Der 9. Mai ist in Russland mehr als ein Feiertag – er ist ein politisches Ritual, das eines offenbart: Moskaus Scheitern am eigenen historischen Erbe.
Kaum ein Gedenktag in Russland bündelt so viele Widersprüche wie der 9. Mai. Eine pompöse Schau militärischer Macht soll den Frieden feiern; die sowjetische Besatzung Osteuropas wird zur Befreiung verklärt; und die Millionen im Krieg geopferten Soldaten erscheinen rückblickend vor allem als Helden. Dass Stalin den Sieg über Nazi-Deutschland weder politisch noch historisch teilen wollte, ist dabei längst in Vergessenheit geraten.
So wird der 9. Mai zum Sinnbild einer Geschichtsbewältigung, die dem deutschen Modell nicht nur widerspricht – sondern es gezielt ins Gegenteil verkehrt. Kritische Reflexion weicht Pathos und Glaube. Das Ergebnis ist ein staatlich gepflegter Mythos, der sich bereitwillig politisch instrumentalisieren lässt – und dabei teilweise vom historischen Kontext abgelöst ist. Es geht längst nicht mehr darum, den Frieden zu feiern, sondern den Krieg der Regierung zu legitimieren.
Einmal mehr zeigt sich: Geschichte ist kein statisches Erbe, sondern ein fortwährender Deutungsraum, in dem Macht, Erinnerung und Identität verhandelt werden. In Putins Russland wird dieser Raum nicht offen diskutiert, sondern autoritär besetzt – mit Symbolen, Ritualen und einer Erzählung, die die Vergangenheit auf die Bedürfnisse der Gegenwart zuschneidet.
Eine Methode, die auch außerhalb Russlands Nachahmer findet – etwa in den USA, wo Donald Trump das Ende beider Weltkriege jüngst zu nationalen Feiertagen erhob. Doch diese Tendenz ist nicht ohne Risiko. Geschichte sollte vor allem ein Lehrer für die Gestaltung der Gegenwart sein – nicht ein politisches Werkzeug zur Mobilisierung von Loyalität. Wird sie zur Bühne nationaler Selbstverklärung, verliert sie ihren aufklärerischen Charakter – und droht, zum Instrument der Spaltung zu werden.
Dass der 9. Mai in seiner heutigen Form zur gesellschaftlichen Konsolidierung beiträgt, mag paradox erscheinen. Doch dieser Effekt gründet auf einer weit verbreiteten Geschichtsvergessenheit. Viele Russen glauben den Erzählungen der Staatsmedien: dass Stalin Europa befreit habe, um den Völkern die Freiheit zu schenken; dass die Rotarmisten einem Staat dienten, der ihren Einsatz mit Respekt und Anerkennung vergalt; und dass sie die Welt vor dem Untergang gerettet hätten.
Stalin kämpfte nicht für die Freiheit Europas
Nichts davon entspricht der historischen Realität. Stalin kämpfte nicht für die Freiheit Europas, sondern zur Verteidigung und anschließenden Ausweitung seines Imperiums – bis tief nach Mitteleuropa. Das Leid anderer, auch das der eigenen Soldaten, war ihm gleichgültig. Es ging ihm allein um Macht, Kontrolle. Die Freiheit der Völker spielte in seinem Denken keine Rolle.
Der in Moskau lehrende ukrainische Historiker Oleg Chlewnjuk zeichnet in seiner Stalin-Biografie das Bild eines machtbesessenen, misstrauischen und zutiefst manipulativ agierenden Diktators – emotional verschlossen, autoritär im Privaten und getrieben von einem tiefen Bedürfnis nach Kontrolle. „Am Ende seines Lebens stand Stalin auf dem Höhepunkt seiner Macht. Seine Autorität war unanfechtbar und von keiner Seite ernsthaft bedroht. Doch so empfand er es nicht. Wie andere Diktatoren führte er unablässig einen Kampf um die Macht“, schreibt Chlewnjuk.
Dieser Kampf hatte in der Sowjetunion bereits Millionen Todesopfer gefordert, lange bevor die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 angriff. In nur 17 Jahren hatte Stalin das Land in einen brutalen Polizeistaat verwandelt, der seine eigenen Bürger systematisch mit Zwangsumsiedlungen, Arbeitslagern, Verhaftungen und Massenmorden terrorisierte. So entstand ein Klima der Angst, des Misstrauens und Rechtlosigkeit, das sich mit Worten kaum angemessen beschreiben lässt.
Die meisten Opfer forderte die staatlich verursachte Hungersnot der Jahre 1932/33 in der Ukraine und anderen Teilen der Sowjetunion – der sogenannte Holodomor –, der drei bis fünf Millionen Menschen das Leben kostete. Hinzu kamen rund 700.000 Erschießungen während des Großen Terrors, mindestens 1,5 Millionen Tote im Gulag-System, zahllose weitere infolge von Zwangsumsiedlungen sowie Hunderttausende, die während der Kollektivierung oder durch Repressionen im Krieg starben. Das Ausmaß des stalinistischen Terrors war erschütternd – und in seiner systematischen Brutalität historisch einzigartig. Oder wie Jörg Baberowski es formuliert: „Stalins Macht ruhte im Terror.“
Verdrängung traumatischer Erfahrungen
Dass diese Zusammenhänge im heutigen Russland kaum noch eine Rolle spielen, ist Ausdruck eines menschlich nachvollziehbaren Wunsches: der Verdrängung traumatischer Erfahrungen. Es ist leichter, an die bequeme Unwahrheit zu glauben, die Generation der Großeltern seien Helden gewesen – und nicht Opfer eines Systems, das sie verschlang.
Dass der 9. Mai überhaupt erst seit 1965 staatlich als Feiertag begangen wird, verdrängen heute viele. Statt seiner Bevölkerung nach dem Sieg über Hitler Freiheit und Wohlstand zu bringen, überzog Stalin sie umgehend mit neuen Wellen des Terrors. Heimkehrende Soldaten und Kriegsgefangene galten als potenziell illoyal – viele landeten in Filtrationslagern, wurden verhört oder direkt in den Gulag geschickt.
Ab 1948 kehrte der Stalinismus zur paranoiden Feindbildlogik zurück, vor allem jüdische Wissenschaftler, Ärzte und Künstler gerieten ins Visier. Zwischen 1951 und 1953 erreichte der spätstalinistische Terror seinen Höhepunkt: mit politischen Säuberungen, der sogenannten „Ärzteverschwörung“ und einer antisemitischen Kampagne, die in einem großen Schauprozess zu enden drohte. Viele Historiker vermuten, dass Stalin neue Massenvertreibungen oder sogar Deportationen vorbereitete – ähnlich wie die „großen Prozesse“ der 1930er. Dass es nicht mehr dazu kam, lag am Tod des Diktators im März 1953.
Zwölf Jahre später suchte Leonid Breschnew nach einem Weg, den Abgrund zwischen einem außer Kontrolle geratenen Polizeistaat und einer von Terror und Gewaltherrschaft zerschundenen Gesellschaft zu überbrücken – und entdeckte im mythisierten Sieg über Nazi-Deutschland ein verbindendes Narrativ. Aus Opfern wurden Helden. Aus Opfern wurden Helden, aus Schuld ein Grund zum Stolz – und aus Tätern vermeintliche Befreier.
Daran wird deutlich, dass es den Menschen in Russland weniger um historische Fakten geht als um eine Quelle kollektiver Selbstbestätigung – eine Erzählung, die sie trotz aller Missstände und Rückschläge als Teil der Siegergeschichte erscheinen lässt. Es ist dieser Moment, in dem das Ego eines Volkes, das in den vergangenen zweihundert Jahren herausragende Leistungen in Wissenschaft, Kunst und Literatur erbracht hat, als das erscheint, was es ist: ein fragiles Schutzkonstrukt gegen die Zumutungen der eigenen Geschichte.
Siegesparade zur Bühne eines machtpolitischen Schauspiels
Aus diesem Grund brauchen die Russen Wladimir Putin. Er steht nicht nur für Autorität und Stärke, indem er russische Interessen energisch nach außen vertritt – er erzählt den Russen auch ihre Geschichte und bewahrt sie zugleich davor, sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Doch genau darin läge die Voraussetzung für jede echte politische und gesellschaftliche Erneuerung.
Ihr Ausbleiben, ist kein Zufall. Solange der imperiale Glanz von heute die Schatten von gestern überstrahlt, kann das kollektive Selbstbild intakt bleiben – frei von den Zumutungen historischer Verantwortung. Putin gibt diesem Bedürfnis eine politische Form: Er ersetzt Erinnerung durch Mythos, Schuld durch Stolz – und Geschichte durch ein Narrativ nationaler Größe. Geschichte wird in diesem System nicht aufgearbeitet, sondern verwaltet – kontrolliert, selektiert und instrumentalisiert. Das gilt besonders für den Überfall auf die Ukraine, der bereits jetzt als Akt der Selbstverteidigung in das nationale Geschichtsbild eingeschrieben wird.
Die skizzierten Zusammenhänge mögen historisch weit zurückliegen – und doch sind sie zentral für das Verständnis der heutigen Bedeutung des 9. Mai. Sie zur Sprache zu bringen ist kein Ausdruck von Provokation oder Ressentiment, sondern ein Akt historischer Wertschätzung: gegenüber den Fakten, gegenüber den Opfern – und gegenüber einer faszinierenden Geschichte Russlands, die mehr verdient als ihren Missbrauch durch Macht.
Vor diesem Hintergrund wurde die diesjährige Siegesparade zur Bühne eines machtpolitischen Schauspiels: Wladimir Putin inszenierte Russland als Anführer einer neuen, nichtwestlichen Weltordnung. 11.500 Soldaten marschierten über das Kopfsteinpflaster des Roten Platzes, begleitet von mehr als 180 Militärfahrzeugen.
An Putins Seite standen Chinas Präsident Xi Jinping, Brasiliens Luiz Inácio Lula da Silva, Serbiens Aleksandar Vučić und der slowakische Premier Robert Fico – letzterer als einziger Vertreter eines EU-Landes. Auch nordkoreanische Generäle in Paradeuniform nahmen auf der Ehrentribüne Platz. Kim Jong-un blieb zwar fern, doch Putin dankte den nordkoreanischen Offizieren demonstrativ persönlich.
"Unerschütterliche Barriere gegen Nazismus, Russophobie und Antisemitismus“
Vertreter westlicher Staaten blieben der Veranstaltung demonstrativ fern. Der Kreml stilisierte die Anwesenheit autoritärer und blockfreier Staaten zum Beweis einer neuen multipolaren Ordnung. Der Schulterschluss mit China stützt nicht nur Russlands Außenpolitik, sondern auch seine wirtschaftliche Stabilität. Laut russischen Medien sollen sogar nordkoreanische Truppen ukrainische Einheiten aus zurückeroberten Gebieten verdrängt haben.
Putins Rede folgte dem bekannten propagandistischen Muster: historische Anspielungen, pathetische Formeln, die rhetorische Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart. „Wir erinnern uns an die Lehren des Zweiten Weltkriegs [...] Unsere Pflicht ist es, die Ehre der Kämpfer und Kommandeure der Roten Armee zu verteidigen“, erklärte er.
Russland sei stets eine „unerschütterliche Barriere gegen Nazismus, Russophobie und Antisemitismus“ gewesen – und werde es bleiben. „Wahrheit und Gerechtigkeit sind auf unserer Seite.“ Die Nation stehe hinter der „speziellen Militäroperation“; deren Teilnehmer verdienten Stolz für „Mut, Entschlossenheit und innere Stärke“ – Tugenden, die Russland „immer zum Sieg geführt“ hätten.
In einem historischen Exkurs würdigte Putin die Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, lobte die späte Eröffnung der Westfront, huldigte dem „mutigen Volk Chinas“ – und schloss mit dem Ruf: „Ehre dem siegreichen Volk!“
Laut Verteidigungsministerium stammten 1.500 der marschierenden Soldaten direkt aus dem Kriegsgebiet. Putin sprach unter einem eigens zum Schutz vor Drohnenangriffen errichteten Dach: „Unsere Väter haben uns aufgetragen, unsere nationalen Interessen, unsere jahrtausendealte Geschichte, Kultur und traditionellen Werte entschlossen zu verteidigen.“
Sicherheitsvorkehrungen in Moskau waren massiv
Drei Jahre nach Kriegsbeginn bleibt Russlands militärische Bilanz jedoch ernüchternd: kein strategischer Durchbruch, stagnierende Fronten, wirtschaftlicher Druck durch Inflation, hohe Zinsen und sinkende Rohstoffpreise.
Auch die Parade spiegelte den Bruch mit der Realität. Moderne Systeme wie der T-14 „Armata“ oder die Artillerieeinheit „Koalition“ fehlten. Stattdessen rollten Drohnen der Typen „Shahed“, „Harpyien“, „Orlan“ und „Lancet“ über den Platz. Neue Modelle wie die 2S44 „Hyazinth K“ und der Flammenwerfer TOS-2 „Tosotschka“ ersetzten frühere Parade-Technik.
Im Vergleich zu 2024, als lediglich ein Altpanzer präsentiert wurde, fiel die Schau diesmal umfangreicher aus. Die Luftstaffel blieb reduziert: Eine Formation aus Su-30-, MiG-29- und acht Su-25-Kampfflugzeugen mit farbigem Rauch bildete den Abschluss. Die Sicherheitsvorkehrungen in Moskau waren massiv: Metrostationen wurden gesperrt, Straßen umgeleitet, der Internetzugang eingeschränkt. Kurz zuvor hatten ukrainische Drohnen die Flughäfen der Hauptstadt lahmgelegt.
Zwar erklärte das Verteidigungsministerium die Parade zur größten seit Kriegsbeginn – doch propagandistischer Glanz und militärische Wirklichkeit klaffen sichtbar auseinander. Die Erinnerung an 1945 wird zur Folie für den Krieg gegen die Ukraine – unter dem Narrativ eines Kampfes gegen den „Nazismus“. Doch der historische Vergleich wirkt zunehmend hohl – und politisch isolierend.
Der 9. Mai, einst ein verbindendes Gedenken über die Grenzen der ehemaligen Sowjetunion hinweg, ist heute Projektionsfläche einer geschichtspolitischen Revisionsagenda. Putins Versuch, den Sieg von 1945 zur Legitimation des Angriffskriegs von 2022 zu nutzen, hat den Charakter des Feiertags grundlegend verändert. Aus einem kollektiven Erinnerungsritual ist ein staatlich gelenktes Kampfinstrument geworden.
Autoritären Reflexe der Vergangenheit als Orientierung
Dass diese Verzerrung von einem Präsidenten betrieben wird, der sich als Liebhaber der russischen Geschichte inszeniert, wirkt paradox – ist jedoch Ausdruck derselben Logik, die schon Josef Stalin leitete: Der Zweck heiligt die Mittel, solange er der Macht dient.
Jörg Baberowski revidierte einst seine Einschätzung Stalins und räumte ein, dessen Wesen grundlegend verkannt zu haben: Stalin sei nicht bloß ein kalter Technokrat der Macht gewesen, sondern ein Mann, der in der Gewalt nicht nur ein Mittel, sondern einen eigenen Wert sah – und sie systematisch kultivierte.
Auch Wladimir Putin wurde lange unterschätzt. Inzwischen beherrscht er das Spiel mit der Geschichte ebenso virtuos wie mit der Macht. Er deutet Vergangenheit nicht nur um – er instrumentalisiert sie mit Kalkül, formt sie zu einem Herrschaftswerkzeug und macht sie zur ideologischen Munition seiner Gegenwartspolitik.
Damit knüpft er an Stalin an und beweist zugleich, dass Russland am Erbe des sowjetischen Diktators gescheitert ist. Es sucht in den autoritären Reflexen der Vergangenheit nach Orientierung für eine Zukunft, der es an einer Vision fehlt.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.