Jens Spahn sprach heute die Worte: „Wahrscheinlich wird am Ende dieses Winters jeder geimpft, genesen oder gestorben sein.“ Der Zynismus ist nicht überbietbar, gleichwohl entlarvend: Diejenigen, die solches von sich geben, könnten demnächst sehr einsam sein.
Wenn ein nennenswerter Teil der Bürger eines Staates keine Möglichkeit mehr hat, seine Ziele, Wünsche und Vorstellungen gegenüber der staatlichen Macht zu artikulieren; und wenn der Staat sich nicht mehr darauf versteht, die unterschiedlichen Ziele der Bürger zu moderieren und für einen politischen Ausgleich zu sorgen, der das Gemeinwohl im Blick behält; dann geht dieser Staat zu Ende. Er zerfällt von innen heraus, und es gibt keine Instanz mehr, die das Auseinanderfallen verhindern könnte. Die Justiz schon gar nicht, weil sie entweder längst dabei mittut, ungerechte Gesetze und Verordnungen so anzuwenden, als wären es gerechte; oder weil sie, wenn sie sich gegen die staatliche Gewalt stellte, erfahren würde, dass ihre Urteile nichtig sind, weil sie von denen, die das Sagen haben, missachtet werden.
Der Staat geht zu Ende, wenn er nicht mehr in der Lage oder willens ist, sein Konstitutionsprinzip – dass er für einen gerechten Ausgleich der Interessen sorge – zu erfüllen. Das ist zuletzt keine Systemfrage, sondern eine Sache des Charakters. Und zwar eine Sache des Charakters jener, die das Sagen haben, weil sie das, was sie sagen, mit Gewalt durchsetzen können. Nennen wir sie getrost und mit einem alten Wort „Herrscher“.
Wenn der Staat zu Ende geht, stellen die Bürger erstaunt, mit Sorge, Wut und Angst fest, dass die Geltung der schönen Gesetzestexte immer schon davon abhing, dass der Herrscher sich durch die Gesetze gebunden wusste. Und ebenso stellen sie fest, dass die staatsbürgerliche Erziehung, die sie genossen haben, ihren Zweck verfehlt hat, weil sie auf der Seite der Herrscher nicht zu einem gelebten demokratischen Habitus wurde, sondern nur dazu diente, den demokratischen Zeitgeist mit Worten zu beschwichtigen.
Das klingt düster und ist es auch. Aber die Düsternis, die sich hier breitmacht und immer sichtbarer zutage tritt, trifft keineswegs nur das Volk. Sie trifft auch die Herrscher, und diese auf ganz eigene Art. Man sieht das an ihren Gesichtern: Sie haben Angst.
Alleine in einem zunehmend rechtsfreien Raum
Das liegt daran, dass sie als Herrscher ganz auf sich alleine gestellt sind. Denn in dem Moment, da sie begonnen haben, die Gesetze zu missachten, haben sie sich aus der Bindung mit den Staatsbürgern gelöst und sich sichtbar über die Gesetze gestellt. Ab diesem Moment sind sie für alles, was sie tun, unmittelbar verantwortlich. „Unmittelbar“ heißt: Ihre Entscheidungen, die sie unter Missbrauch und Missachtung der Gesetze treffen, sind nicht mehr eingebunden in jenen gemeinsamen Erfahrungsraum der Staatsbürger, der in den Gesetzen sich ausdrückt; vielmehr stehen die Entscheidungen der Herrscher jetzt alleine und erratisch in einem zunehmend rechtsfreien Raum, in dem jede Entscheidung des Herrschers als seine, ganz allein seine Entscheidung sichtbar wird.
Und damit wird in einem zu Ende gehenden Staat bei jeder Entscheidung mit zunehmender Schärfe auch sichtbar, dass der Herrscher das Gemeinwohl der Bürger nicht mehr achtet, wahrt und aufbaut, sondern er es verachtet und zerstört. Seine Herrschaft wird zunehmend ungerecht. Und das ist im Alltag der Bürger an der sehr einfachen Tatsache ablesbar, dass die Unordnung im Staatswesen zunimmt und das soziale Klima aufgrund des Zerfalls der staatlichen Gemeinschaft zunehmend aggressiver wird.
Das ist nicht die Schuld der Einzelnen, die zunehmend aus der Balance geraten, weil sie zunehmend die Erfahrung machen müssen, dass ihr Alltag beinahe stündlich schutzloser wird. Es ist vielmehr die Schuld der ungerechten Herrscher, die das bonum commune – das, was für alle gleichermaßen gut ist – verfehlen, sei es aus Unfähigkeit, sei es aus Absicht. Und je mehr die Herrscher das Gemeingut verfehlen, mit desto mehr Energie müssen sie versuchen, ihre Verfehlungen zu kaschieren.
Das gelingt ihnen immer nur zum Teil, und auf Dauer gelingt es ihnen immer weniger. Denn die Wirklichkeit hat eine ganz eigene Kraft und Nötigung, gegen die auf Dauer kein ungerechter Herrscher gewinnen kann. Je länger die Kette seiner ungerechten Handlungen, Erlasse, Verfügungen und Gesetze, desto mehr Wirklichkeit zeigt sich, die sich den ungerechten Handlungen, Erlassen, Verfügungen und Gesetzen nicht fügt.
Abwärtsspirale der Ungerechtigkeit
So kommt es, dass der ungerechte Herrscher, der sich eben noch in seiner Alleinmacht sonnen konnte und dafür sogar mit den gefälligen Akklamationen der medialen Speichellecker und Ohrenbläser belohnt wurde, plötzlich feststellen muss, dass das ganze Gewicht seines ungerechten Tuns auf ihn und ihn allein zurückfällt. Denn die Wirklichkeit, die sich dem allen nicht fügt, macht von Tag zu Tag sichtbarer, dass der Herrscher, der an der Wirklichkeit vorbei herrscht und ohne das Volk und seinen Rat auszukommen meint, sich von Wirklichkeit und Volk isoliert hat. Und indem er das tat, geriet er in die Abwärtsspirale der Ungerechtigkeit, aus der er sich nicht mehr befreien kann. Mit jedem Tag, an dem er weiter ungerecht herrscht, wird es einsamer um ihn.
Einsam wird es, weil er bei zunehmendem Kontaktverlust zur Wirklichkeit immer ungerechter entscheiden wird. Und je ungerechter er entscheidet, desto mehr Menschen wenden sich von ihm ab, bis ihn zuletzt seine Ratgeber und engsten Mitstreiter verlassen oder, wenn sie bleiben, er in ihren Augen sieht, dass es ihnen geht wie ihm: Sie haben Angst.
Anfangs ist die Angst nur an einigen wenigen Zügen bemerkbar, am merkwürdig-unangebrachten Grinsen auf einer Pressekonferenz, am cowboyhaften Großsprechen in einer Talkshow, an den zunehmend tiefer und schwärzer werdenden Augenringen und überhaupt an dem verschatteten Blick, der dem Blick des Gegenübers nicht mehr standhalten kann.
Aber dann bricht die Angst mit aller Macht durch: Wir sehen plötzlich fleckige und aufgedunsene Gesichter, die zunehmend krank aussehen; wir bemerken die schwitzige und zugleich rot- oder bleichgesichtige Physiognomie oder den öffentlich nicht mehr verbergbaren Tremor, mit dem Maßnahmen verkündet werden, die wieder nicht aus der zunehmenden Unordnung herausführen, sondern nichts weiter sind als der Versuch, die zunehmende Unordnung durch symbolische Ordnungsmaßnahmen zu überdecken. Also zu überdecken, dass die Spirale aus Unordnung und Ungerechtigkeit durch die ungerechten Maßnahmen eine Umdrehung weiter nach unten führt und die Herrschaft des Herrschers eben dadurch delegitimiert.
Wie das enden wird, werden Sie fragen. Es wird enden, wie es immer geendet hat. Ganz am Ende wird ein Kind, das außerhalb der Machtsphäre steht und unverstellt auf die Dinge und den Herrscher schaut, mit der größten und ehrlichsten Naivität von der Welt sagen: Der Herrscher ist nackt. Und dann werden alle, die bislang die Unordnung und Ungerechtigkeit nicht sehen wollten, wie aus einem Traum erwachen und den Herrscher verlassen. Die entscheidende Frage ist dabei, ob das vor oder nach der Zerstörung des Staates stattfinden wird.
Uwe Jochum studierte Germanistik und Politikwissenschaft in Heidelberg und promovierte an der Universität Düsseldorf. Seit 1988 arbeitet er als wissenschaftlicher Bibliothekar. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Bibliotheks- und Mediengeschichte, zuletzt "Geschichte der abendländischen Bibliotheken" (2. Aufl., 2012).