Nicht wenige Beobachter der politischen Entwicklung in Frankreich gehen davon aus, dass Präsident Macron im Spätsommer nach den Wahlen zum Europa-Parlament und dem Ende der prestigeträchtigen Olympischen Spiele von Paris, die den französischen Staat Milliarden kosten, die Nationalversammlung auflösen und Neuwahlen ausrufen wird.
Es scheint tatsächlich, dass die nicht ganz überraschende Nominierung des 34 Jahre jungen bisherigen Erziehungsministers und früheren Regierungssprechers Gabriel Attal zum Premierminister unter dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron so etwas wie das letzte Aufgebot zur Rettung der Herrschaft der von Bilderberg-Konferenzen und Davos-Treffen geprägten Pariser Polit-Kaste darstellt. Attal bekam wohl auch deshalb die Chance, so jung ins zweithöchste politische Amt aufzusteigen, weil er mit den Weihen dieser elitären Zirkel versehen ist.
Er wurde vom World Economic Forum (WEF) in Davos zum Young Global Leader ernannt und ist offizieller Repräsentant der Bilderberg-Konferenz in Frankreich. Ohne diese Weihen hat auch in Frankreich schon länger niemand mehr Aussicht, in höchste politische Ämter zu gelangen. Seit den 1970er Jahren war mindestens die Hälfte aller französischen Premierminister vor ihrem Amtsantritt zu Bilderberg-Konferenzen geladen, und so gut wie alle hatten Kontakt zur Davos-Szene. Eine Ausnahme machte da nur François Fillon, Premierminister unter Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der erst nach seinem Ausscheiden aus dem Amt nach Davos fuhr.
Meinem Gefühl nach war Fillon der letzte halbwegs seriöse Anwärter auf ein politisches Spitzenamt in Frankreich. Er trat im Jahre 2017 als Überraschungskandidat auf, denn er wurde damals nicht von den Granden seiner Partei, den Republikanern, nominiert, sondern setzte sich in offenen Vorwahlen nach amerikanischem Vorbild durch. Seither veranstaltet keine französische Partei mehr Vorwahlen.
Der wuchernde französische Staatsapparat
Als Fillon von 2007 bis 2012 unter Nicholas Sarkozy das Amt des Premierministers bekleidete, hatte er wohl schon begriffen, dass der wuchernde französische Staatsapparat die Hauptursache der chronischen Wachstumsschwäche der französischen Wirtschaft war. Mehr als ein Fünftel der französischen Werktätigen arbeiten im öffentlichen Dienst. Fillon versprach, den Staatshaushalt um 100 Milliarden Euro zu kürzen und mindestens eine halbe Million Beamte zu entlassen, falls er gewählt würde. Gleichzeitig wollte er zur Rente mit 65 und zur 39-Stunden-Woche zurückkehren.
Um bürokratische Hindernisse für Innovationen und Investitionen zu beseitigen, wollte Fillon das kiloschwere französische Arbeitsgesetzbuch (Code du Travail) nach Schweizer Vorbild von seinerzeit dreieinhalbtausend auf 150 Seiten eindampfen. Abgesehen von der von ihm als Premierminister durchgesetzten Anhebung des Rentenalters von 60 auf 62 Jahre war Fillon in Frankreich zuvor nicht durch Radikalität aufgefallen. Meines Wissens war er der letzte französische Premierminister, der ohne Beanstandung eine volle Amtszeit durchhielt.
Doch durch die Tatsache, dass sein moderates Reformprogramm für die Präsidentschaftswahlen ein von der sozialistischen Staatsanwaltschaft gesteuertes Kesseltreiben gegen ihn ausgelöst hat, wurde Fillon Schritt für Schritt in die Position des einzigen Anti-System-Kandidaten gedrängt, indem er eine viel konsequentere liberal-konservative Position vertrat als seine Mitbewerberin Marine Le Pen, die im Grunde auch eine Sozialdemokratin ist. Das machte ihn zum Buhmann einer vom aufgeblähten Staatsapparat abhängigen Schickeria, die die Stunde der Wahrheit über die Staatsfinanzen noch möglichst lange hinausschieben wollte.
Angela Merkel und Wolfgang Schäuble leisteten Wahlhilfe
Zusammen mit linken Staatsanwälten und Leuten aus dem zuvor von Emmanuel Macron geleiteten Wirtschafts- und Finanzministerium orchestrierten sie gegen den ihnen gefährlich werdenden Fillon eine Rufmordkampagne, die Fillon schließlich den schon sicher geglaubten Wahlsieg kostete. Fillon hat sich danach völlig von der Politik verabschiedet.
Nicht zuletzt ließen Angela Merkel und Wolfgang Schäuble Fillon in Berlin abblitzen und leisteten lieber dem Sozialisten Macron Wahlkampfhilfe. Sie haben dadurch im Endeffekt aktiv mitgeholfen, das Ende der vielbeschworenen deutsch-französischen Freundschaft einzuleiten. Denn Emmanuel Macron und seine Leute müssen nun in Frankreich, um sich an der Macht zu halten, in der Politik zumindest verbal einen Rechtsschwenk einleiten.
Die Berufung der als rechtskonservativ bekannten Rachida Dati zur Kulturministerin und von Catherine Vautrin zur Arbeits- und Gesundheitsministerin (beide in Ministerämtern unter Präsident Nicolas Sarkozy), aber auch die Verlagerung der Zuständigkeit für die Energiepolitik vom Nachhaltigkeits- ins klassische Wirtschafts- und Finanzministerium unter Bruno Le Maire, sind deutliche Zeichen dafür. Nach dem vor der Verabschiedung stehenden Gesetz über die energetische Souveränität Frankreichs werden in der Energiepolitik wieder nationale Interessen im Vordergrund stehen. Den Politikern der „Ampel“ in Berlin kann das nicht gefallen.
Aber zurück zur Frage, warum gerade jetzt in den schicken Pariser Zirkeln die Wahl auf den trotz einiger Ämter vor allem international noch weitgehend unerfahrenen Jungspund fiel. Für Attal sprach sicher, dass er wie ein Klon seines Chefs Macron wirkt, obwohl er dessen akademisches Niveau nicht erreicht hat. Attal hat nur die Elite-Hochschule Sciences-Po absolviert (über die ich nur deshalb relativ gut Bescheid weiß, weil da mein eigener Sohn europäisches Recht studiert hat).
Neuwahlen nach der Olympiade?
Sciences-Po gilt aber lediglich als Sprungbrett zur noch elitäreren Ecole Nationale d’Administration (ENA). Diesen Sprung hat Attal offenbar nicht geschafft. Er gibt an, stattdessen parallel ein Studium an der Pariser Universität Panthéon-Assas absolviert zu haben, wo er jedoch nach Angabe der Universität keinen Diplom-Abschluss erreichte.
Gabriel Attal hat im Jahre 2020 am WEF-Programm „Young Global Leaders“ teilgenommen. Er befand sich da zusammen mit Annalena Baerbock, mit der finnischen Spitzenpolitikerin Sanna Marin und mit Alicia Garza, der Mitbegründerin der Black-Lives-Matter-Bewegung (BLM) der USA in einer Lehrgangs-Klasse. Das heißt: Attal ist ein Repräsentant jener „Erleuchteten“, die uns ab 2030 den Fleischkonsum, Urlaubsreisen und den Privatbesitz von PKWs verbieten wollen.
Zunächst sorgt der „tiefe Staat“ Frankreichs dafür, dass der noch unerfahrene neue Premier von erfahrenen und gut vernetzten „Grauen Eminenzen“ in Person seines Büroleiters Emmanuel Moulin und dessen Freund Alexis Kohler, dem Generalsekretär des Elysée-Palastes, engstens kontrolliert wird. Der eigentliche Grund für Attals vorzeitige Nominierung dürfte im kommenden Wahlkampf zu finden sein. Nicht wenige Beobachter der politischen Entwicklung in Frankreich gehen davon aus, dass Präsident Macron im Spätsommer nach den Wahlen zum Europa-Parlament und dem Ende der prestigeträchtigen Olympischen Spiele von Paris, die den französischen Staat Milliarden kosten, die Nationalversammlung auflösen und Neuwahlen ausrufen wird.
Dann wird der Jungspund Attal dem mit 28 Jahren noch jüngeren politischen Naturtalent Jordan Bardella gegenüberstehen. Der Migrantensohn mit algerischen und italienischen Wurzeln wurde als Vorsitzender der Le-Pen-Partei Rassemblement National (RN) im vergangenen Jahr zum beliebtesten Politiker Frankreichs gekürt.
Im Unterschied von Attal, der aus dem schicken Pariser Westen stammt, kommt Bardella aus der vorwiegend aus Mietskasernen des Sozialwohnungsbaus bestehenden Stadt Drancy im verrufenen Département Seine-Saint-Denis im Nordosten der französischen Hauptstadt. Der durchtrainierte Aikido-Kämpfer hat mit seinem seriösen Auftreten wesentlich dazu beigetragen, die Le-Pen-Partei vom Schwefelgeruch zu befreien und ist zum Hoffnungsträger für die Benachteiligten in den Banlieues geworden. Er konkurriert dort mit dem linksradikalen Jean-Luc Mélenchon, der dort unter der Fahne des „Islamo-Gauchisme“ nach den Stimmen von Islamisten jagt. Kein Zweifel: Attal wird es schwer haben in diesem Wahlkampf. Psychologen halten es für wahrscheinlich, dass er dabei versucht sein könnte, gegenüber seinem Chef Macron zum Brutus zu werden. (13. Januar 2024)
Edgar L. Gärtner ist studierter Hydrobiologe und Politikwissenschaftler. Seit 1993 selbstständiger Redakteur und Berater, als solcher bis 1996 Chefredakteur eines Naturmagazins. Bis Ende 2007 Leiter des Umweltforums des Centre for the New Europe (CNE) in Brüssel. In Deutschland und in Südfrankreich ist er als Autor und Strategieberater tätig.