Der Politikwissenschaftler John Mearsheimer ist als Kritiker westlicher Außenpolitik auch hierzulande bekannt und umstritten. Teilweise zu Recht, dennoch ist es interessant, sich seine Gedankenwelt anzuschauen.
Der amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer hat seit dem russischen Angriff auf die Ukraine auch in Deutschland eine gewisse Bekanntheit als Kritiker amerikanischer Außenpolitik erlangt. Der bekennende Realpolitiker ist im wahren Sinne des Wortes umstritten, teils zu Unrecht, teils aber auch zu Recht. Den Ukraine-Krieg hat er aufgrund seiner realpolitischen Analyse schon 2014 ziemlich genau vorhergesagt, mit anderen Analysen lag er falsch: Lange unterschätzte auch er die machtpolitischen Ambitionen Russlands, sagte Bürgerkriege in Europa voraus, und seine geradezu obsessive Kritik an der Unterstützung Israels durch die USA ist nur schwer nachvollziehbar, gerade im Lichte seiner sonst vernunftgeleiteten außenpolitischen Ansichten. Dazu noch weiter unten.
Sein 2018 bei Yale University Press erschienenes Buch The Great Delusion – Liberal Dreams and International Realities ist die Zusammenfassung seiner Ansichten zu den Prinzipien einer – wie er sie nennt – realistischen Außenpolitik und eine theoretisch tiefgehende und fundierte Analyse der Fehler des liberalen Interventionismus. Bei allen Vorbehalten, die man der realpolitischen Theorie der Außenpolitik gegenüber geltend machen kann, lohnt sich die Lektüre des Buches durchaus. Denn es enthält eine schlüssige Erklärung des Zusammenhangs zwischen der liberalen Demokratie im Inneren der USA (und ebenso in den westeuropäischen Ländern) und ihrer interventionistischen Außenpolitik in den letzten Jahrzehnten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Auch trifft Mearsheimer in dem Buch einige Feststellungen über die negative Rückwirkung der liberalen, aktivistischen Außenpolitik auf die innere Verfasstheit der westlichen liberalen Demokratien, die in vielem dem entspricht, was wir heute in Deutschland erleben.
Das Ziel ist die liberale Hegemonie
Mearsheimers These ist, dass die Vereinigten Staaten nach dem Zusammenbruch des Kommunismus als alleinige übriggebliebene Weltmacht unabhängig von der Parteizugehörigkeit der jeweiligen Präsidenten eine liberale Außenpolitik verfolgte, mit dem Ziel, die „liberale Hegemonie“ in der ganzen Welt zu etablieren. Die außenpolitische Elite, die eine reflexartige Feindseligkeit sowohl dem Nationalismus, als auch dem Realismus gegenüber pflege, wollte so viele Länder wie nur möglich in liberale Demokratien verwandeln. (An dieser Stelle sei angemerkt, dass Mearsheimer unter Nationalismus nicht die bösartige, mörderische Variante versteht, auf die die Bedeutung des Wortes in Deutschland reduziert wurde. Es geht ihm vielmehr um die emotionale, kulturelle Identifikation der Individuen mit ihrer jeweiligen Nation und ihre Bereitschaft, für sie einzustehen.)
„Im Wesentlichen waren die Vereinigten Staaten bestrebt, die Welt nach ihrem eigenen Bildnis neu zu erschaffen“, resümiert Mearsheimer. Diese Politik scheiterte bisher nicht am ungeschickten Vorgehen oder an unglücklichen Zufällen. Sie sei prinzipiell zum Scheitern verurteilt, so der Autor, denn sie stehe im Widerspruch zu Nationalismus und Realismus, deren Einfluss auf die internationale Politik gesetzmäßig stärker sei als der des Liberalismus.
Warum ist das so? Mearsheimer ist davon überzeugt – und die Tatsachen sprechen für ihn –, dass es niemals eine Einigung in der Welt darüber geben könne, was das „gute Leben“ sei. Menschen sind soziale Wesen, die vom Anfang ihres Lebens an von Gemeinschaften geprägt werden. Deshalb hängen die Auffassungen des Einzelnen vom guten Leben nebst der einmaligen Persönlichkeitsstruktur vor allem von der „kulturellen Software“ ab, die ihm die Gesellschaft in täglichen Interaktionen in seinen prägenden Jahren bereitgestellt hat. Am Ende aber ist die Vernunft der finale Faktor, der darüber entscheidet, welchen innersten Überzeugungen der Mensch schließlich folgen wird, aber seine Instinkte, Intuitionen stammen von der kulturellen Prägung. Das bedeutet nicht, dass der Mensch ein Gefangener seiner Gefühle und der Sozialisation sei, doch „selbst uneingeschränkte Vernunft kann nicht zu einer universellen Übereinkunft über das gute Leben führen“.
Länder, Nationen, Gemeinschaften unterscheiden sich grundlegend von einander. Die geographische Lage, das Klima, die Topographie, die Zufälle der langen gemeinsamen Geschichte, die Besonderheiten der Sprache bringen unzählige Sitten, Traditionen und Auffassungen vom guten Leben hervor. Doch die „größten Verschiedenheiten entstehen dadurch, dass Menschen ihre Befähigung zu kritischem Denken nutzen und zu verschiedenen Schlussfolgerungen über das gute Leben gelangen.“
Verantwortlich für die Rechte aller Erdenbürger
Trotzdem sind viele, in erster Linie Liberale, davon überzeugt, dass es universelle Prinzipien und eine objektive Wahrheit darüber gebe, was das gute Leben ausmacht. Diese Vorstellung kulminiert in der Annahme, dass es universelle Menschenrechte gebe, die nicht erst durchgesetzt werden müssen, sondern durch das Menschsein allein für jeden gegeben seien. Mearsheimer lehnt die Existenz „universeller und unveräußerlicher“ Menschenrechte nicht nur deshalb ab, weil ihr der Gegenpart, die Weltregierung fehlt, und die es seiner Auffassung nach niemals geben werde. Noch wichtiger sei, dass „wenn Liberale über unveräußerliche Rechte sprechen, sie de facto definieren, was das gute Leben ist“. Dies jedoch habe gefährliche Konsequenzen: „Die Tatsache, dass viele Menschen glauben, es gebe eine universell gültige Wahrheit, die sie erkannt haben wollen, verschlimmert die Lage, weil das Denken in absoluten Kategorien es sehr erschwert, Kompromisse einzugehen und Toleranz zu üben.“
Bewaffnet mit der Ideologie der universellen Menschenrechte tendiere der Liberalismus zur Intoleranz, obwohl gerade Liberale als Kämpfer für die individuelle Freiheit dafür eintreten, dass jeder nach seinen eigenen Vorstellungen glücklich werden soll. Trotzdem sind die meisten Liberalen der Überzeugung, dass die liberale Demokratie allen anderen politischen Ordnungen überlegen sei, und deshalb in der ganzen Welt nur diese eine Ordnung eine Existenzberechtigung habe.
Wenn man den Blick über die Länder der Erde schweifen lässt, fällt auf, dass die nationale Überzeugung allgegenwärtig ist, nicht jedoch der Liberalismus. Mearsheimer meint, Liberale übertrieben die Wichtigkeit individueller Rechte, weil deren Einfluss auf das alltägliche Leben geringer sei, als Liberale glaubten. „Tatsächlich fehlt dem Liberalismus nicht nur die Fähigkeit, den Zusammenhalt einer Gesellschaft zu sichern, er hat auch das Potential, diesen Zusammenhalt aufzuzehren und letztlich die Fundamente der Gesellschaft zu beschädigen.“ Während der Liberalismus den Menschen als seinen eigenen Interessenvertreter sieht, sei der in Wirklichkeit ein soziales Wesen, das eine starke Loyalität der eigenen Gruppe, der Familie, der Region, der Nation und der Glaubensgemeinschaft gegenüber empfinde. Die nationale Überzeugung sei deshalb stärker im Einklang mit der menschlichen Natur und viel weiter verbreitet als das Interesse an der liberalen Demokratie.
Die zentrale Annahme des Liberalismus, dass es universelle Menschenrechte gebe, führt dazu, dass sich Liberale für die Rechte aller Erdenbürger verantwortlich fühlen und in deren Interesse bereit sind, überall zu intervenieren, auch mit den Mitteln des Krieges. „Liberale Außenpolitik ist sehr ambitioniert und entschieden interventionistisch.“ Häufig, wie auch im Falle der Vereinigten Staaten, verstärkt der eigene Nationalismus das Gefühl, man sei als Liberaler anderen weit überlegen, was den Drang zur Mission noch weiter verstärkt. „Es entsteht eine explosive Kombination zwischen nationalem Chauvinismus und liberalem Idealismus“, schreibt Mearsheimer. Und so kommt es, dass bei aller Betonung der Friedensliebe liberaler Demokratien, der Krieg als akzeptables Mittel gesehen wird, um die Menschenrechte zu verteidigen und die liberale Demokratie in der Welt zu verbreiten.
Aufteilung der Welt in Gute und Böse
Es sind vor allem die kosmopolitischen Eliten, die das Projekt der liberalen Hegemonie vorantreiben. Die moralisch wohlklingenden Parolen wie Rechte und Frieden, verbunden mit der Chance auf lukrative Beschäftigungsmöglichkeiten im außenpolitischen Establishment erklären, warum die liberale Elite so hingebungsvoll für die interventionistische Außenpolitik steht, selbst wenn das Unheil, das sie anrichtet, schon abzusehen ist. Und das Unheil geschieht auf jeden Fall: Denn Menschen, die in Nationalstaaten leben, wollen ihre Politik selber bestimmen und lehnen die Einmischung von außen ab. Die Erfahrung lehrt, dass das Zielland heftigen Widerstand leisten wird, den Terrorismus mit inbegriffen. Auch erschwert die liberale Außenpolitik das Finden von diplomatischen Lösungen, denn liberale Staaten betrachten autoritär regierte Staaten der diplomatischen Bemühungen nicht würdig. Sie teilen die Welt in Gute und Böse auf, zwischen denen es keinen Raum für Kompromisse gibt, deshalb erscheint nur die bedingungslose Kapitulation akzeptabel.
Missionarische Außenpolitik können sich nur starke oder vermeintlich starke Mächte leisten, ihre Zielgebiete sind – wegen der zu erwartenden Kosten – in der Regel schwache Länder. Die USA waren nach dem Ende des Kalten Krieges die Speerspitze des Angriffs auf die Souveränität anderer Länder (wobei die Deutschen mitgemacht haben, wo und wie sie konnten, fügen wir hinzu). Zu einer militärischen Intervention sind nur Großmächte imstande, aber für Schwächere stehen auch andere Mittel zur Einmischung zur Verfügung: durch sie finanzierte und organisierte NGO, die Unterstützung bestimmter Parteien und Politiker oder auch die öffentliche Beschämung des Landes. Wie das funktioniert, davon können Ungarn und Polen ein Lied singen.
Neben ihren destabilisierenden Auswirkungen auf ganze Regionen oder sogar auf die ganze Welt richtet die interventionistische Außenpolitik auch nach innen, im Inneren des liberaldemokratischen Staates großen Schaden an. Nicht erst der Ukraine-Krieg hat in den USA dazu geführt, dass Regierungen ihre Geheimnisse haben und diese sorgfältig hüten. Während des Vietnam-Krieges, der Kriege im Nahen Osten wurden individuelle Rechte vielfach verletzt und die Rechtsstaatlichkeit missachtet. Als Beispiel führt Mearsheimer das Gefängnis Guantanamo, das illegale Abschieben vermeintlicher Terroristen in gesetzlose Staaten oder auch das illegale Abhören von Millionen eigener Staatsbürger an. Man wittert überall innere Feinde, sucht nach illoyalen oder gar dem Krieg feindlich eingestellten Bürger, kritische Ansichten werden verfolgt, Medien gleichgeschaltet, Bürger illegal beobachtet, Whistleblower verfolgt und kaltgestellt. Dabei ist es „für liberale Demokratien absolut notwendig, die Geheimhaltung zu minimieren und die Transparenz zu maximieren – doch die Verfolgung des Ziels der liberalen Hegemonie hat genau den entgegengesetzten Effekt.“
Realistische kontra liberale Außenpolitik
Die Kritik des liberalen Sendungsbewusstseins zeigt schon die Umrisse einer realistischen Außenpolitik, wie sie Mearsheimer vorschwebt. Realpolitik haftet das Odium der kalten Machtpolitik an, und sicherlich sind ihre Anhänger die Verlierer, wenn es um den Vergleich mit den scheinbar hochherzigen, durch warme Emotionen untermauerten Kriegszielen liberaler Demokraten (oder auch unserer Grünen) geht. An dieser Schwäche wird sich wohl nichts ändern lassen, zumal Realpolitiker kein romantisch eingefärbtes, harmonisches Bild der Welt bieten können und wollen.
Sie sehen die Welt vielmehr als einen anarchischen Ort, an dem ein ununterbrochener Machtkampf stattfindet. In Zeiten wie diese, in denen es mehr als eine Großmacht gibt – was die Regel ist –, müsse das Ziel einer Großmacht sein, das Machtgleichgewicht zu erhalten und die eigene Position zu stärken. Da nicht ideologiegetriebene Großmächte die gleichen Interessen auf ihr Land bezogen vertreten, wird die anarchische Welt zumindest, was die Großmächte betrifft, durchaus berechenbarer und deshalb friedlicher. Machtgleichgewicht ist für Mearsheimer ein viel verlässlicherer Garant für Frieden, als internationale Institutionen, die er im besten Fall für wirkungslos, im schlimmsten – und realistischen – Fall für Instrumente von Großmächten oder Gruppen von Staaten hält.
Während die liberale Außenpolitik optimistische Erwartungen hat, gehen die Realisten davon aus, dass Versuche, einen Regimewechsel von außen zu erzwingen, durch den allgegenwärtigen Nationalismus und Stammeszusammenhalt unweigerlich zum Scheitern verurteilt sei. Für Mearsheimer scheinen Instabilität und Unordnung die größten Verursacher menschlichen Elends zu sein, und Schritte, die dazu führen, seien deshalb unbedingt zu vermeiden. Realpolitiker rechnen immer damit, dass Kriege unbeabsichtigte Konsequenzen mit sich bringen und auch Länder destabilisieren können, die am Konflikt gar nicht beteiligt sind. Ein Beispiel dafür könnte die durch die amerikanischen Nahostkriege losgetretene Migrationswelle nach Europa sein (wozu freilich auch die spezielle Innenpolitik der westeuropäischen Länder beigetragen hat). Da Realpolitiker eher bereit seien, mit dem Unvorhersehbaren zu rechnen, seien sie womöglich zögerlicher, Kriege zu beginnen.
Die kurze Epoche, in der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Amerika die einzige Großmacht war, ist vorbei. Wir leben in einer multipolaren Welt mit mindestens drei Großmächten: Amerika, China und Russland. Kriege mit dem Ziel des Regime- und Systemwechsels oder der Nationenbildung sollten unbedingt unterlassen werden. Vor jedem Krieg müsse die entscheidende Frage gestellt werden: „Was ist das Beste für das amerikanische Volk?“
Für Amerika gibt es nach Mearsheimer außerhalb ihrer unmittelbaren Nachbarschaft nur drei Regionen, die von starkem strategischem Interesse seien: Europa, der Persische Golf und Ostasien. Was bedeutet: Die Vereinigten Staaten sollten keine Kriege in Afrika, Zentralasien und im Nahen Osten außerhalb des Persischen Golfes führen. Wie schon eingangs darauf hingewiesen, scheint er auch hier davon auszugehen, dass die Existenz Israels keinerlei strategische Bedeutung habe, und deshalb nicht von den USA unterstützt werden solle.
Sein Problem mit Israel hat Mearsheimer in vielen Artikeln und 2007 in einem ganzen Buch dargelegt. Merkwürdigerweise lässt er die Amerika empfohlene realpolitische Sichtweise für Israel nicht gelten. Dass Israel keine Rolle bei der Stabilität der Region um den Persischen Golf spielt, ist Unsinn, ebenso die Behauptung, Israels arabische Staatsbürger seien „Staatsbürger zweiter Klasse“. Der wichtigste Grund für Mearsheimers antiisraelische Haltung scheint zu sein, dass er glaubt, die amerikanische Unterstützung Israels schade den USA im arabisch-muslimischen Raum, was in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen ebenfalls nicht den Tatsachen entspricht. Mearsheimer ist bemüht, seine Argumentation gegen die amerikanische Unterstützung Israels rein rational erscheinen zu lassen, was aber im Lichte gerade seines Realpolitik-Buches tatsächlich eher ein Schein ist. Ob das auch bedeutet, dass er ein Antisemit ist, kann die Autorin dieser Zeilen nicht beantworten.
Auch wenn man von der Israel-Frage absieht, sind Mearsheimers Ansichten unter der amerikanischen Elite milde gesagt nicht mehrheitsfähig, nicht einmal unter den Republikanern. In der Absolutheit, wie er sie in dem Buch mit geradezu militärischer Strenge vorträgt (er ist Absolvent der West-Point-Militärakademie) kann man einiges nicht gelten lassen, aber vieles von dem, was er schreibt, ist bedenkenswert. Und es wäre gewiss hilfreich, wenn außenpolitische Entscheider einige seiner Vorschläge ernsthaft erwägen würden.
John Mearsheimer: The Great Delusion – Liberal Dreams and International Realities, Yale University Press, 2018