Nachtrag zu meinem Leserbrief: Es muss genauer heißen “jüdisch-christliche Einflüsse”! Gerade das jüdische Volk hat mit seinen vielen großartigen Denkern zur Entwicklung eines modernen Europa beigetragen.
Zum ersten Mal, liebe Frau Lengsfeld, bin ich von einem Ihrer Artikel enttäuscht. Ich schätze Sie nämlich außerordentlich. Luther wird übermäßig glorifiziert. Er war unter anderem auch ein Antisemit und Hassprediger. Hitler hat sich in seinem Kampf gegen das Judentum oft auf ihn bezogen. Von der “Freiheit eines Christenmenschen” kann ja wohl im 16. Jahrhundert und bis heute keine Rede sein. Den armen Schäfchen wurde doch sehr deutlich gesagt, was sie zu glauben haben. Und auch wenn sie selber in der Bibel lesen konnten, hat ihnen das nicht geholfen, sondern sie in ihren Ängsten (Fegefeuer, ewige Hölle) und bedingungslosem Gehorsam noch bestärkt. Das ist heute kaum besser. Da kann ich wirklich nur sagen: Religiotie. Die Behauptung, dass nun ausgerechnet aus dieser archaisch-grausamen Religion, die auf einem Blutopfer beruht, (ähnliches Denken wie bei den Azteken) die Aufklärung, die Idee der Menschenrechte, die modernen Wissenschaften und die großen technischen und zivilisatorischen Erfolge erwuchsen, ist ja wohl ein Witz, aber ein schlechter. Das Christentum hat alle diese Werte nur bekämpft bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Nur ein paar süße Rosinen ( z.B. Nächstenliebe) stecken in einem ansonsten vergifteten Kuchen. Unser modernes Europa ruht auf vier verschiedenen Säulen: der Antike, christlichen und arabischen Einflüssen und vor allem der Aufklärung.
Gehört Luther zu Deutschland? Falsche Frage, gnädige Frau. Die Frage muß lauten: Würde Luther zum heutigen Deutschland gehören wollen? Die Antwort kennen wir, fürchte ich.
Es ist für mich unfassbar, wie man diese Marionette eines Kurfürsten, in deren Schriften sich die allerwiderlichsten Passagen der Rechtfertigung bedingungsloser Unterwerfung unter die gottgewollte Obrigkeit finden, zu einer Freiheitsikone des gesamten christlichen Kulturbereichs hochjubeln kann. Und ja, er hat auch mal kurz verbal -wie im Zitat wiedergegeben- gegen die Gottgewollten aufgemuckt. Dass er sie aber dann dazu aufruft, das aufrührerische Bauernpack des einzigen echten deutschen Be-freiungskrieges nach allen Regeln obrigkeitlicher Kunst abzuschlachten, wie es ja anschließend auch geschehen ist, zeigt doch allzu eindeutig, welche Verdienste er sich tatsächlich um die Freiheit der Christenmenschen erworben hat. Besonders skandalös finde ich, wenn Mai dies aus einem angeblichen Verantwortungsgefühl für die Grausamkeiten beider (!) Seiten heraus zu rechtfertigen versucht. Seinen Sponsoren also ein paar mahnende Worte, dem Pack aber alle nur erdenklichen Todesarten, gewidmet vom Freiheitsapostel der Deutschen ? Wenn schon Begründer, dann ist Luther für mich der ideologische Begründer des unseligen deutschen Obrigkeitsstaates protestantischer Tradition. Sich auf ihn zu berufen, passt viel besser zu der neobigotten Elite (vormals Obrigkeit) in Politik und Kultur unserer Tage.
Wenn eine die Meinungshoheit innehabende Gruppe, daran glaubt, die Wahrheit zu kennen und die Menschen in ihrem Sinne erziehen zu müssen, dann bedeutet das das Ende der Freiheit, das Ende aller Suche nach der Wahrheit, das Ende aller Neugierde, allen Wissensdurstes, aller offenen Diskussion. Es bedeutet einen langsamen Erstickungstod für das freiheitliche Denken. In so einer Zeit braucht es Menschen, die die Fenster wieder aufreißen, Mut zu eigenem Denken aufbringen, ganz im Sinne Martin Luthers. Auch er riss seinerzeit die Fenster auf und ermutigte die Menschen selber zu denken.
Hier wird Luther reichlich idealisiert: Er begehrte zwar gegen Papst und Kaiser auf, seine Lehre konnte sich letztendlich aber nur durchsetzen, weil die deutschen Fürsten (mit den Enteignungen des Kirchenbesitzes durchaus zu ihrem eignenen Vorteil) in ihren Ländern die Reformation einführten: Cuis regio, eius religio. Ob das für die Untertanen die “Freiheit eines Christenmenschen” bedeutet hat, kann bezweifelt werden. Das Luthertum war von Anfang an Staatskirchentum, in den skandinavischen Ländern offiziell bis ins 20. Jahrhundert hinein; in Deutschland zumindest de facto, siehe “Kulturkampf”, und nie gegen die Obrigkeit, siehe “Deutsche Christen”. Die Political Correctness der heutigen Amtskirche reiht sich da nahtlos ein. Luther hätte auch dafür sprachmächtige Rechtfertigungen gefunden - er war nicht das freie Individuum, das nur Gott und seinem Gewissen verantwortlich ist, sondern ein angstbesetzter Charakter, der Sicherheit suchte. Insofern typisch deutsch, und er gehört zu Deutschland.
„Europa entstand…vor allem aus dem Geist des Christentums, denn aus dem Geist des Christentums, insbesondere der Trinität, erwuchsen die Aufklärung, die Idee der Menschenrechte, die modernen Wissenschaften und die großen technischen und zivilisatorischen Erfolge… Europa wird christlich sein, oder es wird nicht sein. Das bedeutet ganz und gar nicht, dass alle Europäer Christen zu sein haben…sondern das verweist allein…auf christliche Grundlage und Identität unserer bürgerlichen Werte. Vergisst Europa diese, vergisst es sich selbst.“ Wer so formuliert, hat sich nie mit der antiken Kultur beschäftigt, weiß nichts vom Transfer der arabischen Kultur nach Mitteleuropa im 12. und 13. Jahrhundert, und hat wenig Ahnung von der Aufklärung, deren Denker nahezu alle politischer Werte heutiger Zeit formulierten. Ein wenig mehr Tiefgang darf man schon erwarten.
Dass nun „insbesondere (aus) der Trinität die Aufklärung erwuchs“, wie Herr Mai behauptet, ist kaum zu „glauben“! Oder gilt der Satz nicht mehr: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
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