Im Kampf um die Zivilisation stehen der Nahe Osten, Europa und Amerika dem religiösen Totalitarismus gegenüber. Die islamischen Gotteskrieger werden nur durch den Sturz des totalitären Ayatollah-Regimes im Iran zu schwächen sein, bis dahin müssen sie eingedämmt werden.
Die Narrative zum Krieg im Nahen Osten gehen meist aneinander vorbei. Historische und politische Argumente führen zu einem endlosen Hin und Her der Beschuldigungen. Moralisch-humanitäre Gebote stehen der militärischen Selbstbehauptung Israels entgegen, und ein religiös motivierter Identitätswahn behindert sowohl Kompromisse als auch die ökonomische und ökologische Entwicklung.
Im ersten Diskussionsschritt müssten daher die Kategorien geklärt werden, auf die sich das jeweilige Urteil stützt. Die Vorrangigkeit einer Kategorie lässt sich am ehesten aus ihrem Kontext begründen. Israel, aber auch einige autoritär, jedoch säkular regierte arabische Staaten, werden in ihrer Selbstbehauptung vom Islamismus herausgefordert. Und auch Europa ist durch die Migration zum Feld des kulturalistischen Kampfes gegen Andersgläubige geworden.
Die historischen und politischen Kategorien haben sich längst als Sackgassen erwiesen. Aus dem gängigen Kausalketten-Diskurs, in dem Israel dieses und die Palästinenser jenes getan oder nicht getan haben, ist ein endlos geflochtenes Band von ausweglosen Verstrickungen entstanden.
Die politische Linke ist angesichts der ihr fremden religiösen Motive argumentativ nahezu hilflos. Jüdische Flüchtlinge galten ihr als „kolonialistische Siedler“ und ihre Rückkehr in das für sie Heilige Land als „westlicher Imperialismus“. Die Quadratur des Kreises, sowohl gegen Antisemitismus als auch für die bedingungslose Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen zu sein, will ihr nicht gelingen.
Ersatzpazifismus auf Kosten anderer
Die neokonservative Rechte hat wiederum mit ihren Interventionen die ganze Region destabilisiert, nicht zuletzt aus der ebenfalls kulturfremden Annahme, demokratische Strukturen seien ohne ihre kulturellen Voraussetzungen übertragbar. Die naive Forderung der USA nach freien Wahlen in den palästinensischen Gebieten brachte die Hamas im Gaza-Streifen an die Macht.
Moralisch-humanitäre Gebote richten sich fast immer einseitig an Israel und verlangen oft geradezu dessen Verzicht auf robuste Selbstbehauptung. Israel wird nach humanitären Kategorien verurteilt. Umgekehrt ruft schon der Koran zum Kampf gegen die Juden auf.
Zu den – ersatzreligiösen – humanitären Motiven vieler Europäer zählen auch die Forderungen nach einem „Waffenstillstand“ noch vor Zerschlagung der Hamas. Dieser Ersatzpazifismus ist leicht auf Kosten Anderer zu erheben. Doch je näher der Islamismus durch die Migrationsströme den Europäern kommt, desto mehr könnte er auch als gemeinsame Herausforderung erkannt werden.
Der islamische Antisemitismus ist fundamental
Europas politischen Klassen fällt es schwer, die Bedeutung der Religion zu denken, weil es ihr nicht nur an Religion, sondern auch an Bildung über Religion fehlt. Israel war von Anfang an existenziell bedroht, weil der Islam die Welt unter die Umma der islamischen Weltherrschaft bringen will. Der islamische Antisemitismus ist fundamental und kann jederzeit aus der Wartestellung in die Aktion umgewandelt werden. Der jüdische Staat Israel ist wie ein Speer im islamischen Körper und mit dem Gebot nach islamischer Herrschaft zumindest in dessen angestammten Territorien niemals vereinbar. Auch raumfremde islamische Mächte wie der Iran fühlen sich zum Kampf gegen Israel aufgerufen.
Auf der anderen Seite behindert das in Israel immer stärker vordringende orthodoxe Judentum die Säkularität und damit auch die Wehrhaftigkeit des Landes. Unterdessen sitzen dessen Vertreter in der Regierung. Ihre religiös motivierte Landbesessenheit in „Judäa und Samaria“ schwächt nicht nur die moralische Stellung Israels. Das beispiellose Sicherheitsversagen Israels am 7. Oktober ist überhaupt erst aus der Verlagerung von Truppen ins Westjordanland zum Schutz der dortigen religiösen Siedler an einem Feiertag erklärbar.
Geografisch und demografisch ist Israel in einer verzweifelten Lage. Die hohe Geburtenrate der Muslime und der orthodoxen Juden in Israel droht die bereits schleichende Entsäkularisierung in einigen Jahren bis an den Punkt zu treiben, an dem die ökonomische und militärische Leistungsfähigkeit Israels infrage steht und die zivilisatorische Anziehungskraft auf die neuen arabischen Partner verlorengeht.
Zivilisierung als Ausweg
Im Lichte dieser Kategorien ist die Lage Israels schon mittelfristig fast aussichtslos. Es bietet sich nur noch die Perspektive eines gemeinsamen Kampfes für die Zivilisation im Rahmen einer Kooperation Israels, arabischer Staaten und der Europäer gegen den sie alle bedrohenden totalitären Islamismus.
Immerhin gelang es Israel von den Friedensverträgen mit Jordanien und Ägypten bis hin zum Abraham-Abkommen immer mehr, einige arabische Staaten von den Vorzügen ziviler Kooperation zu überzeugen. In Israel haben sich nach dem 7. Oktober orthodoxe Juden verstärkt freiwillig zum Wehrdienst gemeldet. Die in globalen Träumen schwelgenden Regenbogen-Europäer beginnen, die Notwendigkeit von gesicherten Grenzen und ihrer eigenen Wehrhaftigkeit zu erkennen.
Eine Zivilisation beruht vor allem auf der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen wie Religion, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die jeweils ihrer Eigenlogik folgen. Die gewaltenteilige Demokratie wäre eine weitere Zivilisationsstufe, aber die erste Stufe können auch autoritär regierte Staaten erreichen. Sie sind daher auch das kleinere Übel gegenüber dem Totalitarismus.
Israel Existenz lässt sich heute am leichtesten durch Erfolge bei der Bekämpfung der Desertifikation legitimieren. Im Kampf um die wirtschaftliche Existenz und Wassernot ist Know-how wichtiger als die Reinheit des Glaubens.
Für die von Teheran und Katar gesponserten Islamisten werden religiöse Kategorien nicht zur Debatte stehen. Die Gotteskrieger werden nur durch den Sturz des totalitären Ayatollah-Regimes im Iran zu schwächen sein, bis dahin müssen sie eingedämmt werden. Es bleibt nur die Doppelstrategie von konsequentem Grenzschutz und der lockenden Angebote gemeinsamer Entwicklungsprojekte. Das Doppelspiel der Kataris, die zugleich enger Verbündeter der USA und der Hamas sind, lässt sich aus der Zerrissenheit zwischen religiös-kulturellen und zivilisatorischen Antrieben heraus erklären. Auch hierzu wird eine weitere westliche Doppelstrategie des Förderns und Forderns aufgebaut werden müssen.
Außen- und Entwicklungshilfepolitik: Fördern und Fordern
Die USA und die Europäer sollten ihre Außen- und Entwicklungshilfepolitik an diesem Ringen zwischen Kulturalismus und Zivilisation ausrichten. Territoriale Konflikte zwischen Israel und den Palästinensern sind demgegenüber zweitrangig. Das endlose historische, politische und auch moralische Gerede führt ins Nichts.
Auch die Palästinenser lassen sich entlang ihrer Teilhabewünsche an den Erfolgen der Zivilisation differenzieren. Das Westjordanland ist gepalten nach denjenigen, die mit Israel Geschäfte machen und denjenigen, die den Endsieg anstreben. Die annähernd zwei Millionen Palästinenser in Israel sind angesichts der Vorteile des zivilen Lebens in Israel weitgehend loyal. Nach der Beseitigung der Hamas müssten die Bewohner des Gaza-Streifens durch Teilhabe und Hilfestellungen zum Frieden verlockt werden, etwa durch neuen Zugang zum israelischen Arbeitsmarkt.
Deutschland ist von einem entsprechenden Kategorienwechsel noch weit entfernt. Immer noch unterstützt unsere Entwicklungshilfe vorbehaltlos jenes UNO-„Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge“ (UNRWA). Nach dem 7. Oktober wurden diese Hilfen erneut erhöht, obwohl schon die Schulen dieses Hilfswerks sich dem kulturalistischen Hass auf Israel verschreiben.
Der Umbau zu einem konsequenteren Fördern und Fordern wird erst aus der Abwendung vom identitären Kulturalismus zur Förderung zivilisierter Entwicklungen – von der Berufsausbildung an – erfolgen. Diese Einsichten wären auch für die Integrationspolitik in Europa fruchtbar zu machen, in der die Bereitschaft zur funktionalen Teilnahme in zivilen Funktionssystemen die Voraussetzung zur Teilhabe an deren Ergebnissen wäre.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung vom 12.11.2023.
Prof. Dr. Heinz Theisen lehrt Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Er ist Autor der Bücher „Selbstbehauptung. Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen“ (Reinbek, 2022) sowie „Der Westen und sein Naher Osten. Vom Kampf der Kulturen zum Kampf um die Zivilisation" (Reinbek 2017).