Neulich traute ich meinen Augen kaum. Da öffne ich am Frühstückstisch die Post und da schreibt mir die „Schänke am Bahnhof“:
„Sehr geehrter Herr Schneider, für die zur Verfügungstellung unseres Angebots an Speisen erlauben wir uns, in den nächsten Tagen den Betrag von 17,50 Euro von Ihrem Konto einzuziehen. Mit diesem Service unterstützen Sie die kulinarische Vielfalt unserer Stadt. Bitte beachten Sie, dass laut Gastronomiegesetz Ihr Beitrag verpflichtend ist. Mit freundlichen Grüßen, das Team der Schänke am Bahnhof“.
Ich war verblüfft. Ich war seit Jahrzehnten nicht in der Bahnhofsschänke, weil mir da zu viele alte und zu viele etwas angesiffte Leute herumhocken und das Interieur, um es nett zu sagen, ziemlich abgeranzt ist. Was das Essen angeht – na ja. Ich glaube nicht, dass die dort angebotenen Hühnchen, Rindchen und Schweinchen ein glückliches langes Leben hatten. Ganz im Gegensatz zu ihren Leichnamen, die sind beim Servieren meist länger tot, als sie gelebt haben. Das Positivste, was sich über die Bahnhofskneipe sagen lässt, ist, dass alles billig ist und ihr Platzbedarf ein Nagelstudio an der Eröffnung gehindert hat. Wo sonst gibt es noch ein enttäuschendes Wiener Schnitzel mit alles anderem als frischem Salat für sechs Euro?
Ich machte mich also auf, jenes Etablissement zu besuchen. Wenn ich schon zahlen müsste, dann wollte ich auch wissen, was ich dafür bekäme. Pflichtschuldig und ausnahmsweise lief ich also die 200 Meter und quetschte mich um die Mittagszeit in eine 70er Jahre Eckbank aus braunem Eichenholz. Es dauerte auch nicht lange, und die Bedienung kam an den Tisch. Allerdings nicht, um meine Bestellung aufzunehmen, sondern um mir Essen zu bringen. Wortlos stellte sie mir einen Teller mit einer tristen Bohnensuppe vor die Nase. Sie wollte sich gerade wieder umdrehen und gehen, aber ich hielt sie an einem Bändel ihrer Schürze fest:
„Entschuldigung, aber entschuldigen Sie bitte, sorry, aber was soll das sein?“, fragte ich Sie. Sie sah mich verblüfft an, als sei ich der erste Gast, der überhaupt diese Frage stellte. „Das ist unser Essen hier“, sagte sie, leicht empört. „Ja, aber das habe ich doch gar nicht bestellt“, erwiderte ich, „ich habe noch gar nichts bestellt!“ Sie sah mich an, als würde ich tibetisch reden: „Das hier ist unser Angebot, essen Sie es oder lassen Sie es!“ Ich war irritiert. Das kannte ich anders. „Moment: Sie buchen mir jeden Monat 17 Euro und, um sie nicht zu vergessen, 50 Cent ab für Bohnensuppe? Die ich nicht einmal mag? Ich hätte gerne eines Ihrer berühmt-berüchtigten toten Schnitzel für Salmonellenresistente!“
„Hier wird gegessen, was da ist“
Meine Servicekraft verzog das ältliche Gesicht. „Hier wird gegessen, was da ist. Wäre ja noch schöner, wenn die Gäste ein Mitspracherecht hätten. Sollen wir wegen Ihnen noch einen Koch einstellen?“, meinte sie biestig. Ich versuchte es versöhnlich: „Hören Sie: wenn Sie mir schon einfach Geld aufgrund eines Gesetzes abbuchen und mich so quasi zwingen, Ihren kulinarischen Tempel zu besuchen – sollte ich mir dann nicht wenigstens aussuchen können, was es zum Essen gibt?“ Sie seufzte laut: „Jeden Tag die gleiche Diskussion mit Euch Gästen. Ihr müsst doch nicht kommen, wenn Euch das Essen nicht schmeckt. Dazu wird ja niemand gezwungen!“ „Ja, aber ich muss ja trotzdem jedes Jahr über 200,- Euro latzen, ob ich komme oder nicht. Dazu bin ich ja auch gezwungen!“
Sie zog die Augenbrauen zusammen: „Ja natürlich. Oder wollen Sie in der Stadt nur noch Dönerbuden und Schnellrestaurants und Pizzerien und Asiaten und Griechen haben? Da wissen Sie doch gar nicht, was die ins Essen tun! Sie unterstützen mit Ihrem Beitrag die kulinarische und gastronomische Vielfalt in dieser Stadt. Das muss es Ihnen einfach wert sein!“
„Gastronomische Vielfalt? Mit Bohnensuppe? Die ich weder mag, noch vertrage und deren einziges Ergebnis Blähungen sein werden? Das bezeichnen Sie als kulinarische und gastronomische Vielfalt? Den Erhalt des schlechtesten Lokals der Stadt?“, ich schrie sie fast an, aber meine Servicekraft blieb die Ruhe in Person: „So ist nun einmal das Gesetz. Nehmen Sie es oder lassen Sie es. Aber Sie zahlen!“ „Ich will sofort den Geschäftsführer sprechen!“, insistierte ich. „Das geht nicht, der ist auf den Malediven zu einer Speisekartenbesprechung“, erklärte sie. „Aber Sie haben doch gar keine Speisekarte!“, gab ich trotzig zurück. „Doch. Morgen beispielsweise gibt es Blumenkohlsuppe, übermorgen Rosenkohlsuppe, am Dienstag dann Rotkohlsuppe, dann Erbsensuppe, danach Rübensuppe, dann Tomatensuppe und am Mittwoch dann wieder Bohnensuppe. Dann wiederholt sich das. Also ein breit gefächertes Angebot!“
„Das sind alles Gemüsesuppen!“, widersprach ich. „Ja, aber abwechselnd grün und rot. Von Einseitigkeit kann also keine Rede sein. Da ist für jeden Geschmack etwas dabei“, erklärte sie ohne einen Anflug von Lächeln oder Hauch von Ironie. „Und dafür fliegt Ihr Chef auf die Malediven?“ „Natürlich. Er kann sich das leisten. Läuft ja gut, unser Laden“, und jetzt lächelte Sie doch. „Ich schütte die verdammte Bohnensuppe weg!“, brüllte ich, „ich will keine Suppen, ich hasse Suppen, ich geh woanders hin zum Essen!“ Sie drehte sich um. „Wie Sie möchten. Wie gesagt, niemand zwingt Sie, unser Angebot zu essen oder zu kauen oder zu schlucken. Achten Sie nur immer auf Kontodeckung, sonst wird es teuer.“ Ich war stinkwütend: „Sie sind keine Schänke und keine Tränke, keine Gaststätte und kein kulinarischer oder wenigstens sympathischer Anbieter, sondern eine schlichte Piratenspelunke! Eine Diebeshöhle! Wo kann ich mich beschweren?“
Und jetzt lachte sie tatsächlich: „In Brüssel. Die haben uns das erlaubt.“ Ich sank in mich zusammen. Meine Bedienung legte mir die Hand auf die Schulter. „Seien Sie nicht traurig“, sagte sie, „nun lassen Sie es sich schmecken. Immerhin haben Sie ja dafür bezahlt.“ Und ich sah mich den Löffel nehmen, sah die alten Brotstückchen in der Suppe, die mir jemand eingebrockt hatte und dann löffelte ich brav diese geschmacksnervende Beleidigung aus Furzbohnen ganz allein aus. Immerhin tat ich etwas für die kulinarische Vielfalt und sicherte die Arbeitsplätze aller Angestellten. Das musste es mir einfach wert sein.