Man hätte auch das Erdogan-Gastspiel klar als das bezeichnen können, was es ist, nämlich eine bodenlose Unverschämtheit. Aber dazu sind unsere Regierenden selbstverständlich zu diplomatisch, auch wenn der Möchtegern-Sultan demonstriert, wie herzlich egal ihm die Befindlichkeiten seiner Gastgeber sind.
Der Auftritt des türkischen Präsidenten ist mehr als nur ein Akt öffentlicher Geringschätzung gegenüber der deutschen Regierung. Er ist auch Anlass für eine äußerst wichtige Frage, über die keiner reden mag, denn der Despot aus Ankara ist ja offiziell unser Verbündeter.
Gelegenheiten, sich als starker Mann (würde es nicht sofort wie ein Nazi-Vergleich wirken, müsste man besser sagen: als starker Führer) darzustellen, lässt Recep Tayyip Erdogan nur ungern verstreichen. Natürlich nimmt auch er Rücksichten, wenn er sie nehmen muss. Insofern ist ein außenpolitischer Auftritt von ihm immer ein guter Indikator dafür, wie groß sein Respekt vor dem Gastgeber und dessen Befindlichkeiten ist. Der Respekt vor der deutschen Bundesregierung ist sichtbar gering, wie wir gestern demonstriert bekamen.
Nun ist diese Bundesregierung selbst schuld, dass sie immer weniger ernst genommen und immer häufiger vorgeführt wird. Da auch der Standard journalistischer Regierungskritik deutlich abgenommen hat, fällt das vielleicht beim heimischen Pressekonsum nicht so auf. Die meisten Berichterstatter zeigten sich erleichtert, dass sich der Bundeskanzler im Angesicht des türkischen Regenten zur Solidarität mit Israel bekannt hat, als Erdogan mit antiisraelischen Ausfällen glänzte.
Man hätte auch den Erdogan-Auftritt klar als das bezeichnen können, was es ist, nämlich eine bodenlose Unverschämtheit. Aber dazu sind unsere Regierenden selbstverständlich zu diplomatisch, auch wenn der Möchtegern-Sultan demonstriert, wie herzlich egal ihm die Befindlichkeiten seiner Gastgeber sind.
Das alles schluckten die deutschen Spitzenpolitiker
Immerhin, der Kanzler hat nicht geschwiegen, wie seinerzeit beim Besuch des palästinensischen Machthabers Mahmud Abbas, als dieser über durch Israel begangene Holocausts fabulierte. Und, wie unsere Medien aufmerksam vermerkten, formulierte der Herrscher aus Ankara ja nicht ganz so scharf wie daheim. Er bezeichnete die islamistische Terrororganisation Hamas nicht als "Befreiungsbewegung" und zieh Israel nicht des "Völkermords" in Gaza, sondern stellte "nur" die Geiselnahme der Hamas nach ihrem Massenmord in Israel auf eine Stufe mit der Haft rechtsstaatlich verurteilter palästinensischer Terroristen in israelischen Gefängnissen.
Ansonsten erfreute er sich offen seiner Unbefangenheit, als er sich beschwerte, dass sich die Deutschen wegen ihrer historischen Schuld mit Anklagen gegen den jüdischen Staat zurückhielten. Er aber hätte das Problem nicht und könne Israel anklagen.
Das alles schluckten die deutschen Spitzenpolitiker und vermieden es, auf den offenen Affront ihres Gastes mit einem angemessenen Gegen-Affront zu reagieren. Zeit zum Nachdenken hätten die entsprechenden Mitarbeiter im Kanzleramt ja gehabt, denn dass Erdogan provozieren würde, dass er zeigen würde, was er sich alles gegenüber den Deutschen herausnehmen kann, war zu erwarten. Aber wie leider auf anderen Gebieten auch, geht man lieber furchtsam in Deckung und hofft, dann würde es schon nicht so schlimm kommen, statt eine deutliche Gegenwehr vorzubereiten.
Immerhin funktioniert in weiten Teilen des polit-medialen Soziotops in Berlin die Abwehr allzu deutlicher Regierungskritik noch. Den Sprechblasenwellen mit der Binsenweisheit, dass man nun einmal in einer Welt voller Diktaturen und Autokratien auch mit Machthabern reden müsse, deren Politik einem nicht passe, konnte man nach dem Erdogan-Auftritt im Kanzleramt nicht entgehen. Und natürlich stimmt der Satz. Aber es ist ein elementarer Unterschied, ob man das souverän oder servil tut.
Vor allem aber verdrängt man dabei den Umstand, dass es sich bei Erdogan nicht um irgendeinen Despoten aus dem Orient handelt, sondern offiziell immer noch um das Staatsoberhaupt eines verbündeten NATO-Staates. Die NATO soll doch, so heißt es allenthalben, auch eine Wertegemeinschaft sein. Aber was ist das für eine Wertegemeinschaft, die man mit Machthabern wie Erdogan teilt?
Das ist natürlich eine Frage, der man sich gern stellt, aber sie muss dringend diskutiert werden. Gerade wenn die Zeiten immer unfriedlicher werden, kann man sich in einem Verteidigungsbündnis keinen Partner leisten, bei dem man im Ernstfall nicht weiß, auf wessen Seite er steht.
Peter Grimm, geboren 1965 in Ost-Berlin, war bis 1989 aktiv in der DDR-Opposition und arbeitet seitdem als Journalist, Autor und Dokumentarfilm–Regisseur. Betreibt u.a. den Blog sichtplatz.de