Die kleine Portion Hoffnung auf Reste rationalen Denkens in Ärzteorganisationen hat mit dem letzten Ärztetag schwer gelitten. Dabei geht es nicht allein um Corona. Die organisierte Ärzteschaft wird jetzt zum Klimakampf gerufen.
Zugegeben: Irgendwie und irgendwo hatte ich mir eine kleine Portion Resthoffnung bewahrt, dass wenigstens in der Ärzteschaft der Diskurs zum Thema Klimawandel – zumindest zu dessen gesundheitlichen Auswirkungen – noch Spurenelemente rationalen Denkens enthalten würde. Schließlich ist der Arztberuf nicht irgendein Job, sondern mit einer ungewöhnlich hohen Verantwortung für das gesundheitliche Wohl und manchmal gar das Leben Anderer verbunden. Da ist es auf Dauer für beide Seiten hilfreich, wenn der Mediziner sich bei seinem Handeln nicht von gefühlten Wahrheiten oder Ideologien leiten lässt, sondern möglichst von den evidenzbasierten Grundlagen und Feinheiten seines Faches. Im Idealfall in Verbindung mit einer grundsätzlichen Offenheit gegenüber immer wieder erforderlichen Feinjustierungen oder auch mal grundsätzlicheren Revisionen liebgewordenen Wissens.
„Klimaschutz ist Gesundheitsschutz“
Auf dem 125. Deutschen Ärztetag, der im November unter dem Motto „Klimaschutz ist Gesundheitsschutz“ in Berlin stattfand, ging es erwartungsgemäß nicht um Grundsatzdiskussionen zum Klimawandel. Für die hauptamtlichen Ärztefunktionäre und die in den einzelnen Landesärztekammern gewählten Delegierten ist das Thema ganz offensichtlich schlicht und einfach „gesettled“. Jetzt steht der heroische Kampf gegen die Klimakrise und die Sorge um die bedrohte Volksgesundheit im Fokus. Dabei gibt man sich besonders forsch und entschlossen. Vielleicht auch deshalb, weil dieser Klima-Ärztetag wegen Corona mit einjähriger Verspätung stattfand und damit aus Sicht der medizinischen Klimakämpfer nicht nur die Apokalypse näher gerückt ist, sondern auch das für den Endsieg noch zur Verfügung stehende Zeitfenster sich zwischenzeitlich weiter geschlossen hat.
Die einschlägige Beschlusslage des Ärztetages fällt zwar recht übersichtlich aus, hat es aber durchaus in sich. Zunächst wird die VR China von jeder Verantwortung für Entstehung und Freisetzung der damaligen Variante des Corona-Virus freigesprochen, denn: Schuld daran habe der Klimawandel, wie „jüngste Studien“ nahelegen würden. Dann wird auf einen doch etwas konstruiert wirkenden Unterschied zwischen den beiden aktuellen Geißeln der Menschheit hingewiesen: „Wir hoffen, die Corona-Pandemie mit den Mitteln bevölkerungsweiter Impfungen besiegen zu können. Der Klimawandel ist hingegen nur durch den nachhaltigen und energischen Einsatz aller gesellschaftlichen Kräfte aufzuhalten.“ Den Impf-Optimismus möchte ich hier unkommentiert lassen. Aber war früher ein energischer Einsatz für oder gegen etwas nicht vor allem Sache der fortschrittlichen gesellschaftlichen Kräfte?
Besondere Bedeutung der Ärzteschaft im Klimakampf
Auf jeden Fall sind aber bestimmte Teile der gesellschaftlichen Kräfte stärker gefordert, wie etwa die Ärzteschaft. Der komme nämlich „bei der Vermittlung intensiverer Anstrengungen (zum Klimaschutz) eine besondere Bedeutung zu“. Unentgeltlich kann dieses Engagement aber leider nicht erbracht werden. Vielmehr solle die „Aufklärung der Patienten über die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels“ eine „abrechenbare Leistung“ werden. Ok, ein Zuckerschlecken dürfte diese Volkserziehung schließlich nicht werden: Ab morgen Fleisch nur noch zweimal pro Woche! Zum nächsten Termin kommen Sie mit dem Fahrrad! Bei Sonne und Hitze nicht vergessen: Viel trinken und Mütze auf! Hausbesuche ab sofort nur noch bei Zimmertemperaturen unter 20 Grad. Hör‘ ich richtig, mit dem Flieger nach Gran Canaria? Dann suchen Sie sich doch schon mal einen neuen Hausarzt!
Des Weiteren wird „eine Klimaneutralität für das deutsche Gesundheitswesen bis zum Jahr 2030“ gefordert – selbstverständlich auch für die Ärztekammern. Die Hamburger Ärztekammer hat dieses Ziel nicht nur übernommen, sondern bereits erste praktische Klimaschutzmaßnahmen eingeführt und wird fortan für eine „klimagerechte Verpflegung bei Gremiensitzungen“ sorgen. Kein Witz – aber muss man denn wirklich bei der Arbeit essen?
Erhellend in Bezug auf mentale Verfasstheit und Stimmungslage der Delegierten sind auch die folgenden Diskussionsbeiträge: „Wir dürfen den Klimaschutz nicht nur predigen, sondern wir müssen ihn auch praktizieren“, „jeder einzelne von uns ist in seinem persönlichen Lebensstil gefordert“ oder auch „Wir müssen unser Leben umstellen und unsere Patienten mitnehmen“. Kurz und hoffnungsfroh zusammengefasst: Am deutschen Ärztewesen werden Volk und Klima ganz nachhaltig genesen!
Mit zwei Referentinnen zum Höhepunkt
Glaubt man der Berichterstattung des Deutschen Ärzteblatts (Heft 45/2021), waren der eigentliche Höhepunkt dieses Ärztetages die Vorträge der beiden geladenen Referentinnen. Klar, dass Präsident oder Präsidium beim Thema „Klimaschutz ist Gesundheitsschutz“ an der zwar kaum einschlägig ausgewiesenen, gleichwohl einzigen Lehrstuhlinhaberin für Klimawandel und Gesundheit, Sabine Gabrysch, nicht vorbeikamen. Dass für den zweiten zentralen wissenschaftlichen Vortrag auf einem Deutschen Ärztetag eine Aktivistin der Klimakampftruppe KLUG, die Jungärztin Sylvia Hartmann, eingeladen wird, ist aber doch, zurückhaltend formuliert, etwas irritierend.
Der Kollegin Hartmann blieb es vorbehalten, sich den gesundheitlichen Folgen des Klimawandels im engeren Sinne zuzuwenden. Soweit sich ihr Vortrag aus den Berichten der Standesmedien rekonstruieren lässt, trug sie erwartungsgemäß nach dem seit Längerem gültigen Strickmuster vor: Der Klimawandel hat ausschließlich negative gesundheitliche Folgen! Deshalb berücksichtigen wir Berichte über positive Auswirkungen grundsätzlich nicht. Dass auch in Zeiten des Klimawandels die Kälte der Hauptfeind des Menschen beim Überleben ist, hält Hartmann wahrscheinlich für eine Verschwörungstheorie. Gleichwohl hat sich genau das in einer (von Gasparinni u. Mitarbeitern) bei Lancet 2015 veröffentlichten, nahezu weltumspannenden Studie – für den Untersuchungszeitraum von 1985 bis 2012 – wieder bestätigt: Von den temperaturabhängigen Todesfällen waren 7,3% auf niedrige und nur 0,4% auf hohe Temperaturen zurückzuführen.
Diese Ergebnisse dürften vielen, darunter auch dem klima-aktivistischen Lancet-Herausgeber, kaum gefallen haben. Jedenfalls wurde zwei Jahre später, wieder von Gasparinni u. Mitarbeitern, eine Langzeitprojektion bis 2099 (!) nachgeschoben, die – wenn man denn dieser Art von Modellierungen überhaupt vertrauen mag – für unsere Breiten allerdings weiterhin nicht die erwünschten schlechten Botschaften enthält. Auch für ein „mittleres Klimawandel-Szenario“ (RCP 4.5) fällt der Rückgang bei den kältebedingten Todesfällen stärker aus als der Anstieg bei den wärmebedingten Todesfällen. Solche Ergebnisse hätten die Mehrheit der Ärztetags-Delegierten sicherlich überrascht, etliche allerdings auch auf dem falschen Fuß erwischt.
Das Übliche
Bei Hartmann geht es stattdessen weiter mit einer für dieses Metier typischen Volte, wenn sie alle durch irgendwelche Extremwetter-Ereignisse geschädigten Personen pauschal zu Opfern des Klimawandels erklärt. Schließlich gab es früher ja weder Hochwasser noch Stürme oder gar Starkregen. Auch darf natürlich nicht der Hinweis auf die verlängerte Pollensaison von bestimmten Pflanzen fehlen, samt der dadurch bedingten Zunahme von allergischen Erkrankungen der Atemwege. Die Datenlage für Deutschland ist allerdings komplex und lückenhaft und erlaubt solch einseitige Interpretation nicht, so plausibel sie vielleicht auch erscheinen mag. Schließlich erschreckte Hartmann ihre überwiegend ja nicht mehr ganz jungen Zuhörer mit einer geradezu schockierenden Botschaft: Auch die Alzheimer-Demenz werde durch den Klimawandel häufiger. Keine Sorge, liebe Leser, das hat nun gar nichts mit follow the science zu tun, ist vielmehr hochgradig spekulativ und bedarf keines weiteren Kommentars.
Hartmanns Exkurs zur drohenden Zunahme von Infektionskrankheiten und Ausbreitung von exotischen Insekten – besonders beliebt: die asiatische Tigermücke – ist der übliche, weitgehend substanzlose Alarmismus. Im Hier und Jetzt ist sowohl aus ärztlicher als auch Patientensicht ein anderes Tierchen ungleich relevanter: die gute alte Krätzmilbe. Die allerdings kommt nicht wegen des Klimawandels in Deutschland wieder häufiger vor, sondern wegen des Migrantenzuzugs von 2015ff.
Systematische Verzerrung und ein Kälterekord
Neben dem Verschweigen unpassender Ergebnisse unterliegt das ganze Thema noch einer weiteren systematischen Verzerrung: Kaum jemand wird ernsthaft Fördergelder für ein Projekt einzuwerben versuchen, in dem es (auch) um positive gesundheitliche Auswirkungen des Klimawandels geht. Die Mühe kann man sich sparen. Ganz zu schweigen von dem anschließenden Problem, die Ergebnisse bei einer möglichst renommierten, international beachteten Fachzeitschrift unterzubringen. Da drängen sich dem Autor gewisse Parallelen zur Tagesschau auf, die eben (14.12.) lang und breit über den „Hitzerekord“ in der Arktis berichtete. Dass es in diesem Jahr auch einen „Kälterekord“ in der Antarktis gab, blieb dabei selbstverständlich unerwähnt.
Und die andere Referentin? Gabrysch hat offenbar einen ihrer Standardvorträge zum Thema Planetary Health gehalten. In leichter Sprache: Alles auf Mutter Erde hängt mit allem irgendwie zusammen. Wenn es in der Hamburger Ärztekammer künftig klimagerecht zugeht, wird das irgendwie auch den Bäuerinnen in Bangladesh zugute kommen – aber Spaß beiseite: Ich fürchte, die Dame ist beinhart und das nicht nur auf Twitter – „Sofortmaßnahmen: Gesellschaft umgestalten, Klimawandel eingrenzen“. Sie wird uns kraft ihrer Mitgliedschaft in einem wichtigen Sachverständigengremium (WBGU) noch viel Ärger und Pein bereiten. Auch in ihrem Vortrag auf dem Ärztetag gibt sie sich aktivistisch: „Würde man aufhören, fossile Energien (!) zu verbrennen, um den Klimawandel zu stoppen, würde dies schätzungsweise 3,6 Millionen Todesfälle pro Jahr allein durch Luftverschmutzung vermeiden – viele davon in Europa.“ Und, dazu passend: „Ärzteversorgungswerke könnten Milliarden für unsere Altersvorsorge in fossile Energien desinvestieren.“
Ich weiß weder, ob die geschätzten Todesfälle solide berechnet wurden noch wie sich ein solches „Desinvestment“ auf meine Rente auswirken würde, habe da aber so meine Befürchtungen. Was ich allerdings weiß, ist, dass der von Gabrysch offensichtlich favorisierte noch frühere Ausstieg aus Kohle, Erdöl und Gas noch massivere ökonomische, soziale und nicht zuletzt auch gesundheitliche Kollateralschäden nach sich ziehen würde. Weder der Verlust des Arbeitsplatzes noch das Abklemmen der Stromversorgung – weil die stark gestiegene Rechnung nicht mehr bezahlt werden kann – noch auch nur das drastische Herunterfahren der Zimmertemperatur sind schließlich gesundheitsneutrale Maßnahmen. Dass den geschätzten Kollegen auf dem Deutschen Ärztetag ähnliche Gedanken beim Vortrag von Gabrysch durch den Kopf gingen, darf bezweifelt werden. Wahrscheinlich gab es freundlichen und vereinzelt gar euphorischen Beifall.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Geriater und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.