Es ist Dienstagabend. Auf dem Sender Rete 4 im italienischen Fernsehen läuft die Talkshow „Quarta Repubblica“. Gezeigt wird ein fünfminütiger Film. Der Inhalt ist brisant. Zu sehen sind Migranten an Bord eines Schlepperboots. Die Stimmung ist ausgelassen. Rufe und Musik sind zu hören. Einige rufen zu Hause an, sagen, dass sie bald in Europa seien. Es werden Videos verschickt. Ein Migrant erzählt, dass zwei Videos üblich seien. Eines würde die Abfahrt aus Zuwara in Libyen zeigen, das andere dokumentiere die Ankunft in Italien, um zu verdeutlichen, dass alles glatt gelaufen sei. Die Aufnahmen stehen im krassen Kontrast zu den Bildern, die man etwa aus der deutschen Panorama-Dokumentation über die Arbeit der „Seenotretter“ von Sea Watch kennt.
Doch das ist längst nicht alles. „Die (libysche) Mafia besticht die libyische Polizei, so dass sie die Boote nicht aufhalten,“ so der Mann weiter. Die Boote seien am Strand von den Behörden gesichtet worden. Durch das getroffene Abkommen sei aber nichts passiert. Der junge Libyer, der selbst vor wenigen Wochen Italien erreicht hat, nennt auch den Namen eines Kontaktmannes: Lokman Zwari. Auf Facebook organisiere er in einer geheimen Gruppe Überfahrten von Libyen nach Italien. Und: „Als ich ihn fragte, ob die Überfahrt sicher sei, sagte er: Ja, er arbeite mit Schiffen zusammen, die Leute aus dem Mittelmeer retteten. Er hat gesagt, davon gebe es viele.“
Anders als die Journalisten in Deutschland hakt die italienische Journalistin nach: Der Kontaktmann hat gesagt, dass er mit den Seenotrettern im Mittelmeer in Verbindung stehe? „Ja, ja, er hat gesagt, er sei mit vielen Schiffen von Seenotrettern in Kontakt. Sea-Watch und viele andere, deren Namen ich nicht mehr weiß.“ Er würde die Orte kennen, an denen diese Schiffe warteten, wie etwa Sea-Watch. Wenn irgend etwas passieren würde, dann meldete er das bei Sea-Watch. Auf seinem Handy hätte er ihm viele Telefonnummern von verschiedenen Organisationen gezeigt. „Etwa vier oder fünf Nummern. Darunter die von Sea-Watch.“ (Siehe auch hier)
Seit einiger Zeit wird über geheime Absprachen zwischen den „Seenotrettern“ der europäischen NGOs und Schleppern spekuliert. Den Stein in Deutschland ins Rollen brachte die Beschlagnahmung der Iuventa vor zwei Jahren. Von 2016 bis 2017 nahm die Iuventa laut Aktivistin Pia Klemp rund 14.000 Migranten und Flüchtlinge auf, die anschließend an größere Schiffe übergeben wurden.
2017 ist Schluss mit der „Seenotrettung“
Im August 2017 ist jedoch Schluss mit der „Seenotrettung“. Die italienische Polizei und Küstenwache durchsuchten die Iuventa, beschlagnahmten das Schiff anschließend. Seitdem wird gegen insgesamt zehn ehemalige Crewmitglieder ermittelt. Der Vorwurf: Beihilfe zur illegalen Einreise. Nach dem italienischen Strafrecht drohen den Betroffenen bis zu 15 Jahre Gefängnis. Konkret vorgeworfen wird den Beschuldigten, sich mit Schleppern abgesprochen zu haben. Im Netz kursierten Fotos, die die vermeintliche „Übergabe“ von Migranten zeigen. Deutsche Medien schauten, ähnlich wie heute auch, lieber nicht so genau hin, obwohl man schon damals für die Reportagereihe „360°“ im ZDF ein Kamerateam auf die Iuventa geschickt hatte, damit sich der Zuschauer „selbst ein Bild machen kann“.
Auch gegen die Organisation Sea Watch verdichten sich seit Jahren Vorwürfe, man würde Absprachen mit libyschen Milizen und Schleppern treffen. Auch hierzu existiert Bildmaterial, das mir eine italienische Kollegin auf Anfrage zur Verfügung gestellt hat. Die Organisation „Open Arms“ ist ebenso betroffen. Die Vorwürfe, die der junge Mann im Beitrag von „Quarta Repubblica“ äußert, scheinen so zumindest nicht gänzlich aus der Luft gegriffen.
Gemäß der Recherche meiner italienischen Kollegin soll Sea Watch von 2016 bis 2017 mit der Zawiya Militia zusammengearbeitet haben, die von Abdurahman al-Milad (Al-Bija) angeführt wurde. Die Miliz eskortierte Migranten von der libyschen Küste zum Treffpunkt mit der NGO, welcher sich außerhalb von libyschen Gewässern befand (12 nautische Meilen). 2017 wurden die Männer der Miliz im Rahmen des damals getroffenen italienisch-libyschen Übereinkommens wegen Beihilfe zur illegalen Migration verhaftet.
Darüber hinaus lässt sich durch einen Bericht der EUNAVFOR MED Operation Sophia, belegen, dass Sea Watch sich am 6. November 2017 schon einmal den Anweisungen der italienischen Küstenwache widersetzte. Obwohl bereits eine Rettung durch die libysche Küstenwache im Gange war und man den „Rettern“ der Sea Watch-Crew befahl, der Rettung fernzubleiben, „crashte“ man die Aktion der libyschen Küstenwache. Infolge des provozierten Chaos sollen fünf Migranten gestorben sein, die ins Wasser sprangen, um das Schiff der NGO zu erreichen. Auch hierzu existiert Videomaterial. Genau wie zu einem anderem Vorfall, bei dem Sea Watch Migranten von der libyschen Küstenwache „stiehlt“. Erneut gehen mehrere Menschen im Wasser verloren.
Dieses Bäumchen-Wechsele-Dich-Spielchen
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Pia Klemp, die zuvor als Kapitänin für „Jugend Rettet“ auf der Iuventa im Mittelmeer unterwegs war, unmittelbar nach deren Beschlagnahme im August 2017 das Kommando der Sea Watch 3, dem Schiff, das Carola Rackete jüngst in den Hafen von Lampedusa steuerte, übernahm. Dieses Bäumchen-Wechsele-Dich-Spielchen belegt sehr gut, dass es im Prinzip nicht wirklich eine Rolle spielt, für welche Organisation die „Seenotretter“ nun genau auf das Mittelmeer fahren. Der Verdacht, dass man sich überall der selben Praktiken bedient, liegt nahe.
Aber hätte das Kamerateam von Panorama nicht mitbekommen müssen, wenn es solche Absprachen auch unter Racketes Kommando gegeben hätte? Auf meine Anfrage antwortete der Redaktionsleiter von Panorama, Volker Steinhoff, schriftlich:
„Sehr geehrte Frau Schunke,
vielen Dank für Ihre Mail.
Sie schreiben: "Zu sehen ist auch ein Schlepper, der behauptet, man hätte Kontakt zu den europäischen NGOs, die im Mittelmeer Migranten und Flüchtlinge retten. Darunter auch zu den Rettern von Sea Watch. "
Dies ist während der fraglichen Mission nicht passiert – wir waren die ganze Zeit an Bord.
Mit freundlichen Grüßen
Volker Steinhoff
Redaktionsleiter Panorama
Die Frage lautet also: Was ist die Wahrheit? Oder hat man in diesem Fall auf Absprachen verzichtet, weil ein Kamerateam an Bord war? Würde Panorama offen und ehrlich über diese Absprachen berichten? Die Rekonstruktion vergangener Aktionen von Sea Watch und anderen europäischen NGOs legt nahe, dass die Vorwürfe, trotz des Dementis von Panorama bezüglich der letzten Rettungsaktion der Sea Watch 3, nicht aus der Luft gegriffen sind.
Und so wäre es insbesondere Aufgabe der großen deutschen Medien mit ihren umfassenden Recherchemöglichkeiten, an dieser Stelle einmal kritisch nachzufassen. Aber das geschieht nicht. Kaum eine Berichterstattung in Deutschland ist derart einseitig wie jene über die „Heldin“ Carola Rackete und die private „Seenotrettung“. Und das trotz der Erkenntnisse bzgl. der Zusammenarbeit von Schleppern und NGOs, die ich hier kurz skizziert habe.
Fakt ist, dass hier ein medial durchweg positives Bild der europäischen „Seenotretter“ gezeichnet werden soll. Verdachtsmomente und Belege in Form von Bildmaterial werden, man kann es nicht anders sagen, mutwillig ignoriert. Andernfalls müsste die Rolle von Rackete und ihren „Seenotretter-Kollegen“ völlig neu bewertet werden. Dieser kritischen Auseinandersetzung verweigern sich die deutschen Medien mehrheitlich im Namen der Ideologie. Das hat mit Journalismus nichts mehr zu tun. Das ist politischer Aktivismus.