Sabine Drewes, Gastautorin / 09.11.2018 / 06:25 / Foto: Pixabay / 42 / Seite ausdrucken

Wider die falschen Analogien zum 9. November

Von Sabine Drewes.

Im Vorfeld des 9. November habe ich lange darüber nachgedacht, ob man heute, hundert Jahre nach dem 9. November 1918 und achtzig Jahre nach dem 9. November 1938 auch noch an den 9. November 1989 erinnern darf. Ich bin zu dem Schluss gekommen: man darf nicht nur, man muss sogar. Denn selten sind so viele falsche Analogien zur Geschichte gezogen worden wie heute.

Der Fokus der diesjährigen Reden wird sicher auf der Mahnung liegen, „wir Deutschen“ dürften nie wieder „andere Menschen“ ausgrenzen. Unter den Tisch fallen dürfte dabei, dass die ersten Opfer von Hitlers Politik die Deutschen selber waren. Wie kann ausgerechnet die Partei Kurt Schumachers (der Hitlers Diktatur im Konzentrationslager überlebte!) das vergessen, eine Partei, die im Deutschen Reichstag im Kampf gegen das aufziehende Unrecht mit folgendem verzweifelten Spruch Otto Wels‘ in die Geschichte einging: „Wir sind wehrlos, wehrlos ist aber nicht ehrlos“? Und vor achtzig Jahren sind in Deutschland bei den Pogromen gegen Juden Teile des eigenen Volkes auf denkbar übelste Weise stigmatisiert worden. Sie waren Deutsche, die sich in ihrer großen Mehrheit als solche empfunden hatten, und die nicht begreifen konnten, was ihr eigener Staat ihnen antat.

Es ist bemerkenswert, wenn viele der Leute, die heute ein „Viertes Reich“ aufziehen sehen und eine erneute Ausgrenzung von Menschen beklagen, selbst die eifrigsten Ausgrenzer der Gegenwart sind. Die Sachsen können ein Lied davon singen. Selten hat ein Teilvolk seit 1990 so viel an Häme, Schmäh, Hass und Hetze ertragen müssen. Es sollten wieder Bomben auf Dresden fallen, um Sachsen sollte eine Mauer gezogen, die AfD dort eingesperrt und der Freistaat mit Napalm ausgelöscht werden. Auch kursierte ein Aufruf, der eine eindeutige Aufforderung zu einem „Kauft nicht bei Sachsen!“ enthielt. Es macht einen sprachlos, wie wenig diese Ungeheuerlichkeiten die sonst so hochmoralisch veranlagten Gemüter empört hat.

Der amerikanischen Politik ist zu danken

Wohl nicht nur ich frage mich, ob Joachim Gauck, obwohl selbst ein Ostdeutscher mit leidvoller Diktaturerfahrung, sich eigentlich bewusst ist, wie viel Unheil er anrichtete, als er vor wenigen Jahren mit seiner Pauschalbezeichnung der östlichen Bundesländer als „Dunkeldeutschland“ und der westlichen als „ein helles Deutschland“ das lange widernatürlich geteilte Land erneut spaltete.

Ach, hätte Gauck doch nur die Freiheit wirklich zum Thema seiner Bundespräsidentschaft gemacht! Damit wäre allen Deutschen gedient gewesen. Dann wäre jenen, die sie für allzu selbstverständlich halten, vielleicht endlich bewusst geworden, wie wenig selbstverständlich unsere auf westlichen Werten basierende Freiheit in Wahrheit ist und dass es die Bewahrung eben dieses Rechts auf Freiheit und Selbstbestimmung ist, die am Ende über das Schicksal unserer Nation entscheiden wird.

Die deutsche Geschichte nach 1945 ist beklagenswerterweise weder im Schulunterricht noch in Politik und Medien je groß thematisiert worden. Umso leichter setzt sich das neue „Narrativ“ durch, nach dem die Achtundsechziger – neuerdings auch die Zuwanderer – uns Frieden, Freiheit und Wohlstand beschert hätten. Den schnellen Aufstieg der Bundesrepublik unter Adenauer und die Wiedervereinigung ihres Landes unter Kohl aber haben die Deutschen in nicht unerheblichem Maße einer amerikanischen Politik zu verdanken, die deutsche Interessen stützte und schützte.

Berechtigte Kritik an den USA gleitet oft in einen hasserfüllten Antiamerikanismus bei zugleich groteskem Putin-Verständnis ab. Damit machen viele Deutsche sich zu Totengräbern unser aller Freiheit, deren Schutzschild weiterhin die USA und die NATO sind. Zugleich stiehlt die deutsche Politik sich aus ihrer Verantwortung für den beklagenswerten Zustand der Bundeswehr, der es ihr praktisch unmöglich macht, im keineswegs für alle Zeiten ausgeschlossenen Ernstfall – wie es im Gelöbnis der Soldaten heißt – „das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“.

Jene andere Grenzöffnung vom 9. November 1989

Wenn heute von der „Grenzöffnung“ die Rede ist, denken die meisten wohl an das Jahr 2015. Aus gutem Grund. Dennoch sollte gerade heute jene andere Grenzöffnung vom 9. November 1989 nicht in Vergessenheit geraten, in deren Folge der real existierende Sozialismus zusammenbrach.

Man wird das Gefühl nicht los, die Kanzlerin möchte gerne auf eine Stufe gestellt werden mit ihrem Vorvorgänger Helmut Kohl. Der hatte 1989 jene Öffnung der Grenzen mit einer klugen Politik begleitet und kanalisiert, was von Merkel wohl niemand mehr behaupten wird. Es wäre schräg, die Grenzöffnung von 2015 auch nur in die Nähe derjenigen von 1989 zu rücken. Noch schräger ist es allerdings, in heutigen Forderungen nach Schließung der deutschen Grenzen – und damit nach der Wiederherstellung des Rechts – eine Rückkehr zu Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl zu sehen.

Diese Unterstellung verhöhnt alle Opfer, die an der Berliner Mauer und entlang der Zonengrenze schwer verletzt oder getötet worden sind, sie verhöhnt alle Menschen, die von nichts anderem als von ihrem Recht auf Freizügigkeit oder Meinungsfreiheit Gebrauch machen wollten, dafür in etlichen Haftanstalten des SED-Regimes verschwanden und dort buchstäblich durch die Hölle gegangen sind. Viele von ihnen sind daran zerbrochen und für immer fürs Leben gezeichnet; unzählige Lebensläufe wurden für alle Zeiten zerstört.

Es ist Leuten wie dem unbeirrbaren und unbeugsamen Hubertus Knabe zu verdanken, dass die Erinnerung daran nicht völlig unterging, es ist besonders ihm zu verdanken, dass die Verbrechen der SED-Diktatur so schonungslos aufgearbeitet wurden und die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit auch der Öffentlichkeit in Buchform zugänglich sind.

Nur so können die Menschen für die Gefahren sensibilisiert werden, die von menschenverachtenden Ideologien ausgehen. Knabe musste kürzlich unter fadenscheinigen Begründungen als Leiter der Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen gehen. Es steht zu befürchten, dass künftig die Erinnerung an eine über vierzig Jahre lang währende brutale Diktatur noch mehr als bisher dem Vergessen überantwortet wird. Schon heute ist – gerade bei den Jüngeren – das Wissen über dieses Kapitel der deutschen Geschichte kaum noch präsent.

Im Rahmen der „Aktion Ungeziefer“

Wer weiß beispielsweise, dass die Chancen, in einem Lager wie Buchenwald oder Sachsenhausen zu überleben, nach 1945 geringer waren als vor 1945? Das kann jeder nachlesen in Hubertus Knabes Buch: „Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland“ (Propyläen 2005, S. 12). Wie viele können mit dem Namen Erika Bausch von Hornstein („Der gestohlene Phönix“) etwas anfangen? In Neu-Kaliß hatte die Familie ihres Mannes 1871 eine hochmoderne Papierfabrik aufgebaut und sich auf vorbildliche Weise um die sozialen Belange der Mitarbeiter gekümmert. Nach dem Krieg wurde die Familie Bausch zweimal enteignet – erst durch die Sowjets, dann durch die SED.

Andere wurden zweimal unvorstellbar brutal vertrieben: erst aus dem einstigen Ostdeutschland, dann – im Rahmen der „Aktion Ungeziefer“ von 1952  – aus ihrer neuen Heimat, die in unmittelbarer Nähe auf östlicher Seite der Zonengrenze lag: geschleifte Dörfer. Wem ist eigentlich richtig bewusst, dass es den damaligen Mitteldeutschen an nur zwei Tagen ohne nennenswerte Vorbereitungen (und ganz ohne Twitter, WhatsApp & Co.!), gelungen war, das SED-Regime praktisch komplett aus dem Sattel zu heben und dass dieser Erfolg erst durch die Sowjets vereitelt wurde, nämlich am 17. Juni 1953? Auch das können Sie bei Hubertus Knabe nachlesen: „17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand“ (Ullstein 2004, Seite 21/22).

Und weiter: Wer erinnert sich an Michael Gartenschläger, der von Schützen aus der MfS-Einsatzkompanie auf dem Gebiet des Landkreises Lauenburg erschossen wurde, als er versuchte, ein drittes Mal eine an der innerdeutschen Grenze installierte Selbstschussanlage vom Typ SM-70 abzumontieren, um dem Westen einen weiteren Beweis für ihre Existenz zu liefern? Trotz strafrechtlicher Ermittlungen, die erst 1999 stattfanden, wurden die Täter freigesprochen. Wie viele kennen noch das Schicksal von Gisela Mauritz und ihrem Sohn Alexander, von Jutta Gallus (heute Fleck) und ihren Töchtern Beate und Claudia? In beiden Fällen wurden den Müttern ihre Kinder wegen versuchter „Republikflucht“ weggenommen, wobei nur die Geschichte der Gallus-Töchter ein glückliches Ende nahm.

Man hat nicht gehört, dass jemand „in die Politik gegangen“ wäre, weil ihn die menschenverachtende Brutalität des SED-Regimes erschüttert hätte. Überhaupt geht unseren Politikern kaum je ein Wort echten Mitgefühls für die Opfer der SED-Diktatur über die Lippen. Aber gerade der 9. November ist ein Tag, an dem dieser Opfer ebenfalls gedacht werden muss, für die dieser Tag, wenn sie ihn noch erleben konnten, eine tiefe Zäsur in ihrem Leben darstellte. Man muss sich klarmachen: Zum ersten Mal seit 1933 (!) gab es für sie wieder Hoffnung auf ein Leben jenseits von Terror und Unterdrückung, auch Hoffnung auf ein Leben in Würde. Letzteres war ihnen viel zu oft nicht vergönnt. Ihre Schicksale gerieten in Vergessenheit oder wurden bagatellisiert. Bis heute.

Eine Grenze, die widernatürlicher nicht hätte sein können

Der Zusammenbruch der Mauer und die Öffnung der innerdeutschen Grenze im November 1989 sind sicher unmittelbar Schabowskis kurzem Aussetzer geschuldet. Aber dieser Öffnung gingen die Massenflucht in den Monaten davor ebenso wie die Massendemonstrationen in den Herbsttagen voraus, auf denen die Bürger unerschrocken Freiheit und Selbstbestimmung forderten. Ohne diesen massiven Druck, der schwer auf dem SED-Regime lastete, hätte es den Forderungen nach einer Öffnung niemals nachgegeben.

Nachdem es den Amerikanern spätestens nach dem Gipfel in Reykjavik 1986 gelungen war, einen echten positiven Wandel in der Beziehung des Westens zur Sowjetunion herbeizuführen, hielt sich diese zu unserem Glück auffallend zurück. Gorbatschow schickte 1989 keine Panzer an seinen „engsten Verbündeten“ in Ost-Berlin zur Niederschlagung der Proteste wie 1953, weil er Kohl mehr vertraute als Honecker.

Das allerdings hinderte Honeckers Schergen nicht daran, zum „40. Jahrestag der DDR“ am 7. und am darauf folgenden 8. Oktober Demonstranten mit brutaler Gewalt niederzuknüppeln. Im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg etwa hatten sich Szenen zugetragen („Wir werden euch zeigen, was Demokratie heißt!“), die alle Merkmale von – Achtung! – Hetzjagden auf Menschen trugen. Die Besonnenheit und Friedfertigkeit der Demonstranten, ebenso wie die Geistesgegenwart eines Kurt Masur in Leipzig, trugen dazu bei, ein Blutbad zu verhindern.

Im November 1989 wurde – anders als 2015 – eine Grenze geöffnet, die widernatürlicher nicht hätte sein können. Sie trennte ein Volk gewaltsam in Ost und West, riss Kollegen, Bekannte, Freunde, Familien und Eheleute auseinander, trennte Kinder von ihren Eltern. Die Grenzsperranlagen waren so konstruiert, dass sie sich nicht etwa gegen Eindringlinge von außen, sondern gegen die eigene Bevölkerung richteten. Ein fünf Kilometer tiefes Sperrgebiet, Kolonnenwege, Wachttürme und Bunker, Mauern, Stacheldraht, Todesstreifen, Selbstschussanlagen und Bodenminen, KfZ-Sperrgräben, Signalzäune, Stolperdrähte, Hundelaufanlagen, Flutlichter und der Schießbefehl: Das sind allesamt Merkmale, die in ihrer ganzen menschenverachtenden Monstrosität nicht einmal Hochsicherheitsgefängnisse auszeichnen. Im Unterschied zu einem Gefängnis im Rechtsstaat wurden die Menschen östlich der Elbe bis 1989 ohne jedes Vergehen und ohne jedes Urteil eingesperrt, um sie an einer Flucht in den freien Teil ihres eigenen (!) Landes zu hindern. Es bleibt festzuhalten: Der Zusammenbruch der Mauer im Jahr 1989 hat mit der Grenzöffnung von 2015 nichts gemein.

Ein Vergleich von Kirschen mit Kohlrabi

Eine weitere beliebte Behauptung lautet, Deutschland habe nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in einem völlig zerstörten Land integrieren können, deshalb sollte es für uns heute ein leichtes sein, eine massenhafte Zuwanderung von Menschen vornehmlich aus Afrika und dem Nahen Osten sowie aus Fernost in einem (noch) prosperierenden Land zu verkraften. Das ist ein Vergleich nicht etwa von Äpfel und Birnen, sondern von – sagen wir: Kirschen mit Kohlrabi. Es handelt sich in beiden Fällen um Pflanzen, so wie es im ersteren Falle beide Male um Menschen geht. Aber damit endet schon jede Gemeinsamkeit.

Fangen wir mit der Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa an. Diese Menschen unterscheidet von den heutigen Zuwanderern zweierlei. Erstens: Ganz gleich, ob die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches oder aus deutschen Siedlungsgebieten außerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs stammten, es waren Deutsche beziehungsweise deutsche Volkszugehörige.

Zweitens ist es für den Erfolg einer Integration keineswegs belanglos, ob Menschen aus dem gleichen Kulturkreis oder gar mit der gleichen Volkszugehörigkeit im Zielland integriert werden. Die gleiche Kultur und Sprache ist ein stark einigendes Band. Das fehlt bei großen kulturellen Differenzen und Divergenzen zwischen Einheimischen und Zugewanderten; dies gilt umso mehr, je stärker die Lebensweise, der Grad der Aufklärung, die Bildung und die Wertauffassungen beider Bevölkerungsteile sich diametral gegenüberstehen.

Dagegen fühlten sich trotz aller regionaler Differenzen und Eigenheiten Deutsche in und aus den verschiedensten Teilen ihres Landes stets der gleichen Nation zugehörig – auch während der über vierzigjährigen Teilung. Sie hatte dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen nie wirklich etwas anhaben können. Das sollte uns eigentlich zu denken geben und uns vor ein paar Illusionen bewahren, die heute gerade von den Linken aller Parteien und Medien mit Inbrunst gepflegt werden.

Die Kultur bestimmt Werte mit und verbindet Menschen

Verständlicherweise und wenig überraschend fühlen sich nämlich auch die heute Zugewanderten vor allem jener Nation zugehörig, von der sie stammen. Das Wort „Nation“ wurzelt im lateinischen Wort „natio“ = „Geburt“. Die Geburt ist beim besten Willen von Abstammung und Herkunft nicht zu trennen. So kann es kaum verwundern, dass niemand dadurch Staatsangehöriger eines Landes wird, indem er dessen Boden betritt oder dort lebt.

Sich mit einem Land zu identifizieren, in das man am Anfang als Fremder, als Gast gekommen ist, ist ein längerer Prozess, und er ist umso länger, je fremder die Kultur des Gastlandes ist. Der eine kann in der Kultur und Lebensweise des einstmals fremden Landes aufgehen, der andere nicht, der eine kann es schneller, der andere langsamer. Aber wer auswandert, von dem darf man erwarten, dass er sich freiwillig in sein Gastland integriert und sich dem dortigen Recht unterordnet oder aber heimkehrt, wenn ihm dies nicht gelingt. Es ist nicht redlich, die „Schuld“ daran einseitig den Gastländern zuzuschieben.

Übrigens: Es gibt deutsche Auswanderfamilien, die im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ nie Wurzeln schlagen konnten und zurückkehrten, weil das Heimweh zu groß wurde. „Heimat“ mag nicht für jeden dasselbe bedeuten, aber es hat immer etwas mit Gefühlen zu tun – und diese Gefühle haben etwas mit Vertrautheit zu tun. Die Fremde mag aufregend, spannend, hochinteressant sein, aber vertraut ist sie gerade nicht. Weder die Landschaft, noch die Menschen und ihre Kultur sind es. Es ist nicht jedem gegeben, irgendwann darin aufzugehen.

Und: Man muss es vor allem selbst wollen, man muss bereit sein, die Gepflogenheiten der neuen Heimat anzunehmen. Fehlt es Zuwanderern an dieser Bereitschaft, zerbricht eine Gesellschaft früher oder später in Parallelgesellschaften, die sich einander nichts schenken. Der Normalsterbliche, der den täglichen Zumutungen nicht in Richtung Wolkenkuckucksheim entfliehen kann, wie viele Politiker, bekommt das schon länger zu spüren.

Die Kultur bestimmt unsere Werte und Umgangsformen entscheidend mit und verbindet Menschen. Aydan Özoguz hat behauptet, es sei jenseits der deutschen Sprache eine spezifische deutsche Kultur „schlicht nicht identifizierbar“. Im Ausland aber weiß so ziemlich jeder zu sagen, was „deutsch“ ist; als Deutscher wird man dort schneller erkannt, als einigen lieb ist. Zudem: Deutschland galt nicht von ungefähr als Land der Dichter, Denker, Tüftler und Musiker. Das hatte sehr viel mit der von den Deutschen hervorgebrachten und gepflegten Kultur zu tun. Um diese wurden sie bewundert und beneidet. Wer das abstreitet, der soll auch nicht von französischer, italienischer, britischer oder gar von türkischer Kultur, Lebensart oder Errungenschaft reden oder schwärmen. Und er soll erst recht nicht die „kulturelle Vielfalt“ rühmen, mit der die Zugewanderten uns angeblich nur „bereichern“, auf keinen Fall aber Probleme bereiten würden.

Die Rufer „Wir sind das Volk“ zu tumben Wutbürgern erklärt

Deutschland ist in seiner Geschichte mehrheitlich von konföderativen oder föderativen Strukturen geprägt worden. Das hat uns ein kulturell unglaublich reiches und vielfältiges Erbe hinterlassen. Auch die geographisch so verschieden geprägten deutschen Landschaften sind so unverwechselbar wie die in ihnen lebenden Menschenschläge. Diese in vielen Jahrhunderten gewachsene regionale Vielfalt macht den Reiz unseres Landes aus, wird aber mehr und mehr zurückgedrängt zugunsten der gefeierten neuen „Buntheit“, die am Ende in ihr Gegenteil verkehrt wird: in einen grauen Einheitsbrei. Denn jeder, der es wagt zu differenzieren, macht sich heute verdächtig. Diese Gleichmacherei bedeutet nicht nur das Ende einer echten Mannigfaltigkeit, sondern auch das Ende der Selbstbestimmung der „schon länger hier Lebenden“ über ihr eigenes Schicksal und Land.

Einem Volk das Recht auf die Selbstbestimmung und einer Nation das Recht auf Souveränität zu nehmen, wäre ein Rückschritt in die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts. Dafür gingen die Menschen 1989 im gesamten ehemaligen Ostblock nicht auf die Straße. Das wird im Westen oft ignoriert oder schlichtweg umgedeutet, wie etwa durch Thomas Schmid, der die Rufer „Wir sind das Volk“ von 1989 kurzerhand zu tumben Wutbürgern erklärte. Nein, 1989 sind die Menschen aufgestanden für die ihnen so lange vorenthalte Freiheit und Selbstbestimmung. Die Sowjetunion, die Tschechoslowakei, Jugoslawien, sie waren allesamt künstlich errichtete Vielvölkerstaaten und hatten genau deshalb keinen Bestand, weil hier Menschen zusammengezwungen wurden, die nicht zusammengehörten.

Im geteilten Deutschland war es genau andersherum. Hier wurde auf brutalstmögliche Weise getrennt, was zusammengehörte und sich als zusammengehörig empfand. Auch deshalb ist die Grenzöffnung von 1989 ein völlig anderes Kapitel als die von 2015. Die Menschen, die im Sommer 2015 nach Deutschland strömten, kamen nicht, weil sie sich uns zugehörig fühlten.

Anders im Sommer 1989: Hier flohen die Menschen innerhalb Deutschlands von der Unfreiheit in die Freiheit, zwar größtenteils auf dem Umweg über das Ausland (hier ein großer Dank an die Ungarn, die sich auf Seiten der Deutschen stellten und an die Österreicher für ihre unvergessene Hilfsbereitschaft!), weil die innerdeutsche Grenze fast unüberwindbar war, aber das Ziel der allermeisten Menschen blieb das eigene Land. Sie kamen weder als Bittsteller noch als Gäste. Sie kamen als Landsleute, und genau das ist es, was Leuten wie Schmid & Co. nicht gefiel und bis heut nicht gefällt: nämlich die Tatsache, dass es sehr wohl ein deutsches Volk gibt, das sich auch als solches empfindet.

Schlicht und ergreifend ein Un-Staat

Der SED-Ideologe Otto Reinhold war im Sommer 1989 klarsichtiger als Egon Bahr 1963, als er sich einen bemerkenswerten Offenbarungseid von erfrischender Klarheit leistete, indem er erklärte, warum das SED-Regime sich keine Reformen leisten könnte:

Welche Existenzberechtigung sollte eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben? Natürlich gar keine.“

In diesem Moment hätte im Westen auch dem allerletzten Träumer von Bahrs „Wandel durch Annäherung“ klar werden müssen, dass jenes Gebilde namens „DDR“ schlicht und ergreifend ein Un-Staat war, der von der übergroßen Mehrheit seiner Bevölkerung abgelehnt wurde und dem jede politische Legitimation fehlte, die moralische sowieso.

Die Tatsache, dass die Zerstückelung und Teilung Deutschlands eine Folge des von Hitler begonnenen Zweiten Weltkriegs war, konnte keine Rechtfertigung sein für neues Unrecht, das diesmal den Deutschen widerfuhr. Im Gegenteil. Es sprach für ein höchst seltsames Rechtsverständnis jener, die meinten, man könne ein Teilvolk – die Ost- und Mitteldeutschen nämlich – „deutsche Schuld abtragen lassen“.

Dieses Denken war eines Rechtsstaates, der aus gutem Grund keine kollektive, sondern ausschließlich individuelle Schuld kennt, zutiefst unwürdig. Kollektivhaftung war und ist vielmehr ein beliebtes Mittel totalitärer Diktaturen, um möglichst viele unliebsame Menschen auszuschalten. So wie am 9. November 1938. Aber eben nicht nur an diesem Tag und auch nicht nur in der Zeit von 1933 bis 1945. Sondern ebenso davor und danach in allen Ländern, die sich ausdrücklich „Volksdemokratien“ oder „Volksrepubliken“ nannten und nennen. Merke: Wer doppelt moppelt, hat es bitter nötig, um den Schein zu wahren.

Sabine Drewes ist im freien Teil des damals noch geteilten Deutschlands aufgewachsen und beschäftigt sich seit ihrer Jugend mit diversen Aspekten rund um das Thema Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands.

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Udo Brozowski / 09.11.2018

Liebe Frau Drewes, herzlichen Dank für den ausgezeichneten Artikel und die klare Sprache. Es ist zu begrüßen, dass auch Sie auf den großen Unterschied zwischen der Grenzöffnung 1989 und der von 2015 hingewiesen haben. Viele Politiker und auch Medien wollten und wollen noch uns einreden, dass beides vergleichbar wäre. Mit anderen Worten, sie wollen uns für dumm verkaufen. Auch Ihre Hinweise bezüglich Integration finde ich gut durchdacht und formuliert. Leider gibt es viele Politiker und auch Institutionen, die uns einreden wollen, dass wir durch die Integration der Migranten nur gewinnen können. Es wird sich zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist. Alles Gute für Sie!

Gerhard Schmidt / 09.11.2018

Die von Fr. Drewes kritisierte “Putin-Busselei” der vermeintlichen deutschen Patrioten östlich der Elbe habe ich auch nie verstanden. Sind denn Omon und FSB, die Putins Macht erhalten, sympathischer als einst die Stasi?

Walter Knoch / 09.11.2018

Frau Drewes, Sie schreiben so vieles, in dem ich mich mit meinem Denken und Fühlen wiedererkenne. Doch immer mehr wird mir bewusst, dass Beiträge, wie der Ihre, angesichts des täglichen Trommelfeuers der “Leitmedien” und der Abschreiber in den regionalen Blättern, immer mehr zum vielzitierten weißen Raben mutiert, zur Schwalbe, die noch keinen Sommer macht. Ein Sommer mit den vielen Schwalben ist weit. Angesichts der gegenwärtigen politischen Ideologiebesessenheit, kann sich eher Hoffnungslosigkeit breitmachen. Wie Sie oben ausführen, werden Äpfel mit Birnen gleichgemacht. Der Begriff des Anti-Totalitarismus wurde über die Tischkante gefegt. Die Linke ist wieder salonfähig, was angesichts des Leids, das die kommunistische Herrschaft so vielen Menschen zugefügt hat, die pure Verhöhnung der Opfer ist. Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie, Souveränität, Eigenverantwortung sind Vokabeln, die aus der öffentlichen Diskussion verschwunden sind, deren Wertschätzung gegen Null tendiert. Es soll verstehen, wer es will, dass linkes Denken, linke Ideologie, wieder die Lufthoheit über den gesellschaftlichen Diskurs gewonnen hat, dass links als Synonym für das Gute verkauft wird, während rechts, nicht reaktionär, rechtsradikal, rechtsextrem, nein, dass rechts-konservativ, bürgerlich generell als übel, böse, diffamiert, diskreditiert, verteufelt wird. Diskriminieren, was nichts anderes bedeutet als unterscheiden, ist verboten. Vergleichen nennt der herrschende Duktus relativieren. Doch ohne Vergleich ist Denken unmöglich. Und wenn die Hekatomben an Opfern der Nazi-Diktatur als Betonplatte instrumentalisiert werden, unter der alle anderen Opfer als minder verschwinden, dann läuft etwas fundamental falsch im Staate Dänemark. Seit dem 9. 11. 1989 können Landsleute wieder ohne Todesgefahr zu Landsleuten gehen. Dieses Datum mit dem widerrechtlichen Geschehen von 2015 zu vergleichen, ist falsch, ist böswillige Ideologie und diese pur.

Karl Schmidt / 09.11.2018

Es macht keinen Sinn, einer politischen Kampagne, deren Sinn nur darin besteht, geschichtliche Ereignisse umzuschreiben und in den Dienst der eigenen Ideologie zu stellen, eine so breiten Raum zu geben und ausführlich zu erwidern. Damit wertet man den Unsinn der anderen nur zu einer ernsthaften Idee auf. Man kann es auch knapp sagen: Die DDR-Bürger sind Landsleute und wollten raus und die Migranten sind Ausländer und wollen rein. Mehr gibt es zu dem Stuss der Linken nicht zu sagen.

Jürgen Schnerr / 09.11.2018

Wahrscheinlich hat Herr D. Schubert, wenn er denn nicht bloß ein gefakter Ostdeutscher ist, selbst sehr kommod in der DDR gelebt, hat die Spielregeln eingehalten, sich angepaßt und in seiner glücklichen Nische gelebt. Heißt, er hat wahrscheinlich auch zu den Spitzeln und Zuträgern des SED-Regimes gehört, ob als SED-Mitglied, Mitglied der Blockparteien (waren oft röter als die SED selber), Hausvertrauensmann (Blockwart), Helfer der Volkspolizei, Kampfgruppenmitglied, FDJ-Führer, informeller Mitarbeiter der Stasi, etc. pp. Solche Leute haben ja heute bei den Linksgrünen wieder Konjunktur. Wollte eigentlich zum Artikel gar nicht kommentieren, da fast alles zwar richtig, aber schon ewig in der Wiederholungsschleife befindlich. Aber so ein Kommentar treibt einem den Blutdruck hoch als tatsächlicher Ostdeutscher!

beat schaller / 09.11.2018

Danke Frau Drewes für Ihre Einblicke.  Da kann man bestimmt in vielen Punkten einiges verstehen und abgewinnen. @Marc Stark bin hier ganz bei Ihnen mit dabei. . b.schaller

Jörg Werda / 09.11.2018

Beim 9. November bitte nicht das Jahr 1923 vergessen, an diesem Tag hat die bayrische Polizei einen Putsch (“Marsch auf die Feldherrnhalle”) nur unter schweren eigenen Opfern und mit den äußersten Mitteln beenden können. Auch dies ist ein Teil der Deutschen Geschichte und besonders des 9. Novembers.

Werner Arning / 09.11.2018

Starker Text, der einiges, was westdeutsche, linke Köpfe verwirrt, wieder geraderückt. Warum leuchtet das Beschriebene vielen meist Westdeutschen nicht ein? Weil die „Opfer der DDR“ Deutsche waren? Weil diese möglicherweise keine Linke waren? Also deutsch und nicht links. Wer dieser Gruppe angehört, hat mit Mitleid und Verständnis für seine Belange in Deutschland nicht zu rechnen. Deren Freiheitskampf wird als solcher nicht anerkannt. Deren Leiden werden als solche nicht voll anerkannt. Deren Mut wird gering geschätzt. Deren Erfolg wird in Frage gestellt. Deren gute Absichten werden angezweifelt. Deren Demokratieverständnis wird kritisch beäugt. Deren Verluste werden übergangen. Deren erlebte Not wird angezweifelt. Deren Wünsche und Ideale gelten als verdächtig. Deren Heimatverbundenheit wird belächelt. Deren Traditionen werden abschätzig betrachtet. Kurz, weder ihr Schmerz, noch die Selbstbefreiung aus diesem sind vielen (linkgrünen) Westdeutschen der Rede wert.

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