Viele Auslandsdeutsche sehen Friedrich Merz in milderem Licht als seine Kritiker im Inland. Unser Autor lebt in Neuseeland, verfolgt das hiesige Geschehen aber aufmerksam. Die Konzentration auf Außenpolitik hält er für einen cleveren Schachzug von Merz.
Letzte Woche sah Friedrich Merz schon vor seinem eigentlichen Amtsantritt angeschlagen aus. Der neue Bundeskanzler sollte im Bundestag formell bestätigt werden. Doch obwohl seine CDU/CSU-SPD-Koalition mit 328 Sitzen über eine theoretische Mehrheit verfügt, erreichte Merz im ersten Wahlgang nicht die erforderlichen 316 Stimmen.
Mindestens 18 Abgeordnete seiner eigenen Koalition hatten in der geheimen Abstimmung ihre Unterstützung verweigert. Es kam zu einem eilig einberufenen zweiten Wahlgang, den Merz gewann (obwohl ihm das Vertrauen von drei seiner Koalitionsabgeordneten fehlte). Es war eine historische Demütigung. Noch nie war ein designierter Bundeskanzler mit einer Parlamentsmehrheit im ersten Wahlgang abgelehnt worden.
Konventionelle Meinungen hätten nahegelegt, dass das nächste Kapitel für Merz Wochen der Selbstreflexion, interner Verhandlungen und Reparaturarbeiten in der Koalition bedeuten würde. In der Tat würden sich die meisten neuen Regierungschefs in einer solchen Situation ins Kanzleramt zurückziehen, aufmüpfige Parlamentarier zu strengen Gesprächen zusammenrufen und versuchen, ihre Kanzlerschaft zu retten.
Merz tat jedoch das Gegenteil. Er begab sich auf eine diplomatische Rundreise, die Beobachter sprachlos machte. Keine 24 Stunden nach dem Gewinn der Kanzlerschaft im zweiten Wahlgang war er in Paris, um mit Emmanuel Macron ausführliche Gespräche zu führen. Vorbei war die unterkühlte Atmosphäre, die die deutsch-französischen Beziehungen unter Merz' Vorgänger Olaf Scholz geprägt hatte. An ihre Stelle trat eine Wärme, die sowohl in den politischen Ambitionen als auch in der persönlichen Beziehung zum Ausdruck kam. Macron sprach sogar von „cher Friedrich“, als sie eine beschleunigte Verteidigungszusammenarbeit und regelmäßige Sicherheitsräte ankündigten.
Telefongespräch mit Trump
Später am selben Tag reiste Merz zu Gesprächen mit dem polnischen Premierminister Donald Tusk nach Warschau. Sie bewegten sich mit überraschender Geschicklichkeit auf dem schwierigen Gebiet der Migrationspolitik, historischer Missstände und der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit.
Am dritten Tag seiner Amtszeit führte Merz ein halbstündiges Telefonat mit Donald Trump, in dem er „Nullzölle“ für den transatlantischen Handel vorschlug und das weitere Vorgehen im Ukraine-Krieg erörterte. Diese mutigen Maßnahmen stellten eine deutliche Abkehr von der kontroversen Beziehung dar, die sowohl Merkel als auch Scholz zu Trump hatten. Später äußerte sich Merz sogar überrascht über die zahlreichen Punkte, in denen er mit Trump übereinstimmte.
Am vierten Tag war Merz neben Macron, Tusk und dem britischen Premierminister Keir Starmer in Kiew. Das Timing war tadellos – zeitgleich mit Putins Gedenkfeierlichkeiten zum Tag des Sieges in Moskau. Die vier Staats- und Regierungschefs führten sogar von Kiew aus ein gemeinsames Telefongespräch mit Trump, um sich die Unterstützung der USA für ihre diplomatische Initiative zu sichern.
Außergewöhnliche diplomatische Bemühungen
Im Mittelpunkt ihres Besuchs stand die Ankündigung eines 30-tägigen bedingungslosen Waffenstillstands, der sich auf Land-, See- und Luftoperationen erstrecken und am 12. Mai beginnen sollte. Wichtig ist, dass es sich dabei nicht um bloßes diplomatisches Theater handelte – die Staats- und Regierungschefs zogen Konsequenzen und warnten, dass sie im Falle der Weigerung Russlands, sich zu engagieren, den Druck auf die russische Kriegsmaschinerie mit „massiven“ neuen, zwischen Europa und den USA koordinierten Sanktionen erhöhen würden.
Am überraschendsten war vielleicht Merz' Ankündigung eines bedeutenden Wandels in der deutschen Politik. Unter seiner Führung würde Deutschland seine militärische Hilfe für die Ukraine nicht mehr öffentlich machen und eine „strategische Zweideutigkeit“ einführen, wie er es nannte. Die Debatte über Waffenlieferungen, Kaliber, Waffensysteme und so weiter wird aus der Öffentlichkeit herausgenommen“, so Merz – ein klarer Bruch mit der bisherigen deutschen Transparenzpraxis.
Was ist von den außergewöhnlichen diplomatischen Bemühungen von Merz zu halten? Sie stellt eine grundlegende Abweichung von der traditionellen Vorgehensweise der neuen deutschen Bundeskanzler dar. Obwohl Angela Merkel schließlich internationales Ansehen erlangte, verbrachte sie ihre erste Zeit im Amt damit, ihre Koalition sorgfältig zu verwalten. Olaf Scholz konzentrierte sich auf die deutsche Pandemiebekämpfung und die innere Sozialpolitik, bevor die russische Invasion ihn zum Handeln zwang.
Eine strategische Erklärung
Merz hingegen hat anscheinend beschlossen, dass die beste Verteidigung eine gute Offensive ist. Da er sich im eigenen Land keine unmittelbare Loyalität (und Popularität) sichern konnte, hat er versucht, im Ausland Autorität aufzubauen. Dabei kommt Merz eine Konstellation zugute, die seit Jahrzehnten kein Kanzler mehr hatte: Seine Partei CDU kontrolliert sowohl das Kanzleramt als auch das Auswärtige Amt. Normalerweise sind diese Ämter zwischen den Koalitionspartnern aufgeteilt. Das bedeutet, dass es oft dort Spannungen gibt, wo es eine kohärente Außenpolitik geben sollte. Merz hingegen muss sich keine Gedanken darüber machen, was sein Außenminister denken könnte. Sie sind auf derselben Seite.
Ein weiterer Faktor, der Merz' unterschiedliche Herangehensweise an die Außenpolitik erklären könnte, ist, dass er für einen deutschen Politiker ungewöhnlich international ist. Er war ein Jahrzehnt lang Vorsitzender von BlackRock Deutschland, einer Niederlassung des weltweit größten Vermögensverwaltungsunternehmens. Außerdem war er Vorsitzender der Atlantik-Brücke, einem angesehenen Netzwerk zur Förderung der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Beides verschaffte ihm globale Verbindungen, die die meisten deutschen Politiker erst im Amt erwerben.
Es gibt auch eine strategische Erklärung dafür, dass Merz die Weltbühne sucht. Mit Zustimmungswerten von nur 32 Prozent und einem erheblichen Teil seiner eigenen Parlamentarier, die offen rebellieren, werden substantielle innenpolitische Reformen schwierig sein. In der Außenpolitik hat Merz eine Chance zu glänzen.
Das erste Kapitel umgeschrieben
Es ist nicht das erste Mal, dass ein deutscher Regierungschef versucht, die innenpolitische Schwäche durch außenpolitisches Engagement zu kompensieren. Helmut Schmidt, der in den späten 1970er Jahren mit einer zerstrittenen SPD konfrontiert war, stürzte sich in die Ost-West-Diplomatie. Gerhard Schröder, dessen Popularität zusammen mit dem wirtschaftlichen Niedergang sank, fand eine neue Aufgabe in der Opposition gegen US-Präsident George W. Bush im Irak-Krieg.
Doch Merz' Fall ist anders. Europa steht vor größeren Herausforderungen als jemals zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Amerikas Engagement für Europa ist in Frage gestellt. Die internationale, auf Regeln basierende Ordnung – die Grundlage des deutschen Wohlstands seit sieben Jahrzehnten – ist stark geschwächt. In dieser Situation würde sich jeder deutsche Bundeskanzler, unabhängig von seinen Neigungen, mehr als jeder seiner Vorgänger in die Außenpolitik einmischen. Aber mit Merz hat Deutschland jetzt einen Kanzler, der diese Rolle genießt.
In weniger als einer Woche hat Merz das erste Kapitel seiner Kanzlerschaft bereits umgeschrieben. Von der parlamentarischen Demütigung zur diplomatischen Dynamik – das ist ein ziemlicher Wechsel der politischen Erzählung. Für einen Kontinent, der dringend eine Führungspersönlichkeit braucht, könnte Merz' schnelle Neuerfindung vom verletzten Kanzler zum strategischen Akteur genau das sein, was Europa braucht.
Dr. Oliver Marc Hartwich, geboren 1975 in Gelsenkirchen, ist seit 2012 geschäftsführender Direktor der New Zealand Initiative in Wellington, der windigsten Hauptstadt der Welt. Die Initiative ist ein Verband neuseeländischer Unternehmen und die führende Denkfabrik des Landes. Dieser Beitrag erschien zuerst auf seiner Website.