Angst taugt nicht als Ratgeber, wie sich in der Coronakrise einmal mehr erweist. So sind nicht nur die mit erheblichen Kollateralzerstörungen verbundenen Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens allein von Furcht getrieben. Sondern auch der sich verbreitende Impuls, diesen mit abseitigen, aus absurden Verschwörungstheorien und kruden Weltanschauungen gespeisten Argumenten entgegenzutreten. Angesichts eines hypothetischen Risikos in blinden Aktionismus zu verfallen, ist aber ebenso töricht wie tumbe Ignoranz. Vermögen doch beide Ansätze erst in jene Katastrophen zu führen, die man eigentlich zu vermeiden trachtet. Die Vernunft gebietet dagegen, das Virus ernst zu nehmen, ohne ihm mit panischen Überreaktionen zu begegnen.
Während diese Zeilen entstehen, meldet das Robert-Koch-Institut weniger als zehntausend aktive Corona-Infektionen in ganz Deutschland. Wer angesichts dieser geringen Zahl die sofortige Aufhebung aller aufgrund der Pandemie verhängten Vorschriften und Einschränkungen ablehnt oder die Rückkehr zum Normalzustand auch nur künstlich in die Länge zieht, hat als einzige Begründung den Glauben an eine große Menge bislang in der offiziellen Statistik nicht erfasster Fälle. Ein Vorgehen aber, das eine solche Dunkelziffer überhaupt ermöglicht, kann nur als untauglich angesehen werden. Wenn von den lediglich 178.000 bislang registrierten Erkrankten zudem mehr als 8.200, also etwa fünf Prozent, an Covid-19 verstorben sind, verbreitet sich das Virus offensichtlich überproportional hoch in genau der falschen Zielgruppe.
Mit dieser Fallsterblichkeit liegt Deutschland auch im internationalen Vergleich gerade mal im Mittelfeld, nahe am weltweiten Durchschnitt und nur unwesentlich besser als Staaten wie die USA oder Brasilien. Werte zwischen zehn und fünfzehn Prozent haben unter anderem Italien, Spanien, Großbritannien und Schweden zu beklagen. Nationen, die völlig unterschiedlich mit dem Virus umgehen. In Frankreich mit seinen rigiden Ausgangssperren stirbt gar jeder fünfte Infizierte. Zwar sagt die Entwicklung der Fallsterblichkeit während einer laufenden Pandemie nichts über die Letalität des Erregers und nichts über das individuelle Mortalitätsrisiko, aber sie ist ein hilfreicher Parameter zur Bewertung der jeweils verfolgten Politikansätze. Mit denen sich die Differenzen zwischen den einzelnen Ländern offensichtlich nicht erklären lassen. Soziologische und strukturelle Aspekte erweisen sich als bedeutender.
Die träge Duldsamkeit der Bevölkerung in höchsten Tönen loben
Geradezu zynisch mutet es da an, wenn Vertreter der Exekutivorgane hierzulande ihr Handeln nicht nur als alternativlos, sondern auch noch als überaus erfolgreich bezeichnen und gar die träge Duldsamkeit der Bevölkerung in höchsten Tönen loben. Tatsächlich aber haben zwei Monate der gesellschaftlichen Lähmung nichts weiter erbracht, als genügend Munition für das Schüren der Angst vor einer zweiten Welle zu liefern. Und das zum Preis erheblicher, kaum mehr zu behebender ökonomischer und sozialer Schäden.
Schon das dem verordneten Stillstand zugrunde liegende Postulat, es gälte, das „Gesundheitswesen“ vor einer denkbaren Überlastung zu schützen, ist menschenverachtend. Wenn denn Politik überhaupt auf ein neu auftretendes Gesundheitsrisiko reagieren möchte, dann doch unmittelbar zum Schutz der potenziell Betroffenen und nicht zur Tarnung der Mängel eines abstrakten Systems.
Stattdessen räumt man einerseits implizit sein Unvermögen ein, insbesondere Krankenhäuser nicht schnell genug in ausreichendem Umfang auf die Herausforderung einstellen zu können. Und unterwirft sich auch noch widerstandslos der Prämisse, eine steigende Zahl an Infektionen bedinge zwingend mehr schwere Verläufe und Todesfälle. Dabei bieten doch gerade die spezifischen Eigenschaften von SARS-CoV-2 die Option, diesen Zusammenhang zu brechen.
Das Virus selektiert sehr trennscharf und bewirkt gleichzeitig eine rasche, lang anhaltende Resistenz. Jüngere Menschen unter vierzig Jahren sind nahezu ausschließlich potenzielle Überträger, bei denen die Krankheit entweder gar nicht ausbricht oder äußerst mild verläuft. In der Gruppe bis zu einem Lebensalter von etwa 65 Jahren entspricht das Sterberisiko höchstens dem einer herkömmlichen Grippe. Ältere und Vorerkrankte dagegen sind sehr gefährdet. Wer sich infiziert und überlebt, ist nach wenigen Tagen nicht nur selbst immun, sondern auch nicht mehr ansteckend für andere.
Das Drängen der Politik auf naturwissenschaftliche Absolution
Nichts verhindert derzeit die Etablierung einer diese Charakteristika vorteilhaft nutzenden Strategie so sehr wie das Drängen der Politik auf naturwissenschaftliche Absolution. Man bettelt nach virologischer Expertise, obwohl doch die molekularbiologischen Ursachen oben beschriebener Erfahrungstatsachen völlig unerheblich für die Entscheidungsfindung sind. Man richtet sich an Hochrechnungen und Szenarien der Epidemiologen aus, obwohl deren Prognosekraft aufgrund zahlreicher notwendiger Spekulationen hinsichtlich der Eingangsparameter doch verschwindend gering ist.
Das Beispiel der sogenannten "Herdenimmunität" verdeutlicht besonders, wie die Orientierung an virtuellen Modellwelten der Forschung den Blick auf die Realität vernebelt. Gemeinhin wird kolportiert, jener Zustand, in dem neue Infektionen nicht mehr den Samen für ein zumindest kurzzeitiges exponentielles Wachstum legen können, sei erst bei einer Immunisierung von sechzig bis siebzig Prozent der Bevölkerung erreicht. In der Berechnung dieses Wertes steckt jedoch die Annahme, die hinsichtlich einer Übertragung kritischen Sozialkontakte seien gleichmäßig über die Menschen verteilt. Was natürlich nicht der Fall ist. In einer fragmentierten und individualisierten Gesellschaft bieten manche Menschen dem Virus eine Brücke zu sehr vielen anderen und manche sind in dieser Hinsicht eher Sackgassen.
Dies berücksichtigend, stellt sich eine Herdenimmunität bereits dann ein, wenn die besonders aktiven Überträger immunisiert sind. Man sollte also diese "Superspreader" einfach in Ruhe lassen, zumal nur wenige Partygänger und in Sport-, Gesangs- oder sonstigen geselligen Vereinen besonders aktive Zeitgenossen den Risikogruppen angehören. Letztere parallel zu schützen, gelingt vor allem durch eine Brandmauer vor den Orten, an denen sie sich vorwiegend aufhalten und selbst Kontakt zu vielen fremden Menschen haben.
Und dieser Schutzschild muss nicht aus Besuchsverboten, aus angeordneter Isolierung und Ausgangssperren bestehen. Es gilt lediglich, Besucher und Personal von medizinischen und Betreuungseinrichtungen aller Art einem strengen Testregime zu unterwerfen. Selbst unvollkommene Nachweise, die mitunter zu im Einzelfall ärgerlichen falsch-positiven Ergebnissen führen, genügen schon dem Anspruch, vorzeitige Todesfälle durch SARS-CoV-2 massiv zu reduzieren.
Das Problem wird nur zeitlich unbegrenzt verlängert
So wäre Deutschland schnell und ohne größere Verluste durch die Pandemie gekommen. So könnte es immer noch gelingen, mit einer weit geringeren absoluten wie relativen Fallsterblichkeit trotz vieler Millionen Infektionen. Dem gegenwärtigen Vorgehen aber wohnt intrinsisch der Mangel inne, nur dann die Risiken für Leid und Tod sicher zu senken, wenn man es bis zur breiten Verfügbarkeit eines verlässlichen Impfstoffes fortsetzt. Nach ein bis zwei Jahren der Paralyse wird jedoch in diesem Land nicht mehr viel von dem übrig sein, das es zum Wiederaufbau des bis dahin Vernichteten braucht.
Der Versuch, die Ausbreitung des Virus in der Gesamtbevölkerung zu stoppen, hat also das Land in eine tiefe Rezession mit unabsehbaren gesellschaftlichen und gesundheitlichen Folgen gestürzt, ohne zu einem dauerhaften Infektionsschutz viel beizutragen. Eine Debatte, die vorwiegend um Fragen der Rechtsgüterabwägung kreist und um Verhältnismäßigkeiten von Einschränkungen, wird diesem Umstand nicht gerecht. Stattdessen belegt die Coronakrise die grundsätzliche Unzulänglichkeit jeder auf vorsorgende Risikominimierung fokussierten Politik.
Wer nämlich dem Schutz der Gesundheit oberste Priorität einräumt, muss im Falle einer durch einen von Mensch zu Mensch übertragbaren Virus ausgelösten Pandemie zwingend individuelles Verhalten nach der von diesem ausgehenden Ansteckungsgefahr bewerten und regulieren. Aus dieser Perspektive sind Grundrechtsaufhebungen nicht nur legitim, sondern sogar in großem Umfang notwendig. Was einerseits einer liberalen Demokratie zumindest vorübergehend die Anmutung einer autoritären Diktatur verleiht. Und andererseits, wie oben bereits angesprochen, das Problem nicht aus der Welt schafft. Sondern nur zeitlich unbegrenzt verlängert, auf Kosten einer im Vergleich zur tatsächlichen Tödlichkeit des Erregers deutlich erhöhten Fallsterblichkeit und der Potenzierung der Notlage durch deren Ausweitung auf weitere Domänen.
Helfen, mit dem Erreger zu leben
Man kann nun mal ein Virus nicht ohne einen Impfstoff ausrotten. Schon diese Tatsache, deren Vermittlung die medial dauerpräsenten, unablässig „Aufklärung“ mit „Mahnung“ verwechselnden Biologen, Chemiker und Mediziner konsequent unterlassen, genügt, um die aktuell verfolgten Strategien als untauglich zu verwerfen. Schon diese Tatsache beschränkt das Spektrum der sinnvollen Optionen auf jene, die dabei helfen, mit dem Erreger zu leben. Optimale Anpassung aber bedarf der Öffnung von Räumen für spezifische Lösungen auf der individuellen Ebene. Ob der Dienstleister, der seine Kunden versorgen will, ob das Hochzeitspaar, das seine Gästeliste gestaltet, ob die betagte Oma im Heim, die ihre Kinder und Enkel sehen möchte: Diese und alle anderen von der Pandemie betroffenen Menschen müssen über sich und das persönliche Risiko, das sie eingehen möchten, situativ flexibel und selbstbestimmt entscheiden können.
Ein Ansatz, der nicht länger die Menge der Infizierten, sondern allein die Anzahl der schweren Verläufe und Sterbefälle zum Maßstab des Handelns erhebt, hätte sich entlang dieser Leitplanke selbstorganisiert etabliert. Und dabei die zu tragenden ökonomischen und psychischen Belastungen deutlich reduziert. Abstand halten, Kontakte beschränken oder Gesichtsmasken tragen, mag für einzelne Menschen in bestimmten Zusammenhängen sinnvoll sein, aber niemals immer und für alle.
Hier zeigt sich die Weisheit der Verfasser des Grundgesetzes, die den Gewalten dieses Landes die Achtung und den Schutz der Menschenwürde als oberste Maxime aufgetragen haben. Denn genau die mit dieser untrennbar verbundenen Freiheitsrechte verleihen einem Gemeinwesen erst Krisenfestigkeit. Geradezu einfältig agieren dagegen die gegenwärtig amtierenden Exekutivorgane in ihrer Ignoranz gegenüber dieser ursprünglich als uneingeschränkt bindend gedachten Vorgabe. Suchen sie doch Konformität zu erzwingen, obwohl in individueller Souveränität wurzelnde Vielfalt Resilienz erst schafft.
Angst ist eben immer der schlechteste aller Ratgeber. Vor allem, wenn es sich im Grunde um die Angst vor der Freiheit der Anderen handelt. Denn es gibt keine Notlage, die sich nicht durch Fesseln und Repressionen noch verschlimmert. Die Coronakrise verpflichtet mündige Bürger daher einmal mehr dazu, ihren Regierungen die willkürliche Aufweichung von Grundrechten niemals zu gestatten.