie Merkel vor ihm führte Scholz selten, sondern wartete darauf, dass die Umstände für ihn Entscheidungen trafen. Als Russland in die Ukraine einmarschierte, zögerte er monatelang, Panzer zu schicken, bis die USA versprachen, dies ebenfalls zu tun. Macht nichts, er hatte eine Zeitenwende versprochen. Schön wär's. Als seine Koalition zerbrach, waren Scholz' Zustimmungswerte auf den niedrigsten Stand gefallen, den ein amtierender Bundeskanzler je hatte.
Diese internen Versäumnisse hatten tiefgreifende geopolitische Folgen. Die Beziehungen Deutschlands zu Frankreich und Polen haben sich auf den tiefsten Stand der Nachkriegszeit verschlechtert. In der NATO ist Deutschland als unzuverlässiger Verbündeter bekannt geworden, da es trotz wiederholter Zusagen das Ziel von zwei Prozent des BIP für Verteidigungsausgaben nicht erreicht. Die Bundeswehr – einst eine beeindruckende Streitmacht des Kalten Krieges – ist so heruntergekommen, dass deutsche Soldaten bei einer NATO-Übung aufgrund von Ausrüstungsmängeln mit Besenstielen statt mit Gewehrläufen trainierten.
Deutschlands Weg als abschreckendes Beispiel
Friedrich Merz tritt das Erbe dieses perfekten Sturms an Herausforderungen an. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern spricht er zumindest die Probleme Deutschlands offen an, anstatt sie in Bürokratie zu verstecken. Doch Merz wird nicht freie Hand haben. Die Mathematik der Koalitionsbildung in einem zersplitterten Parlament und mit dem Status der AfD als Paria der deutschen Politik bedeutet, dass er mit den Sozialdemokraten regieren muss, die sich einem vollständigen Bruch mit der vergangenen Politik widersetzen werden.
Er könnte zwar eine härtere Migrationspolitik und eine robustere Verteidigungspolitik durchsetzen, doch die tiefgreifende Fäulnis in der deutschen Politik – von der bröckelnden Infrastruktur bis hin zur bürokratischen Sklerose – erfordert grundlegendere Reformen, als sie jede Koalition wahrscheinlich durchführen wird. Die Kombination von Merkels sechzehn Jahren und Scholz' drei Jahren hat Probleme hinterlassen, die zu tief sind, um sie schnell zu lösen. Das ist der Preis, den Deutschland für zu viele Jahre einer Politik ohne Führung zahlen muss.
Ich kann nicht anders, als Deutschlands Weg als abschreckendes Beispiel für andere westliche Demokratien zu sehen. Es ist das, was passiert, wenn Nationen kurzfristiges politisches Management über langfristige Visionen stellen, selbstgefällig über ihre Errungenschaften werden und zulassen, dass ihre Kerninfrastruktur, ihre Sicherheit und ihre wirtschaftlichen Strukturen verfallen.
Ich frage mich, ob ich das Land, in dem ich geboren wurde, jemals wieder als das Deutschland erkennen werde, das ich kannte.
Dr. Oliver Marc Hartwich, geboren 1975 in Gelsenkirchen, ist seit 2012 geschäftsführender Direktor der New Zealand Initiative in Wellington, der windigsten Hauptstadt der Welt. Die Initiative ist ein Verband neuseeländischer Unternehmen und die führende Denkfabrik des Landes. Dieser Beitrag erschien zuerst auf seiner Website.