Da wo Väter desorientiert waren, konnten sich Söhne auch nicht vernünftig orientieren. Deutschland war schon 1960, als ich geboren wurde, zerrissen. Mein Vater hatte als Kind die Wirrungen der Weimarer Republik erlebt, die Nazizeit als trügerische Hoffnung mit Krieg und Flucht als jugendlicher Soldat, der von einer finnischen Familie vor den Russen gerettet wurde. Adenauer-Wähler, später Mitglied der SPD. Und der eine Großvater (sein Vater) zum Protestanten konvertierter Jude. Der Riss in der der deutschen Identität ging mitten durch die Familie. Ich wollte mich absetzen: Ökologie und Weltrettung als neue Aufgabe, Flucht, Absetzung, Eigenständigkeit. Nahe an der eigenen Lebensrealität war da wenig. Völlig spinnerte, überdrehte Phantasien der eitlen Omnipotenz. Das ist verzeihlich in der Adoleszenz. Nun sind wir aber in der Krise, die wir wahrscheinlich in unserer eskapistischen Äkoheldenträumerei selber verschuldet haben und viel zu viele meiner Jahrgänge klammern immer noch an ihrem deutschen Trauma, statt sich von den fragwürdigen, letztlich narzisstischen Ideologien, die die Erlösung vom Deutschsein und der deutschen Schuld versprach, endlich zu trennen und sich der Wirklichkeit - ja die Welt hat sich längst weitergedreht - zuzuwenden. So erkläre ich mir das.
Ilona, ich bin nicht unbedingt deines Glaubens, aber danke für deine Worte und Gebete. “Im Schützengraben gibt es keine Atheisten,” Im Bombenkeller vermutlich auch nicht. Es gibt Dinge, die auch mich trösten. “Seelig sind die im Geiste Armen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.”
@Jürgen Lachmann : >>Natürlich ist jeder letztendlich für sein handeln selbst verantwortlich, natürlich ist Wohlstandsverwahrlosung eine Voraussetzung für das mentale Elend unserer Epoche, aber Blahas Theorie ist doch sehr hilfreich, einige merkwürdige Symptome des Mainsteams ansatzweise zu verstehen.<< ## Ich habe die Theorie nicht verstanden, sie scheint irgendwie nicht schlüssig, sondern eher aus Teilen zusammengesteckt, die nicht zusammen passen. Ich habe die Bedenken, die mir sofort auffallen, mit Nummer 1) bis 5) bereits geschrieben. Wenn es um die Wahrheit gehen soll, sind solche Hinderungsgründe schwerwiegend. Wenn es aber nur darum geht, dass wir endlich irgendeine Erklärung bekommen, damit wir Ruhe bewahren, werden Sie mich nicht überzeugen. Es ist ein Kunstgebilde, das sich Herr Blaha theoretisch-linkshirnig zusammen reimt. Vielleicht habe ich keinen Standardlebenslauf. Kann alles sein. Aber für mich ist das alles nicht nachvollziehbar. Zur Wahrheit findet man nicht, wenn man seine Vorstellungen nur dem Volk besser begründet. Man muss zuerst von den falschen Annahmen ablassen können, auch wenn Onkel Fritz und Tante Saskia das immer so gesagt haben.
Das von Herrn Blaha beschriebene ist mir völlig fremd. Ich bin vom gleichen Jahrgang wie er, habe aber vollkommen andere Erfahrungen gemacht. Mein Vater war als Schüler eingezogen worden und in Kriegsgefangenschaft, zwei meiner Onkel sind gefallen. Aber kein einziger war Nazi-Sozi, das waren alles Christen. Und meine Eltern haben mir die gleichen Werte vorgelebt wie ihnen ihre eigenen Eltern. Was Herr Blaha schreibt klingt für mich wie eine Geschichte vom Mars (oder aus Berlin).
Ich habe am meisten über die Traumata der Kriegsteilnahme aus Filmen gelernt, auch am meisten über den Holocaust, ich danke Hollywood, allen voran Meister Steven Spielberg. “War Horse”: Z.B. der Großvater, der seine Enkelin verliert durch übergriffige Soldaten. “Schindler’s List”: Amon Göth, dieses widerwärtige Schwein. Dann “Sophie’s Choice”, Alan Pakula, die vollständige mentale Zerstörung einer Person. Aber nicht nur solche, sondern U-Boot-Filme, diese Angst, das Falsche zu tun, die Angst zu ersticken da unten, “Das Boot”, “Crimson Tide” der mit Clark Gable in Japan. “Red Octobre” ist der einzige unterhaltsame. Am meisten stellt einem die Haare auf “K 19” von Bigelow. Generation Silent war silent, weil sie nicht dabei gewesen sein wollten. Es ist verkehrt, dass sie nur auf Schuld getrimmt wurden und nie über ihre eigenen Traumata sprechen konnten. Ich muss daran erinnern, dass die meisten gezogen worden sind. Echte Nazis sprachen sogar gelegentlich. MIt Stolz und nicht weniger. Der gezogene junge Soldat war selbst Opfer, aber es wurde ihm nicht zugestanden, Fakt. Riesenfehler.
Man kann alles mit allem in Verbindung bringen. Irgendwie lässt sich alles behaupten, und das Gegenteil könnte auch richtig sein. Es gibt keine Generationen. Jedes Jahr werden Menschen geboren. Aber es gibt ein Umfeld. Und Menschen, die nie Hungern mussten, die keine Kriege miterleben mussten, die nie denken mussten um zu überleben, sondern sich ohne Konsequenzen den größten Blödsinn ausdenken konnten, die gab es früher selten, aber mit dem Wohlstand der 80 Jahre dann massenhaft. Und diese Menschen suchen jetzt Probleme und meinen, es wird nichts schief gehen, weil sie ja nie etwas schief gehen haben sehen. Da sind wir also. Nennt sich Dekadenz.
Ich bin Babyboomer. In meiner Familie wurde immer über das Dritte Reich gesprochen. Meine Vorfahren waren einfache Leute: Bauern, Waldarbeiter, Tagelöhner, Handelsvertreter. Da ging es nicht um die große Theorie, sondern um das tägliche Leben im Dorf und in der Nachbarschaft. Da wurde erzählt, wie der Bürgermeister sich ein stattliches „Judenhaus“ unter den Nagel gerissen hatte, in dem seine Nachkommen heute noch leben. Man munkelte, daß nach dem Krieg für das Haus eine Entschädigung bezahlt werden mußte. Genaueres wußte man nicht. Oft hat mein Vater die Geschichte erzählt, wie er als Bub hinter dem Vorhang stand und verstohlen zum Fenster hinauslugte, als um vier Uhr in der Früh im Haus schräg gegenüber, es war ein kleiner Krämerladen gewesen, die jüdischen Besitzer abgeholt wurden. Sie waren nie mehr gesehen. Nach dem Krieg haben wir erfahren, daß sie wohl nach Gurs gebracht worden waren. Oder die Geschichte, wie meine Großmutter mit ein paar anderen Frauen im April 1945 die Panzersperren am Dorfeingang, die den Vorstoß der Franzosen aufhalten sollten, wegräumte („Mir hen doch nit welle, daß d’ Franzose unseri Hieser zerschieße“). Sie ist dem Standgericht nur deshalb entgangen, weil die Franzosen schnell vorrückten. Oder wie mein Vater unbedingt zur Hitler-Jugend wollte, weil da für einen kleinen Bub so viel Abenteuer winkte, aber es ihm sein Vater verbot, bei den „gottlosen Nazis“ mitzumachen. Ich könnte Hunderte solcher Geschichten erzählen, kleine, harmlose, lustige Begebenheiten aus dem Alltag des Dritten Reiches ebenso wie solche, die die brutalen, gnadenlosen und menschenverachtenden Methoden des Regimes zeigen. Als 1978 die berühmte „Holocaust“-Serie im Fernsehen lief und es überall hieß: Endlich wird das Schweigen über diese dunkle Zeit gebrochen, wunderte ich mich, denn bei uns zu Hause war dazu nie geschwiegen worden. So gibt es eben ganz unterschiedliche Familientraditionen. Nicht alle erleben das Gleiche.
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