Peter Grimm / 02.04.2016 / 05:30 / Foto: Andrea Schaufler / 1 / Seite ausdrucken

Genosse Stegner ordnet die Welt

Der Bundeskanzlerin fällt es gegenwärtig schwer, ihren Pakt mit dem türkischen Präsidenten höchstselbst zu verteidigen. Es ist auch nicht leicht, öffentlich zu einem Partner zu stehen, der mit seiner Armee in Teilen des eigenen Landes Krieg gegen eigene Bürger führt, der Zeitungsredaktionen besetzen und Kirchen enteignen lässt, der missliebige Journalisten vor Gericht stellt und das Verfassungsgericht rügt, weil es Kritiker von ihm aus dem Gefängnis entlassen hat. Wie nennt man einen Verbündeten, der Zeitungsredaktionen besetzen lässt und dessen Außenministerium einen Botschafter einbestellen muss, um in von Deutschland die Zensur einer Erdogan-Satire zu verlangen? Die Kanzlerin schweigt.

Aber sie hat einen eifrigen Unterstützer: Ralf Stegner, der wortgewaltige stellvertretende SPD-Vorsitzende. Er bekennt sich dazu, dass er Merkels Türkei-Kurs unterstützt: „Wir haben es mit einem schwierigen Partner zu tun, der vieles macht, was einem nicht gefallen kann“, sagte Stegner jetzt der Deutschen Presse-Agentur. „Aber ohne Einigung mit der Türkei wird es nicht möglich sein, in der Flüchtlingsfrage eine europäische Lösung hinzubekommen.“

Genosse Stegner bleibt leider die Erklärung schuldig, warum die Europäer selbst keine europäische Lösung hinbekommen können, aber wer hinterfragt das schon. Viel bezeichnender ist der Ausflug ins Stegnersche Weltbild: „Den Umgang der Türkei mit Kurden und der Pressefreiheit muss man kritisch sehen, aber letzteres gilt auch für Ungarn und Polen - eine billige antitürkische Haltung sollten wir uns nicht leisten.“

Die anderen sind doch auch nicht besser!

Aha, die anderen sind also auch nicht besser? Ja, es ist Protest wert, wenn eine Regierung, wie derzeit in Polen, das Verfassungsgericht entmachten und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk übernehmen will. Aber das ist doch etwas ganz Anderes als das Treiben des Möchtegern-Sultans in Ankara? Wenn Genosse Stegner das anders sieht, dann muss er über eine Menge Informationen verfügen, die ich nicht habe. Mir fällt gerade keine Zeitungsredaktion in Warschau oder Budapest ein, die mit Polizeigewalt von ihren Redakteuren befreit wurde. Habe ich vielleicht vergessen, dass in Polen und Ungarn Journalisten inhaftiert sind und vor Gericht stehen? Auch in welchen Heimatprovinzen polnisches oder ungarisches Militär gerade Ausgangssperre verhängt und ganze Straßenzüge zusammengeschossen hat, ist mir entgangen.

Fürchtet Ralf Stegner, dass solche Zustände bei unseren östlichen EU-Partnern einkehren oder was will uns Stegner sonst mit diesem äußerst großherzigen Vergleich sagen? Dass wir keine Einigung mit den störrischen Polen suchen und uns Grenzzäune lieber von Erdogan als von Orban bauen lassen sollten?

Nein Ralf Stegner hat noch einen größeren Bogen gespannt, falls der Vergleich mit Polen und Ungarn nicht reicht. „Wir verhandeln auch mit Saudi-Arabien und dem Iran; da sticht die Türkei nicht besonders negativ heraus.“ So müssen wir das also verstehen: Zwischen Polen und dem Iran oder Ungarn und Saudi-Arabien bewegt sich Erdogans Türkei völlig im Mittelfeld. Und was spricht dagegen, mit einem Politiker der Mitte zu paktieren. Auch für künftige kritische Positionierungen empfiehlt es sich, den Ordnungsrahmen zuvor von Ralf Stegner abstecken zu lassen. So kommen wir alle in die Mitte.

Zuerst erschienen auf: http://sichtplatz.de/?p=5648

Foto: Andrea Schaufler CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Martin Wessner / 02.04.2016

Das Rätsel der stegnerischen Semantik ist leicht aufzuklären, Herr Grimm: Bei den letzten Wahlen in der Türkei haben die in Deutschland lebenden Türken zu rund 65% den Herrn Erdogan gewählt.  Zu einem mindestens gleich hohem Prozentatz haben die bei uns lebenden Türken, -also diejenigen, die die Möglichkeit haben, auch in Deutschland zur Wahl zu gehen- die…Genau!...die SPD gewählt. Herr Stegner will es sich also daher wohl nicht auch noch mit dem Klientel mit einem Migrationshintergrund verderben, wo die SPD-Wähler mit einem nichtmigrantischen Hintergrund ja schon in Scharen zur AfD überlaufen.

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