„Wie antisemitisch ist Deutschland“ fragte Anne Will in ihrer letzten Sendung. Die Antwort ist schnell gefunden: Sehr. Über 70 Jahre Entnazifizierung und hunderttausende KZ-Besuche von Schulklassen später wird klar: Die weltweit einzigartige Erinnerungskultur der Deutschen war für die Tonne. Wir sind offiziell unverbesserlich. Nicht nur antisemitisch, sondern generell fremdenfeindlich. Daran ändert auch die Aufnahme von 1,5 Millionen Migranten, die uns nicht selten genauso wenig mögen, wie wir uns selbst, nichts.
Dabei wird in der Sendung viel behauptet und wenig belegt. Wo bei Themen wie dem Islam und der Flüchtlingskrise stets die Differenzierung angemahnt wird, findet sich in der Runde niemand, der den Rundumschlag gegenüber der deutschen Bevölkerung in Zweifel zieht. Der offensichtliche Widerspruch zwischen einer Nation, deren Angst vor der Rassismuskeule so weit geht, dass selbst die Opfer der Kölner Silvesternacht gegenüber der Polizei Hemmungen hatten, die mutmaßliche Herkunft ihrer Peiniger zu nennen, und einer angeblich überbordenden Fremdenfeindlichkeit, scheint auch an diesem Abend niemanden zu stören.
Dem unsäglichen Vergleich zwischen Antisemitismus und angeblicher Fremdenfeindlichkeit gegenüber Muslimen wird selbst von der Ausschwitz-Überlebenden Esther Bejarano anstandslos zugenickt. Dass es vor allem Muslime in den sozialen Medien sind, die auch heute noch gerne „Juden ins Gas“ schicken würden, wie man auf Seiten wie „Freiheit für Palästina“ und „Fuck Israel“ nachlesen kann, scheint keinem der Anwesenden bekannt zu sein. Vorwerfen kann man das der über 90-jährigen alten Dame sicherlich nicht, sehr wohl aber den verbleibenden Anwesenden und vor allem der Gründerin eines Arbeitskreises gegen Antisemitismus, Sawsan Chebli, deren Kampf gegen Judenhass anscheinend vor allem darin besteht, den ihrer Glaubensbrüder zu ignorieren.
Dabei geriet die Tochter palästinensischer Migranten ohnehin nicht sonderlich in Bedrängnis. Das Thema des muslimischen Antisemitismus fand, trotz der erst kürzlich entstandenen „unschönen“ Bilder brennender Davidstern-Flaggen aus Berlin und der darauffolgenden Diskussion, in den ersten zwei Dritteln der Sendung keinerlei Beachtung.
Erst als der Vater des in Berlin von Mitschülern gemobbten und bedrohten jüdischen Jungen zaghaft erwähnte, dass diese Attacken ausnahmslos „von Kindern türkischer und arabischer Abstammung“ – wie er „leider“ sagen muss – ausgingen, kam man kurz auf das ungeliebte Thema zu sprechen. Offensichtlich wäre es aber selbst dem Vater lieber gewesen, wenn der Täter Deutscher gewesen und die Diskussion damit politisch korrekt geblieben wäre.
Bedrohung vor allem aus dem muslimischen Milieu
Die Vermutung, der heutige Antisemitismus könne vielleicht stärker von Migranten als von Deutschen ausgehen, will Sawsan Chebli jedenfalls sofort entkräften. „90 Prozent aller antisemitischen Delikte wurden im vergangenen Jahr von Rechtsradikalen begangen", zitiert die Berliner Staatssekretärin eine Statistik. Der Zuzug von Geflüchteten sei dennoch eine Herausforderung, „weil diese Menschen auch in einem anderen Umfeld sozialisiert sind."
Eine Steilvorlage, bei der man als guter Moderator hätte noch einmal nachhaken und zum Beispiel fragen können, wie Frau Chebli gedenkt, diesen „Herausforderungen“ beizukommen. Eine Chance, die Anne Will leider genauso verpasste, wie das Hinterfragen einer Zahl, die so gar nicht zum öffentlichen Bild des Antisemitismus in Deutschland passt, das man nicht zuletzt bei den pro-palästinensischen Demonstrationen der letzten Jahre beobachten konnte.
Was ist also dran an Cheblis Zahl? Von den 681 gezählten Delikten im ersten Halbjahr 2017 wurden ganze 632 dem rechtsextremistischen Lager zugeordnet, was in etwa der von Chebli genannten Zahl entspricht. Lediglich bei einem Fall wurde ein linksextremes Motiv angenommen, obwohl vor allem die sogenannte „Israelkritik“ vom linken Spektrum ausgeht. 25 Delikte lassen sich gar nicht zuordnen und nur in 23 Fällen wurde ein religiös oder ausländisch motivierter Hintergrund unterstellt. Die Zahl der Delikte steigt insgesamt seit Jahren kontinuierlich. Werden wir Deutschen also tatsächlich immer antisemitischer oder liegt der Grund eher in der Ungenauigkeit der Statistik?
Zweifel an einem zunehmenden deutschen Antisemitismus äußerte u.a. Benjamin Steinitz, Leiter der Recherche- und Informationsstelle (RIAS) in Berlin. Auch er attestiert eine „Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Betroffenen von antisemitischen Angriffen, Beleidigungen und Beschimpfungen und den polizeilichen Statistiken“ unter Berufung auf den Bericht des „Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus“, der auf Anregung der Bundesregierung im April von namhaften Wissenschaftlern vorgelegt worden war.
So ergab eine von den Experten unter Juden in Deutschland durchgeführte Befragung ein völlig anderes Bild bezüglich der Gewichtung des Täterkreises. Acht Prozent der Befragten gaben an, Angehörige oder Bekannte seien „in den letzten zwölf Monaten“ körperlich attackiert worden, 36 Prozent sprachen von „verbalen Beleidigungen/Belästigungen“ und 52 Prozent von „versteckten Andeutungen“. Anders als die Statistik vermuten lässt, wurden besonders häufig muslimische Personen als Täter angegeben: 48 Prozent der verdeckten Andeutungen, 62 Prozent der Beleidigungen und 81 Prozent der körperlichen Angriffe gingen nach dieser Einschätzung von muslimischen Personen aus.“
Bitte keine Kippa tragen
Dies deckt sich nicht zuletzt mit Berichten aus dem polizeilichen Umfeld. Von einem LKA-Beamten aus Hessen heißt es hierzu: „Dass in Deutschland sämtliche Synagogen und jüdische Kindergärten unter Polizeischutz stehen, hat nichts mit einer Bedrohung von deutschen Rechtsextremen zu tun, sondern vor allem mit Bedrohungen aus dem muslimischen Milieu, zuvorderst von Salafisten.“
Das heißt nicht, dass es deutschen Antisemitismus nicht gibt, aber die Statistiken über das Ausmaß des rechtsextrem motivierten Antisemitismus in der Bundesrepublik sollten ebenso auf den Prüfstand gestellt werden, wie sein genereller Einfluss auf die heutige Bedrohungslage von Juden in Deutschland. Wer sich, wie die Kanzlerin, über die erneute Möglichkeit „jüdischen Lebens“ in Deutschland freut und sich kraftvoll dafür einsetzen will, dass dies auch weiterhin möglich ist, sollte hinterfragen, weshalb Juden vor allem in Gegenden mit hohem Migrantenanteil wie in Berlin Neukölln und Kreuzberg dazu angehalten werden, keine Kippa zu tragen.
Unterdessen zeigt das Beispiel Frankreich auf, dass es bereits wieder Gegenden in Europa gibt, in denen „jüdisches Leben“ nicht mehr möglich zu sein scheint. Allein 2015 wanderten 8.000 Juden aus Frankreich aus. Grund: Die wachsende Bedrohungslage für jüdische Bürger. 14 Juden wurden in den letzten Jahren in Frankreich ermordet. Nicht jeder Täter war Araber, aber alle waren Muslime. Der Fall der Rentnerin Sarah Hamili, die erst in ihrer Wohnung gefoltert und anschließend ihren Balkon hinabgestoßen wurde, bildet einen der traurigen Höhepunkte antisemitisch motivierter Taten in Frankreich, die vor allem dort stark ausgeprägt sind, wo der Anteil der Muslime besonders hoch ist. Auch hier lässt sich, ähnlich wie in Deutschland, seit längerem eine unheilvolle Verbindung von linken „Israelkritikern“ und Muslimen feststellen, die auch in Deutschland dafür sorgt, dass die Bedrohung durch den migrantischen Antisemitismus eine wohlwollende Verharmlosung erfährt.
Ohnehin lässt sich im linken Mainstream schon lange eine Verschiebung der Prioritäten im „antifaschistischen“ Kampf erkennen. Schon vor einiger Zeit musste der Einsatz gegen den Antisemitismus einem generellen Kampf gegen Rassismus, oder das, was man eben dafür hält, weichen. Längst sind Juden aufgrund der modischen „Israelkritik“ aus dem exklusiven Kreis der „zu Schützenden“ von der Linksbourgeoisie ausgeschlossen worden. Des Linken Lieblingsmündel ist der Moslem, und wer so dermaßen Opfer ist, kann unmöglich Täter sein.
„Früher hat man gesagt, die Juden sind an allem schuld, heute sind es die Flüchtlinge.“ Was wie eine Passage aus einem Jürgen-Todenhöfer-Posting auf Facebook klingt, ist in Wahrheit ein Zitat der Holocaust-Überlebenden Hanni Lévy auf dem Bundesparteitag der Grünen, für das sie frenetischen Applaus erhielt.
Die Frage ist, wann wir den Mut finden
Auch Esther Bejarano und Sawsan Chebli schreckten, wenn auch nicht mit ganz so deutlichen Worten, bei Anne Will nicht vor diesem geschmacklosen Vergleich zurück. Er zeigt, mit welch perfiden Mitteln Muslime und Linksgrüne das Schicksal und die Vergangenheit jüdischer Bürger instrumentalisieren, um jegliche Kritik an der derzeitigen Islam- und Flüchtlingspolitik im Keim zu ersticken. Indem man einen gemeinsamen Opferstatus von Juden und Muslimen suggeriert, verleiht man dem eigenen Weltbild eine Unantastbarkeit, die es unmöglich macht, Probleme zu benennen und Lösungen anzugehen, was im Endresultat dazu führt, dass sich der muslimische Antisemitismus weiterhin nahezu ungestört in Deutschland ausbreiten kann. Vertreter der jüdischen Community, wie prominente Holocaust-Überlebende und der Zentralrat der Juden, werden damit unbewusst zu Unterstützern ihrer eigenen Feinde.
Die Frage ist, wann wir den Mut finden, diesen Fehler in der öffentlichen Debatte anzusprechen. Nicht mehr davor zurückschrecken, auch Muslime in die Verantwortung zu nehmen und uns bewusst zu machen, dass wir nur eines sein können: entweder ein Land, das unbegrenzt muslimische Einwanderer aufnimmt und damit seine „antirassistische Katharsis“ weiter vorantreibt oder ein Land, in dem jüdische Mitbürger ebenso wie wir, „gut und gerne leben“. Langfristig wird sich bei diesem Ausmaß der Ignoranz gegenüber dem migrantischen Judenhass und der unbegrenzten Aufnahme von muslimischen Einwanderern der Antisemitismus nicht mehr als deutsches Problem zwangskollektivieren lassen. Die Leute haben Augen im Kopf, und sie merken, wenn die Realität auf der Straße zu sehr von dem abweicht, was sie im Fernsehen gesagt bekommen. Schon 2014 in Essen waren es Muslime, die „Heil Hitler“ bei einem antisemitischen Protest riefen, und nicht Deutsche.
Ich jedenfalls bin nicht mehr bereit, mich in moralische Geiselhaft zusammen mit Menschen nehmen zu lassen, die sonst auch zumeist nichts mit uns zu tun haben wollen. Ich bin nicht bereit, zu warten, bis „jüdisches Leben“ in Deutschland wieder unmöglich wird.