Die Schlagzeile, wonach ein Berliner SPD-Kreisverband erreichen will, dass schon Siebenjährige ihr Geschlecht selbst bestimmen, hat sicher jeder schon gelesen. Aber der Antragstext hat noch mehr Einblicke in das Weltbild dieser Genossen zu bieten.
Berlin versteht sich ja bekanntlich gern als Vorreiter des gesellschaftlichen Fortschritts. Da hat die deutsche Hauptstadt ja auch einige Erfolge vorzuweisen. Was böse Zungen als Zeichen des Staatsverfalls werten, ist vielleicht einfach nur ein nachhaltigerer Abschied von der alten Normalität, in der der Staat vordringlich bestimmte Aufgaben erfüllte und für eine funktionierende Infrastruktur sorgte, gar versprach, sich dabei an den Bedürfnissen der Bürger zu orientieren. Aber wenn die Bürger Bedürfnisse haben, die nicht zum fortschrittlichen Weltbild der Regierenden passen wollen, dann möchten heutige Verantwortungsträger dem nicht einfach nachgeben, sondern die Bürger lieber zum richtigen Leben drängen. Wozu sonst gibts denn die Möglichkeit viele schöne neue Vorschriften, Verbote und Regeln zu erfinden?
Die SPD ist in Berlin ja so etwas wie eine Dauerregierungspartei, trotz eines nur noch mäßigen Zuspruchs beim Wähler. Das macht aber nichts, denn bei der Organisation von Wahlen hat sich die Hauptstadt ja bekanntlich vor einem Jahr auch schon von der alten Normalität eines westlichen Gemeinwesens verabschiedet und ließ selbige im organisatorischen Chaos versinken. Dass die Hauptstadt-Regierung damit nicht ganz so mustergültig demokratisch legitimiert ist, scheint selbige nicht weiter zu bekümmern. Warum auch? Es fragt ja kaum noch jemand danach.
Unterdessen kümmert sich in der hauptstädtischen SPD die Basis der Partei nicht nur um die langweiligen Alltagsaufgaben im Gemeinwesen, wie das die Genossen früherer Generationen noch taten, sondern sie kümmern sich stattdessen lieber um noch mehr Fortschritt. Auch der Kreisverband Schöneberg-Tempelhof will da in der Gruppe der Vorreiter mitspielen und hat sich dafür ein geeignetes Betätigungsfeld gesucht. Es gibt nun bald das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz, mit dem trotz des Namens bekanntlich nicht die Selbstbestimmung der Bürger bei der Gestaltung ihrer eigenen Lebensumstände gestärkt werden soll, dafür aber jedem, der sich seines Geschlechts nicht ganz sicher ist, die Gelegenheit geben wird, selbiges ein Mal im Jahr zu wechseln. Und niemand darf einen Geschlechtswechsler daran erinnern, also die neue Identität ist besonders geschützt.
Keine verkürzte Darstellung
Aber das ist natürlich zu wenig. Sie haben es ja vielleicht auch schon andernorts gelesen, dass die Schöneberger und Tempelhofer Genossen beschlossen haben, beim nächsten SPD-Parteitag zu beantragen, dass sich ihre Regierungspartei für eine Ausweitung der Geschlechtswechselmöglichkeit auch auf Siebenjährige einsetzen soll. Das ist nicht falsch, aber diese verkürzte Darstellung unterschlägt die fortschrittliche Komplexität des Antrags. Werfen wir also noch einmal einen Blick in den Antragstext. Dort beschreiben die Genossen in stilsicherer Ideologen-Sprache, was sie sich vorstellen. Tauchen wir also ein in die Vorstellungswelt eines Berliner SPD-Kreisverbandes, die alle Mängel des gegenwärtigen Gesetzentwurfs folgendermaßen beseitigt wissen will:
„Auch Menschen, die ohne deutsche Staatsangehörigkeit in Deutschland leben, müssen das Selbstbestimmungsgesetz in Anspruch nehmen können. Die derzeit übliche Prüfung, ob das Recht des Heimatstaats eine vergleichbare Regelung kennt, verursacht unnötigen und zeitraubenden Bürokratieaufwand.
Auch die Anpassung geschlechtsspezifischer Nachnamen soll in das Selbstbestimmungsgesetz aufgenommen werden. Wenn ein trans* Mensch einen Namen mit geschlechtsspezifischer Endung führt, wie es z.B. in nord- und osteuropäischen Ländern verbreitet ist, würde es andernfalls zu einer sinnwidrigen Diskrepanz zwischen Vor- und Nachnamen kommen.
Auch bei Minderjährigen unter 14 Jahren soll das Familiengericht eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung treffen können, wenn die Sorgeberechtigten die Zustimmung zur Anpassung von Namen oder Geschlechtseintrag verweigern. Im familiengerichtlichen Verfahren ist sicherzustellen, dass ein*e Verfahrensbetreuer*in bestellt wird, die mit der Situation und den Bedürfnissen von trans* Menschen vertraut ist.
Bereits ab Vollendung des siebten Lebensjahres sollen Minderjährige die Erklärung zur Änderung von Namen und Geschlechtseintrag selbst abgeben, wie es im Eckpunktepapier bereits für Minderjährige ab 14 Jahren vorgesehen ist. Es gibt keinen sachlichen Grund dafür, hier von den allgemeinen Regelungen zur Geschäftsfähigkeit Minderjähriger (§§ 104 ff. BGB) abzuweichen.
Das Standesamt soll von Amts wegen das Familiengericht anrufen, wenn ein*e Minderjährige*r die Anpassung von Namen und Geschlechtseintrag verlangt und die Sorgeberechtigten auch nach Aufforderung durch das Standesamt keine Zustimmung erteilen.
Sowohl die Sorgeberechtigten als auch das Familiengericht müssen verpflichtet sein, die Wünsche eines minderjährigen Kindes bezüglich des eigenen Namens und Geschlechtseintrags vorrangig zu berücksichtigen. Bei entsprechender Reife muss die Entscheidung in das Selbstbestimmungsrecht des Kindes fallen. Daher muss auch die Altersgrenze für eine eigenständige Entscheidung ohne Beteiligung der Eltern abgesenkt werden.
Ergänzend zum Offenbarungsverbot, das mit § 5 TSG bereits Teil der geltenden Rechtslage ist, ist eine ausdrückliche Regelung aufzunehmen, wonach Menschen nach Anpassung von Namen oder Geschlechtseintrag einen gesetzlichen Anspruch gegen private und öffentliche Stellen auf Ausstellung von Dokumenten, Zeugnissen und anderen Bescheinigungen mit den neuen Personendaten haben.
Das Selbstbestimmungsgesetz soll darüber hinaus nur Erleichterungen für die Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag enthalten. Um die Lebenssituation von trans* Menschen wirksam zu verbessern, braucht es aber weitere Maßnahmen. Wir fordern deshalb die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion und die sozialdemokratischen Mitglieder der Bundesregierung auf, sich für folgende zusätzliche Maßnahmen einzusetzen und diese zeitnah in die Wege zu leiten:
Um trans* Menschen zu unterstützen und in die Lage zu versetzen, ihr Selbstbestimmungsrecht in Anspruch zu nehmen, ist die in den Eckpunkten vorgesehene Stärkung von Beratungsangeboten besonders wichtig. Insbesondere für Minderjährige sind niedrigschwellige spezialisierte Anlauf- und Beratungsstellen auszubauen, abzusichern oder neu zu schaffen, die diese bei der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützen und während des Verfahrens, das das Selbstbestimmungsgesetz vorsieht, begleiten können. Die Einführung eines Rechtsanspruchs auf eine qualifizierte Beratung ist zu prüfen. Weiterhin ist zu prüfen, ob Sorgeberechtigte von trans* Kindern zur Wahrnehmung einer Beratung verpflichtet werden können."
Überwundenes Relikt
Wer an dieser Stelle noch nicht genug aus dieser Ideenwelt gelesen hat, kann hier weiterlesen. Manch Ältere haben vielleicht noch eine antiquierte Vorstellung von einer deutschen Sozialdemokratie im Kopf, die sich um Bildung, Aufstiegschancen der „kleinen Leute", sozialen Ausgleich und bei all dem dennoch die Bewahrung des gesunden Menschenverstandes bemühte. Tatsächlich gab es ja auch mal eine SPD, die sich weitgehend von Ideologien mit Umerziehungsanspruch fernhalten wollte. Aber das ist auch so ein in der Hauptstadt längst überwundenes Relikt aus der alten Welt.