Orit Arfa, Gastautorin / 20.06.2019 / 06:17 / Foto: Orit Arfa / 83 / Seite ausdrucken

Geht’s noch, Claus Strunz?

Claus Strunz‘ „Geht’s noch, Deutschland?“ hat mich sofort neugierig gemacht, denn als Jüdin, Amerikanerin und Israelin, die in Deutschland lebt, frage ich mich oft: Was ist verdammt nochmal los mit diesem Land? Warum stimmt ein Land, das behauptet, Israels Sicherheit liege ihm am Herzen, bei den Vereinten Nationen gegen Israel? Klammert sich an Deals mit zwielichtigen Gestalten wie dem Iran und finanziert NGOs, die arabischen Kindern Gewalt und Antisemitismus vermitteln? 

Das Buch beschäftigt sich mit den „schlimmsten“ Fehlern des Landes und schlägt 20 Ideen vor, wie man sie beheben kann. Einer der Fehler ist, selbstredend, Merkels Entscheidung, Tür und Tor zu öffnen für Menschen mit zweifelhaften Werten und problematischem Demokratieverständnis. Das ist der Fehler, den Strunz am kompetentesten behandelt.   

Das Buch spricht aber auch andere „Fehler“ an, zum Beispiel mangelnde Wahlbeteiligung, eine fehlende Verantwortung von Politikern, das Fehlen eines deutschen Patriotismus und der Umstand, dass das Land keine neuen „Dichter und Denker“ hervorbringt, was Strunz auf ein bankrottes Bildungssystem zurückführt. Man versteht schnell, warum ihn Linke als „Rechtspopulisten“ bezeichnen, obwohl der gemäßigte Strunz mit seinem Grad an politischer Unkorrektheit oft recht hat.  

Deutschlands gequälte Seele

Ich halte Deutschland als Enkeltochter von Holocaust-Überlebenden gerne den Spiegel vor, und ich habe das Gefühl, „Geht’s noch, Deutschland?“ zeigt beispielhaft, was in diesem Land schiefläuft! Strunz bietet eine kompetente, gut belegte Diagnose an, aber seine Lösungsvorschläge sind technisch, eben klischeehaft deutsch. Er beschäftigt sich nicht mit dem tatsächlichen Grund für die Probleme in diesem Land: Deutschlands gequälter Seele.    

Seit Jahrhunderten ist Deutschland stolz auf seine Produktivität, Funktionalität und seine Wirtschaft, manchmal allerdings auf Kosten von emotionaler Intelligenz, sozialer Kompetenz, eigenständigem Denken, echtem Mitgefühl und einem festen ethischen Kodex. Während des Dritten Reiches war Deutschland quasi besessen von äußerem Erfolg und Sicherheit und scheiterte damit letzten Endes. Die unverantwortliche Aufnahme von Millionen von Migranten aus antisemitisch geprägten Ländern war kein authentischer Akt der Wiedergutmachung und des Mitgefühls, stattdessen zeigt Deutschlands Verhalten während der Flüchtlingskrise, dass das Land sich bisher nicht angemessen mit der eigenen Seele auseinandergesetzt hat. 

Lassen Sie mich daher ein paar Ergänzungen zu Strunz‘ Buch vorschlagen, die diese Seele mitberücksichtigen.  

Die Bildung der Deutschen

Was bringen einheitliche Lehrpläne für ganz Deutschland und digitalisierte Klassenzimmer, wenn die Werte, die in den Schulen vermittelt werden, verkorkst sind? Wozu eine allgemeine Wahlpflicht fordern, wenn die Geistes- und Naturwissenschaften moralisch retardierte Politiker hervorbringen? Wen kümmert’s, wenn die Deutschen als „die Besten“ in Mathe, Lesen, Geschichte und Sozialkunde abschneiden, wenn sie indoktrinierte Roboter oder emotionale Dumpfbacken werden? Der Inhalt der Lehrpläne muss reformiert werden. 

Nehmen wir zum Beispiel das Thema Zweiter Weltkrieg. Die „Sünden“ des Dritten Reichs werden offenbar oberflächlich und unpersönlich im Unterricht behandelt, weshalb die deutsche Seele auch nicht richtig heilen kann (wie meine Kollegin Ulrike Stockmann attestiert), nur so ist zu erklären, warum Deutschland totalitären Regimen die Füße küsst. 

Um das zu ändern, schlage ich vor, an deutschen Schulen sorgfältig angeleitete Nachforschungen zur Familiengeschichte der Schüler durchzuführen; Schüler mit Migrationshintergrund könnten ihnen dabei helfen. Die Vergangenheit zu verdrängen, hat problematische persönliche Folgen, unter anderem entfremdete familiäre Beziehungen, dysfunktionale Kommunikation, emotionale Distanziertheit, ererbte Traumata und unbewusste Schuldgefühle. Die Einführung solcher Recherchen sollte aber stattfinden, ohne das gesunde Selbstbewusstsein der Deutschen zu beschädigen.  

Anstatt mit Kindern in KZs zu fahren, oder ergänzend dazu, sollte ein Holocaust-Unterricht eingeführt werden, der die heroische Gründung Israels behandelt. Besonders für Schüler mit muslimischem Hintergrund, die von den Vernichtungslagern – so traurig das auch klingt –möglicherweise inspiriert werden. Lassen wir sie die Wahrheit über den arabischen Krieg gegen Israel erfahren und nicht linke Narrative übernehmen, in denen Israel die Palästinenser „unterdrückt“. Strunz spricht diese Idee kurz in seinem Kapitel über Antisemitismus an (und schlägt vor, das Problem mit einem Hashtag zu bekämpfen). 

Bevor wir deutsche Fahnen auf Schulhöfen hissen, so Strunz weiter, sollten Schüler außerdem verstehen, wofür die Farben Schwarz, Rot und Gold überhaupt stehen. Ich selbst bin da nicht so sicher, mir gefällt diese kontroverse Variante aus den USA besser: ein Manifest wie die Zehn Gebote auf den Rasen jeder Schule zu schreiben, um den Schülern moralische Grundsätze wie „Du sollst nicht töten“ ohne Wenn und Aber beizubringen. Und wenn ein irakischer Asylbewerber ein unschuldiges jüdisches Mädchen umbringt, dann wird sein Verbrechen so schnell wie möglich bestraft und eben nicht verdrängt, um zu verhindern, dass die Tat des Mistkerls ein unangenehmes Licht auf die „Fahne“ wirft. 

Aus meiner Sicht sollte außerdem die Rolle der staatlichen Schulen im Bildungssystem überdacht werden. Wenn staatliche Schulen zu viel Gewicht haben, verfolgen die Lehrpläne möglicherweise die Agenda der jeweils aktuellen Regierung. Privatschulen (und auch private Medien) sind bessere Labore, wenn es darum geht, selbstständiges Denken zu fördern und moralische Normen zu entwickeln, die von keiner Regierung gesponsert werden. So können sich tatsächlich aufgeklärte und fantasievolle „Dichter und Denker“ entfalten. 

Bürgerpflicht oder ziviler Ungehorsam?

Strunz ist bestürzt, dass die Deutschen ihr „Wir-Gefühl“ verloren haben und er möchte, dass sie pflichtbewusste, aktive Mitglieder von „Team Deutschland“ werden. Auch diese Vorstellung legt nahe, dass dem Staat tendenziell mehr Macht zugebilligt werden sollte, so dass Politiker wie Merkel und Steinmeier, die er mutig kritisiert, ebenfalls mehr Macht erhalten würden. Wenn es zum Beispiel ein soziales „Pflichtjahr“ gäbe, würden die meisten Schüler – so wie die Dinge jetzt stehen – zur moralischen Entschlackung wahrscheinlich die Arbeit bei einer radikalen Umweltorganisation oder pro-palästinensischen NGO wählen. Alles für ein „besseres“ Deutschland.

Mich spricht das amerikanische und jüdische Konzept viel mehr an: ziviler Ungehorsam, besonders gegenüber Unrecht. Die deutsche „Pflicht“ hat schon einmal eine Gesellschaft hervorgebracht, die allzu eifrig „Befehle ausgeführt“ hat. 

Heutzutage sind die konformistischen deutschen Sicherheitskräfte eifrig dabei, KEINE Befehle auszuführen, obwohl diese gegeben werden SOLLTEN, um die „Feinde unserer Gesellschaft“ schachmatt zu setzen – ein Phänomen, dass Strunz ausführlich und überlegt bespricht. Dieses „Pflichtgefühl“ erklärt vielleicht auch das Schweigen vieler Deutscher, die zu ängstlich waren, um sich gegen Merkels Flüchtlingspolitik auszusprechen und die unerbittliche, unangenehme Verleumdung der AfD, die bei diesem Thema „ungehorsam“ war (Strunz hält hier eine sichere Distanz). 

„Pflicht“ hängt eng zusammen mit einem anderen Thema, von dem die Deutschen besessen sind: Jobsicherheit. Kein Wunder, dass vielen deutschen Männern der Mut fehlte, ihren von Nazis protegierten Chefs nicht zu „gehorchen“ und sie später, im geteilten Deutschland, ohne Probleme entweder das amerikanische Modell des Kapitalismus oder den Kommunismus übernahmen. Manchmal wirkt Deutschland wie ein Land, das seine moralischen Grundsätze mühelos über Bord werfen würde im Tausch gegen vermeintliche wirtschaftliche Sicherheit. Das würde auch die Appeasement-Politik gegenüber den Mullahs oder der Türkei unter Erdogan erklären (über ihn ärgert sich Strunz besonders) und gegenüber anderen üblen Typen, die praktischerweise keine moralischen Forderungen an Deutschland stellen. 

Deutschland fehlt der Glaube, und ich meine das nicht im religiösen Sinn: der Glaube an die Kraft des Guten, an die Kraft, dem eigenen Herzen zu folgen und für das einzutreten, was richtig ist. Die Deutschen sind so von Angst beherrscht, äußere Sicherheit und Erfolg einzubüßen, dass sie nicht bereit sind, ethische Risiken einzugehen oder ihre Komfortzone zu verlassen. Aber der Glaube an die Vernunft lässt keine andere Schlussfolgerung zu, als dass das Universum auf lange Sicht das Gute belohnt. 

Vielleicht war Merkels Migrationskrise nötig, um Deutschland aus seinem seelischen Schlummer aufzuwecken, und deswegen sind Bücher wie dieses hier wichtig. Allerdings thematisiert Strunz das äußere System, nicht die innere, emotionale, intellektuelle, psychologische und ethische Welt, die – wenn sie vollkommen wäre – dazu führen könnte, dass Deutschland endlich Erlösung und sein Glück findet. Aber vielleicht ist dieser Job ja auch besser geeignet für eine nette jüdische Migrantin, die sich seltsamerweise in dieses Land verliebt hat und ihm aufrichtig das allerbeste wünscht.

Lesen Sie zum gleichen Thema von Orit Arfa auchDeutschland, ich bin verrückt nach Dir!

Orit Arfas jünstes Buch ist der Roman Underskin. Die deutsch-israelische Liebesgeschichte thematisiert die Irrtümer der „Seele“ dieses Landes und wie sie geheilt werden können.

Foto: Orit Arfa

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Leserpost

netiquette:

Thomas Teichmüller / 20.06.2019

An Deutschland haben sich schon viele die Zähne aus gebissen. Am meisten die Deutschen selbst. Vermutlich ist es der Idealismus der Deutschen, in dem sie krude und gefährliche Ideen hypen und sich dann ganz toll dabei finden, der das Land regelmäßig in den Abgrund treibt.

zsolt Hüter / 20.06.2019

Warum, Frau Arfa, ist es wichtig, dass Sie ... Deutschland “als Enkeltochter von Holocaust-Überlebenden” den Spiegel vorhalten? Wäre Ihre - auch meiner Meinung nach - richtige Argumentation weniger richtig, wenn Sie den Spiegel schlicht als Orit Arfa vorhalten würden? Wenn “ein irakischer Asylbewerber ein unschuldiges jüdisches Mädchen umbringt” ist das auch für jeden nicht jüdischen, redlichen Deutschen auch ein schlimmes, trauriges und inakzeptables Verbrechen. Indem Sie in diesem Zusammenhang besonders betonen, dass Ihre Großeltern Holocaust-Überlebende waren, Sie Jüdin sind und neben der Deutschen auch die Israelische Staatsbürgerschaft besitzen, verstärken Sie auf sehr subtile Weise ein diffuses Schuldgefühl heute lebender Deutscher, dass Ursache der - auch von mir so gesehenen - Deutschen Desorientierung ist, und gegen das Sie ja gerade - zu Recht - Argumentieren. Der mögliche Nebenaspekt der Erwähnung Ihrer Familiengeschichte, nämlich Ihre besondere Betroffenheit von den Ereignissen zu betonen, tritt da in den Hintergrund.

Bärbel Schneider / 20.06.2019

In den meisten Familien - zumindest in der unseren - wird ohnehin auch über die Eltern, Großeltern und Urgroßeltern geredet. Das beschränkt sich aber nicht auf deren Verhalten in den berüchtigten 12 Jahren und darf nicht dazu führen, dass sich die Kinder für deren möglicherweise schlimme Taten schuldig fühlen. Schuldig ist nur der Täter. Gerade die Juden haben doch erlebt, was für fürchterliche Folgen ihre angebliche Erbschuld am Tod von Jesus (“Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“) für sie selbst hatte. Wollen sie nach diesen Erfahrungen wirklich ein anderes Volk - alle Deutschen dieser und aller folgenden Generationen - ebenfalls in ein Erbschuldgefängnis sperren, mit all den bekannten schrecklichen Folgen?

Karl-Heinz Vonderstein / 20.06.2019

Die Deutschen sind heute so drauf, dass sie immer der Welt zeigen möchten, dass sie aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben. Sie wollen es jeden Recht machen oder zumindest das Gefühl vermitteln, es jeden Recht machen zu wollen. Auch möchten sie jeden zeigen, dass sie sich selber gerne zurücknehmen und dass das Schicksal der anderen ihnen immer wichtig ist. Im Ausland kommt das aber oft aufdringlich, anmaßend, moralisierend, lehrmeisterisch und bevormundend rüber und nur relativ wenige hierzulande bemerken das.  

Hans-Peter Dollhopf / 20.06.2019

Zeit ist Geld. Gott bewahre, meine mir verbliebene Geld-Zeit würde ich niemals mit dem Lesen von Strunz verschwenden.  Auf einer Uhr als Nussschale währt ein Menschenleben zwölf Stunden. Nach maximalem zoom-out umfasst die Uhr den gesamten Kosmos. Und in Demut vor den Maßstäben anerkennen wir uns sodann selbst als unendlich viel weniger als einen scheißenden Vogel oder einen zeitgenössischen Völkermörder. One of these mornings you’re gonna rise up singing And you’ll spread your wings and you’ll take to the sky

Marie-Jeanne Decourroux / 20.06.2019

Ein super Beitrag, liebe Frau Arfa! Was Sie schreiben, hat viel mit der Wertevermittlung zu tun. Deutsche Politiker und links-grüne Wortführer öffentlich-rechtlicher Medien beschwören unablässig »europäische Werte«, während ihr einziger Wert in Wirklichkeit ein absoluter Werte-Relativismus ist. Faktisch sägen sie an europäischen Werten wie keine Generation zuvor. Die neuesten Varianten sind »Ehe für alle« und (besonders von Seiten der Linken, Grünen und Liberalen ) die Forderung nicht nur von Straffreiheit (diese ist längst Gesetz), sondern eines deklarierten »Rechts« auf die Tötung ungeborener Kinder. In zwei Ländern der EU ist die »Euthanasie« von Kindern und Jugendlichen heute »legal« - vor wenigen Jahren noch ein »Beispiel der Nazi-Barbarei«. Im europäischen Parlament und in einigen Parlamenten der Mitgliedsstaaten wird heute über Menschenrechte und Grundwerte abstimmt, die bisher als unveräußerlich galten, oder als »unantastbar« (wie z.B. das Leben ungeborener Kinder). Zurecht schreibt Rémi Brague [Professor für Philosophie an der Sorbonne und an der Ludwig-Maximilians Universität München]: „Ich frage mich, ob »an Europa glauben« nicht der vollendetste Ausdruck eines absoluten Unglaubens ist und Europa ein Hort des Nihilismus“ [Aus: «Modérément moderne», Flammarion, Paris, März 2014]. Nur dieser Nihilismus (eine multikulturalistische Werte-Indifferenz) macht es begreiflich, dass die kulturelle Dimension der millionenfachen muslimischen Immigration von Politik und Medien völlig vernachläsdigt wird. Was europäische Werte in Wahrheit sind, hat Rémi Brague mit der Exzellenz der europäischen Philosophen in der »Pariser Erklärung« vom 7. Oktober 2017 zusammengefasst [googeln].

sybille eden / 20.06.2019

Ach Frau Arfa, was haben sie für schöne Träume !

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