Was Hamas mit den Massendemonstrationen am Sperrzaun zu Israel erreichen kann oder will, weiß eigentlich niemand. Auch nicht Yechiye Sinuar, der Hamas-Chef in Gaza. Die Motive für seine Gratwanderung zwischen Volksfest und Volkssturm sind dafür umso klarer:
Nach seinem Wechsel vom bewaffneten Arm der Hamas in die politische Führung scheiterten all seine Versuche, mit Kompromissverweigerung Geschichte zu schreiben. Die Aussöhnung mit der Fatah-Konkurrenz platzte endgültig mit der Bombe, die Mitte März beinahe Rami Hamdalla, den Premier des vielbejubelten Einheitskabinetts beim Besuch in Gaza getötet hätte. Politik ist eben keine Kunst des Unmöglichen.
Seit Dezember ist Hamas-Chef Sinuar nicht mehr öffentlich aufgetreten. Sogar Rücktrittsgerüchte waren zu hören. Vor den Massen in der Zeltstadt am Gazastreifen ließ er am Freitag allenfalls Slogans hören: „Unser Recht auf Rückkehr ist kein leerer Slogan... und wenn die Menschen in Gaza hungern müssen, werden sie die Leber ihrer Feinde essen.“
Hört sich deutlich an, doch nicht einmal in ihren Slogans findet die Hamas noch klare Worte. Die Menschen im Gazastreifen wissen sehr gut, dass die Gründe für die Kargheit ihres Speisezettels nicht am Mangel internationaler Finanzhilfe liegen. Auch nicht nach der Kürzung der US-Gelder an UNRWA durch Präsident Trump. Und dass die internationalen Hilfsgelder für den Wiederaufbau ihrer 2014 in Schutt gebombten Häuser in den Tresoren der Autonomieverwaltung, sprich Fatach, Schimmel ansetzen, liegt an der PA-Weigerung, sie nach Gaza weiterzuleiten. Nicht an der israelischen Sperranlage.
Ein unklarer Kompromiss
Es war Mahmud Abbas, der nach dem Attentat auf Hamdallah seine Forderung nach vollständiger Übergabe der Sicherheitsverantwortung im Gazastreifen erneuerte. Ein etwas unklarer Kompromiss im Kairoer Versöhnungsabkommen, der zwischen allgemeiner Polizei und der schwarz gekleideten Hamas-Polizei („Ninjas“ im Volksmund) unterschied, war damit wieder hinfällig.
Wer immer die Bombe am Straßenrand neben Premier Hamdallah per Fernzünder detonieren ließ, wollte die Aussöhnung – mit oder ohne Anführungszeichen – zwischen Hamas und Fatah verhindern. Und damit den einzigen, zumindest theoretischen Ansatz, neue Verhandlungen anzukurbeln. Mit einer PLO, die für alle Palästinenser sprechen kann. Ohne aktive Teilnahme der Hamas, aber mit ihrer passiven Duldung. Ein Volksentscheid könnte dann einen endgültigen Vertrag absegnen. Alles sehr vage, sehr theoretisch, aber von den Attentätern sehr praktisch aus dem Weg gesprengt.
Darum das Volksfest einen Schritt hinter der Sperrzone vor dem Zaun. Ein angeblich ungeplanter Volkssturm sollte die Illusion befördern, es bewege sich was. Nicht einmal die Siebenjährige, die zwischen den brennenden Reifen zu sehen war, wurde von den Hamas-Ordnern zurückgehalten. Die Brandbomben schleudernden Jugendlichen sind es leid, darüber zu diskutieren, ob die Forderungen der PA oder die Verweigerung der Hamas derzeit jede Entwicklung im Gazastreifen lähmt. Ein Frust, vor den nicht nur die UNO warnt.
Frauen und Kinder statt Raketen
Auch die israelische Armee sieht in der Stagnation eine Gefahr. „Humanitäre Katastrophe“ nennt das die UNO, und auch der Armeesprecher verwendete bereits diesen Begriff. Zahal hat kein Interesse daran, der Hamas strukturell unter die Arme zu greifen. Aber den Ausbruch einer neuen kollektiven Gewaltwelle will die Armee unbedingt verhindern. Hamas provoziert sie gezielt – unter Einsatz von Frauen und Kindern statt ihrer gehorteten Raketen. Ein Gewaltausbruch würde vor allem Israel bedrohen. Die PA-Führung in Ramallah setzt darauf, dass er auch die Hamas hinwegfegen würde. Wobei ihr gleich ist, ob Israel oder die Hamas den größeren Schaden davonträgt.
Der Hamas bleibt allein ein unberechenbarer „spontaner" Volkszorn, nachdem auch die ägyptischen Nachbarn nach dem erneuten Scheitern der inneren Versöhnung wieder die Grenztore schlossen. Allen markigen Tönen in der UNO zum Trotz, die sunnitischen Anrainer-Staaten kümmern sich weniger um die Lage im Gazastreifen als um die eigene Lage am Persischen, sorry, arabischen Golf.
Die Menschen im Gazastreifen könnten in dieser Lage einen unerwarteten Verbündeten finden. Ausgerechnet Zahal. Im Generalstab der Armee wird sogar an der Ausarbeitung von Richtlinien gearbeitet, melden die Medien in Israel, die eine direkte Überweisung internationaler Hilfsgelder an die Hamas ermöglichen könnten. Über den Kopf der PA hinweg und vorbei am gierigen Zugriff der Hamas-Tunnelbauer. Haaretz sprach sogar von einer de-facto-Anerkennung der Hamas. Alles, nur kein endgültiger Zusammenbruch des bleiernen Alltags im Gazastreifen. Um die Gelegenheit zu nutzen, müsste Hamas eines tun: politisch reagieren. Also das Unmögliche versuchen.