Erfreuliche Nachrichten erreichen uns dieser Tage aus der arabischen Welt: der tunesische Präsident Zine-el-Abdine Ben Ali musste sich nach 24 Jahren Herrschaft dem Druck der Straße beugen und zurücktreten. Während der tunesische Umsturz in den westlichen Medien breite Beachtung fand, ist ein anderes, ebenso erfreuliches Ereignis beinahe unbeachtet geblieben: am 7. Januar, dem Tag des koptischen Weihnachtsfests, versammelten sich hunderte ägyptische Muslime vor den Kirchen ihrer christlichen Landsleute. Sie wollten damit gegen die Diskriminierung der Kopten demonstrieren und sich gegebenenfalls selbst zu menschlichen Schutzschilden machen, sollte es Angriffe auf die christlichen Gläubigen geben.
Der ägyptische Präsident Hosni Mubarak ist noch länger im Amt als sein tunesischer Amtskollege: seit nunmehr drei Jahrzehnten. Demnächst wird er wohl versuchen, seinen Sohn als Nachfolger zu installieren. Beide Herrscher sind in der arabischen Welt kein Einzelfall. Dass sich diese „Kukident-Despoten“ („Die Presse“) bis ins hohe Greisenalter an der Macht halten können, muss einen westlichen Betrachter verwundern: warum ist es etwa in Tunesien nicht viel früher zu einem Aufstand gekommen, vor allem aber: warum begehrt das Volk in den meisten arabischen Staaten überhaupt nicht auf? Ist es nicht für jeden Betrachter offensichtlich, dass die Potentaten zwischen Rabat und Damaskus unfähig und korrupt sind und sich um die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ihrer Länder keinen Deut scheren?
Der politische „Erfolg“ von Staatschefs wie Ben Ali, Mubarak oder auch des Syrers Assad hängt sicher nicht zuletzt damit zusammen, dass es den arabischen Diktatoren stets gelungen ist, innere und äußere Feinde zu finden, um von der Misere im eigenen Land abzulenken. Innere Feinde waren in Ägypten von jeher die Kopten: zwar hat das Regime die christliche Minderheit nie verfolgt, aber doch immer systematisch diskriminiert. Dass ausländische Regierungschefs wie Bundeskanzlerin Merkel nach den verheerenden anti-koptischen Ausschreitungen dem ägyptischen Präsidenten kondoliert haben, ist gleichzeitig konsequent und absurd: konsequent deswegen, weil die Kopten ja ägyptische Bürger sind, und absurd, weil die ägyptische Regierung noch nie etwas dafür getan hat, die Lage dieser benachteiligten Minderheit zu verbessern.
Der äußere Feind, den die arabischen Regime gefunden haben, ist der Westen, vorab Amerika und Israel. Wie erfolgreich etwa die ägyptischen Medien bei der Indoktrination der Bevölkerung waren, zeigt der Fall des Hais, der im Badeort Sharm el-Sheikh einen Touristen getötet hat. Viele Ägypter sind nun der Ansicht, das Tier sei vom Mossad über das Rote Meer geschickt worden, um die ägyptische Tourismusindustrie zu ruinieren. Keine Verschwörungstheorie ist so absurd, dass sie nicht von irgendjemandem geglaubt würde. Treffend bemerkt Roger Cohen in der „New York Times“, die arabischen Regierungen hätten auch „den Verstand ihrer Untertanen gefangengenommen“.
Der deutsch-israelische Historiker Dan Diner hat die Lage der islamischen Welt als einen Zustand der „versiegelten Zeit“ bezeichnet. Die Länder zwischen Marokko und Afghanistan befinden sich unter einer Art intellektueller Käseglocke, die sie vom politischen und sozialen, aber auch vom technischen und wirtschaftlichen Fortschritt der übrigen Welt abschließt. Die Demonstranten in Kairo und Tunis versuchen nichts anderes, als dieses Siegel zu brechen. In gewisser Weise bestätigen sie damit die neokonservative Weltsicht, für die George W. Bush von europäischen Intellektuellen als Simpel aus der texanischen Prärie gescholten wurde: Muslime und Araber sind eben doch fähig und willens, westliche Ideen wie Demokratie und Rechtsstaat zu übernehmen. Gewiss, wir reden vorerst nur von einer kleinen, urbanen und gebildeten Minderheit. Nichtsdestoweniger gibt es Zeichen der Hoffnung.
Hansjörg Müller schreibt auch für „El Certamen“, eine kolumbianische Online-Zeitschrift (http://www.elcertamenenlinea.com). Eine vollständige Übersicht über seine Veröffentlichungen finden Sie unter: http://thukydidesblog.wordpress.com/