Ist es nicht seltsam? Wir leben in Zeiten, in der die Selbstdarstellung einzelner Personen, nicht zuletzt des öffentlichen Lebens, an Peinlichkeit oft nicht zu überbieten ist. Umgekehrt aber gleicht es einem Kampf gegen Windmühlenflügel, den Deutschen ein positives Bild von sich selbst zu vermitteln. Ganz schnell wird man dann mit dem Vorwurf „nationalistischer Überhebung“ plattgewalzt. Dabei weiß doch eigentlich jeder: Ein gesundes Selbstwertgefühl, welches ohne ein positives Selbstbild nicht auskommt, ist der beste Schutz vor jeder Art von Überheblichkeit und Selbstüberschätzung. Und vor Größenwahn.
Dies bedeutet mitnichten, alles Negative auszublenden. Es hat ebensowenig mit „Hurrapatriotismus“ zu tun, der einem schnell vorgehalten wird. Es bedeutet vielmehr, dem Negativen nicht die Oberhand zu überlassen, weil ihm stets Zerstörerisches innewohnt. Selbsthass und Selbstzerstörung liegen eng beieinander. Wenn wir zu anderen „gut“ sein wollen, müssen wir auch zu uns selbst gut sein.
Und überhaupt: Wir Deutschen haben sehr wohl glückliche Momente in unserer langen wechselvollen Geschichte. Zu den glücklichsten gehört ohne Zweifel der 9./10. November 1989. Die Erinnerungen an die bewegenden, zu Herzen gehenden Bilder treiben mir noch heute Tränen in die Augen. Ich kann nicht anders. Ein Volk, das über vier Jahrzehnte auf denkbar brutalste Art und Weise auseinandergerissen wurde, lag sich in den Tagen und Nächten nach dem 9. November 1989 in den Armen. Am 30. Jahrestag des Zusammenbruchs der Mauer hat dieses Datum es verdient, an vorderster Stelle in Erinnerung gerufen zu werden.
Wir haben Herz gezeigt
„Man möchte lachen und weinen, alles in einem. Man möchte sie alle, die da kommen, in die Arme nehmen und sie drücken – aus Ost-Berlin, Sachsen oder Thüringen.“
Kaum ein anderer Satz vermag wohl die Bilder treffender wiederzugeben, die uns im November 1989 von der Mauer in Berlin und schließlich auch von der innerdeutschen Grenze erreichten, als diese Worte der damaligen Bundesministerin für Innerdeutsche Beziehungen, Dorothee Wilms (CDU), die ihre Rührung in diesem Moment nicht zurückhalten konnte und wollte [1].
In jenen Tagen stieß ich auch auf einen Spruch von Wystan Hugh Auden (1907–1973, englischer Autor), der für mich persönlich am innigsten die Gemütslage der Deutschen in den unvergessenen Herbsttagen beschreibt: „Was ist Glück? Die Freude in den Gesichtern der Menschen zu sehen.“
Diese Freude war grenzenlos. „Tag der Wiedervereinigung der Menschen wird mit Begeisterung in der Welt aufgenommen“, schrieb die WELT. In der Tat: Was in jenen Novembertagen in Berlin und in Deutschland geschah, ließ niemanden kalt. Alle Welt freute sich mit den Deutschen, beglückwünschte sie zu diesem spontanen Feuerwerk aus Freude und Mitmenschlichkeit ohne Beispiel. Wir haben damals viel mehr als ein „freundliches Gesicht“ gezeigt. Wir haben Herz gezeigt, und das ganz ohne jede Verordnung und ohne jedes „Nudging“ von oben. Darauf dürfen wir, „das gemeine Volk“, schon ein klein wenig stolz sein.
Vor allem, weil die Deutschen (West) sich selber immer nachgesagt haben, sie seien kaltherzig. „Ellbogengesellschaft“ nannte man es damals. Dass nur wenige Monate zuvor der amerikanische Präsident George Bush sen. auf seinem Deutschland-Besuch gesagt hatte, „Meine Frau und ich waren immer von der Freundlichkeit des deutschen Volkes hingerissen“ [2], zeigt, dass unsere Selbstwahrnehmung viel negativer eingefärbt war und ist als so manche Fremdwahrnehmung.
Wenn ich einen Trabi sehe
Dieses Bild zeichnete auch der ehemalige US-Botschafter Vernon A. Walters. Er habe noch niemals und nirgendwo so viele erwachsene Männer mit Tränen in den Augen gesehen wie am 10. November 1989 an der Glienicker Brücke, gestand er. Auch ihm selbst seien die Augen feucht geworden. In seinem Buch „Die Vereinigung war voraussehbar“ [3a], beschreibt er eine anrührende Begegnung an jenem Tag an der Glienicker Brücke. Dort sprach Walters einen Mann an, der am westlichen Ende dieser Brücke stand und neben sich einen Berg von Kartons voller Blumen hatte. Er überreichte jeder Frau, die die Brücke von Ost nach West überquerte, einen dicken Strauß. Auf die Frage des Botschafters, ob er Westberliner sei, antwortete er, nein, er käme aus Hamburg. Walters wollte von dem Mann wissen, warum er alle diese Blumen „an fremde Menschen“ verschenke. Daraufhin schaute der Mann ihm direkt in die Augen und erwiderte: „Herr Botschafter, das sind keine Fremden, das sind meine Landsleute!“
Für den US-Botschafter war es laut seiner eigenen Aussage „atemberaubend zu sehen, mit welcher Freude hier die beiden Teile eines Volkes zusammenkamen“. Alle Deutschen schienen in diesen Tagen und Nächten auf den Beinen zu sein. Westlich der geöffneten, teils improvisierten Grenzübergänge standen die Menschen Spalier, um endlose Trabi-Schlangen freudig zu begrüßen. Die Rennpappen mit ihren blauen Auspufffahnen knatterten, ratterten, ihr unverkennbarer „Duft“ lag in den grenznahen Orten überall in der Luft, aber dies störte in diesen Tagen niemanden.
Kinder standen staunend nicht etwa vor Edelkarosserien. Nein, sie standen staunend vor einem verlachten Stiefkind der Automobilindustrie, das über Nacht quasi zum Symbol für Freiheit wurde. Ich gestehe, für mich ist das Auto in erster Linie ein nützlicher und geschätzter Zweckgegenstand, doch seit jenen Novembertagen wird mein Herz ganz weich, wenn ich einen Trabi sehe. Ein Auto, das mich sonst niemals vom Hocker gerissen hätte, hatte es in jenen Herbsttagen vermocht, sich in mein Herz – nein, nicht zu schleichen, sondern – zu fahren. Völlig unerwartet.
Als ein Volk vereint
Kaum im Westen angekommen und geparkt, hatten Unbekannte an ihren Windschutzscheiben schnell kleine Geschenke abgelegt. Bananen, Orangen, Schokolade. Alles, was man „drüben“ bis dato nur schwer oder nur „unter dem Ladentisch“ erhielt. Viele öffneten in diesen Tagen nicht nur ihr Herz, sie öffneten den Gästen auch ihr Haus. Menschen luden einander ein, die sich bis zum Zusammenbruch der Mauer persönlich nicht gekannt hatten – auch in dem Bewusstsein, Teil eines Ganzen zu sein, dessen andere Hälfte lange im Westen eines gemeinsamen Landes nicht präsent sein durfte. Selbst vom Polizeirevier kamen kleine „Liebesbriefe“:
Es ist überliefert, dass in mindestens einer Stadt auf die Besitzer der Trabis, Wartburgs und Ladas, die keinen Parkplatz mehr fanden und deshalb falsch parkten, keine Strafzettel und kein Bußgeld wartete, sondern neben einem herzlichen Willkommensgruß nur der freundliche Hinweis, dass das Parken hier normalerweise nicht gestattet sei. Den Menschen, die oft eine weitere Fahrt hinter sich hatten, die müde und durchgefroren endlich das Land ihrer Sehnsüchte erreicht hatten, wollte die Polizei nicht die so lange vorenthaltene Freude, endlich frei reisen zu dürfen, durch Strafzettel trüben. Diese vielen kleinen und großen Gesten ließen keinen Zweifel daran aufkommen: In diesen Tagen und Nächten waren wir Deutschen wirklich als ein Volk vereint.
Dem Ganzen vorausgegangen war ein trockener Satz im Amtsdeutsch [4]: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reisepässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagensgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt.“ Das gelte auch für Visa zur ständigen Ausreise, die Ausreisen könnten „über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen.“
Diese Worte sprach am 9. November 1989 ab 18:57 Uhr auf einer Pressekonferenz Günter Schabowski, Verantwortlicher des Politbüros der SED für Informationspolitik. Eine kurze Stille folgte, als würden weder Schabowski noch die Journalisten die Tragweite dieser Aussage richtig erfasst haben. Eigentlich sollte die neue Reiseregelung erst am 10. November bekanntgegeben werden. Als von Seiten der Presse die Frage gestellt wurde, ab wann diese Regelung denn gelte, erklang Schabowskis zögernde Antwort: „Wenn ich richtig informiert bin, nach meiner Kenntnis … sofort, unverzüglich.“
„Denn es geht um unsere gemeinsame Zukunft“
Der Deutsche Bundestag residierte zu diesem Zeitpunkt im Bonner Wasserwerk, die Uhr schlug 19:23 Uhr, als dort sozusagen der Blitz einschlug und drei Unionsabgeordnete, Josef Umland (CDU), Franz Sauter (CSU) und Ernst Hinsken (ebenfalls CSU) spontan dazu veranlasste, die dritte Strophe des Deutschlandliedes anzustimmen: „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland!“ Fast alle Abgeordneten erhoben sich, viele davon mit Tränen in den Augen und sangen die Nationalhymne mit, ohne wirklich zu ahnen, welche Lawine gerade losgetreten wurde [4].
Bundeskanzler Helmut Kohl weilte zu diesem Zeitpunkt in Warschau im Palais Radziwill mit dem polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki. Kohl brach kurzerhand seinen Polen-Besuch ab und eilte zurück nach Deutschland. Doch wegen der Sonderrechte der Alliierten konnte er nicht mit der Maschine der Luftwaffe direkt nach Berlin fliegen. Kohl musste einen Umweg über Hamburg machen. Hier wiederum war ihm der amerikanische Botschafter Walters sofort behilflich. Mit einer Maschine der US-Air Force konnte er nach Berlin fliegen [3b]. Am Abend des 10. November 1989 hielt er vor dem Schöneberger Rathaus eine Rede, die vor allem von Anhängern der Jusos und Grünen massiv gestört wurde. Das Pfeifkonzert machte es fast unmöglich, Kohls Worten zu folgen. Deshalb sollen an dieser Stelle einige Schlüsselsätze des Kanzlers hervorgehoben werden, die kaum je zitiert werden. Kohl rief an jenem Abend seinen Zuhörern unter anderem zu [5]:
„Heute ist ein großer Tag in der Geschichte dieser Stadt, und heute ist ein großer Tag in der deutschen Geschichte. […] Wir haben ihn herbeigesehnt. […] Wir sollten auch in dieser Stunde auf diesem Platz an die vielen denken, die ihr Leben an der Mauer ließen. Wir sollten dies tun in dem Augenblick, in dem die Mauer endlich fällt.“
Kohl würdigte ausdrücklich die Besonnenheit unserer Landsleute „drüben in der DDR“, „in Ost-Berlin, in Leipzig und Dresden und in vielen Städten“, und er wies auf die Dimension der Ereignisse hin: „Denn es geht um unsere gemeinsame Zukunft, es geht um die Freiheit vor allem für unsere Landsleute in der DDR in allen Bereichen des Lebens.“ Kohl richtete an die Verantwortlichen in der „DDR“ die Aufforderung, auf ihr Machtmonopol zu verzichten, Reformen einzuleiten und den Weg frei zu machen „für die Herrschaft des Volkes durch das Volk und für das Volk“ [Anmerkung: die hervorgehobenen Wörter der Zitate sind im Originaltext kursiv unterlegt].
Das Streiten Springers wider den Zeitgeist
Leidenschaftlich bekannte Kohl in Richtung der Deutschen (Ost): „Ihr steht nicht allein! Wir stehen an Eurer Seite! Wir sind und bleiben eine Nation, und wir gehören zusammen!“ Er forderte nachdrücklich das Selbstbestimmungsrecht für alle Deutschen ein, er appellierte an „alle unsere Landsleute, daß wir jetzt im Herzen eins sein wollen“, und den kommenden Weg „mit heißem Herzen und mit kühlem Verstand“ gehen sollten. Kohl schloss seine Rede mit dem Satz: „Es geht um Deutschland, es geht um Einigkeit und Recht und Freiheit. Es lebe ein freies deutsches Vaterland! Es lebe ein freies, einiges Europa!“
Dass hochrangige Politiker derartige Worte heute noch positiv konnotiert auszusprechen wagen, ist kaum vorstellbar. „Deutsche“, „Nation“, „deutsches Volk“, gar „Vaterland“ – geht gar nicht. Dabei ist davon nicht nur in unserer Nationalhymne die Rede, steht nicht nur über dem Portal des Reichstags „DEM DEUTSCHEN VOLKE“, sondern es steht auch im Grundgesetz: es gilt „für das gesamte Deutsche Volk“. Liebe Union, wenn Ihr heute damit ein Problem habt, dann habt Ihr mit dem größten Teil Eurer Geschichte ein Riesenproblem. Ihr wart einmal diejenigen, die sich am nachdrücklichsten zur ungeteilten Deutschen Nation bekannten, als andere sie längst abgeschrieben hatten.
Ähnliches gilt für einen Verlag, dessen Verleger sich einst vehement gegen die Anerkennung der Realitäten stemmte, in dem Sinne, sie widerspruchslos und anbiederisch hinzunehmen. Er hätte sich entschieden dagegen gewandt, Gewalt und Hass gegen Deutsche – egal ob jüdischen Glaubens oder nicht – zu ignorieren oder zu bagatellisieren. Axel Springer zeichnete sich gerade dadurch aus, dass er unbeirrt für seine eigenen Landsleute stritt, denen schweres Leid und Unrecht widerfuhr. Auffallend indes ist, wie Publikationen seines Verlages geradezu peinlich darauf bedacht sind, jeden Hinweis auf das Streiten Springers wider den Zeitgeist und für „christlich-bürgerliche Werte“, gegen die „Aushöhlung und Abwertung ihrer ideellen Fundamente“ [6] sowie für ein ungeteiltes „Vaterland“, wie Springer Deutschland oft nannte, zu vermeiden.
Dabei hatte die Geschichte dem 1985 verstorben Verleger vor dreißig Jahren so schneidend recht gegeben: „Für mich ist die Wiedervereinigung Deutschlands ein Akt der Freiheit – nicht des Nationalismus.“ Und: „Es sind die Unfreiheit, die Not der Menschen und die Gewalt der Diktatur, die eine Wiedervereinigung so dringlich machen.“ Springer sagte aber auch: „Wenn wir für unsere Landsleute drüben die Freiheit erreichen könnten, statt die Wiedervereinigung – auf diesen Handel würde ich mich einlassen.“ [7]
Willy-Brandt-Fans müssen jetzt tapfer sein
Kohls wie Springers Aussagen waren in jeder Hinsicht unmissverständlich – sehr im Gegensatz zu einem vielzitierten Satz Willy Brandts, für den er in Berlin sogar eine Gedenktafel erhielt, obwohl er ihn so nie gesagt hat. Jedenfalls nicht am 10. November 1989. Das kann man menschlich verständlich finden, es ist jedoch historisch unaufrichtig, vor allem aber ist es unfair gegenüber jenen, die den Glauben an ein ungeteiltes Deutschland unbeirrt hochhielten und dafür wüst beschimpft wurden. Brandt mag später, im Gegensatz zu vielen seiner Genossen, seinen Irrtum ehrlich eingesehen haben. Aber das prädestiniert ihn nicht zu einem Heiligen, während die Namen der wirklichen Streiter für ein freies, ungeteiltes Deutschland immer mehr in Vergessenheit geraten.
Alle Willy-Brandt-Fans müssen jetzt ganz, ganz tapfer sein: Der Satz („Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“), den die SPD gerne als Beleg für ihre vermeintliche deutschlandpolitische Weitsicht bemüht, hat einen nicht unerheblichen Makel. In den Aufzeichnungen von Brandts Rede am 10. November 1989 vor dem Schöneberger Rathaus nämlich fehlt diese entscheidende Passage. Mitschnitte seiner Rede belegen vielmehr, dass Brandt zu diesem Zeitpunkt keineswegs die Einheit der deutschen Nation im Sinn hatte. Er glaubte lediglich, das geteilte Europa werde nun enger zusammenrücken, was allerdings weniger beeindruckend klang.
Dies deckte sich mit dem Wortlaut vom „Zusammenwachsen Europas“, der kurz nach dem Mauerfall auf Flugblättern zu lesen war. Selbst in einer vom SPD-Parteivorstand veröffentlichen Rede werden Brandts Äußerungen entsprechend zitiert: „Jetzt erleben wir, und ich bin dem Herrgott dankbar dafür, dass ich dies miterleben darf, dass die Teile Europas zusammenwachsen.“ Auch die „Berliner Morgenpost“ vom 11. November 1989 berichtete davon, dass Brandt festgestellt habe, „daß wieder zusammenwächst, was zusammengehört. Das gilt für Europa im Ganzen.“ Von Deutschland war nicht die Rede.
Die Ehre gebührt eindeutig Helmut Kohl
Dies haben Uwe Müller und Grit Hartmann in ihrem Buch „Vorwärts und vergessen!“ [8] festgehalten, und auch, dass kein Zweifel daran besteht, dass Brandt den entscheidenden Satz vom Zusammenwachsen nachträglich in seine Rathausrede hineinredigiert hatte. Dies gab sogar seine Witwe Brigitte Seebacher-Brandt gegenüber dem WELT-Journalisten Daniel Friedrich Sturm zu, so die beiden Autoren. Ich habe selbst nachgeschaut in der WELT vom 11. November 1989. Dort wird Brandt so zitiert: „Berlin wird leben und die Mauer wird fallen“.
Der damalige Regierende Bürgermeister Walter Momper (SPD) prägte zwar am 10. November den schönen Satz, „Das deutsche Volk war in der Nacht zu Freitag das glücklichste Volk der Welt“, hatte ihn aber schon am Abend zuvor relativiert, indem er sagte, dies sei nicht die Stunde der Wiedervereinigung, sondern (nur) des Wiedersehens. Die SPD, das muss man konstatieren, blieb sich auch in dieser geschichtsträchtigen Stunde treu und wies den Gedanken an ein wiedervereinigtes Deutschland weit von sich. Das war nach Brandts Satz von 1988, die Wiedervereinigung sei eine „Lebenslüge der zweiten deutschen Republik“, nur konsequent. Für diese Konsequenz wird die SPD im Jahr 1990 von deutschen Wählern in Ost und West abgestraft werden. Deshalb: Ehre, wem Ehre gebührt. Diese gebührt hier eindeutig Helmut Kohl.
Vor allem aber gebührt die Ehre allen Deutschen, die in jenen Novembertagen so viel Großherzigkeit, Mitmenschlichkeit und Anteilnahme für ihre Landsleute gezeigt haben. Der Zusammenbruch der Mauer war, ist und bleibt einer der glücklichsten Momente unserer Geschichte. An diesem Tag erfüllte sich Ronald Reagans Prophezeiung von 1987, dass die Mauer fallen wird, weil sie nicht dem Glauben, der Wahrheit, der Freiheit widerstehen könne [9]; es bewahrheitete sich, was auf der Berliner Freiheitsglocke eingraviert steht: „Möge diese Welt mit Gottes Hilfe eine Wiedergeburt der Freiheit erleben“. Es liegt ganz allein an uns, dieses Geschenk zu bewahren.
Lesen Sie morgen: Der Sozialismus ist nicht die Antwort auf den 9. November 1989.
Quellen:
- Dieter Dose, Hans-Rüdiger Karutz: „Man möchte alle, die kommen in die Arme nehmen“, DIE WELT v. 11.11.1989
- Bernt Conrad: „Im Gepäck des Präsidenten ein atlantisches Hoch“, DIE WELT v. 01.06.1989
- Vernon A. Walters: „Die Vereinigung war voraussehbar – Hinter den Kulissen eines entscheidenden Jahres. Aufzeichnungen des amerikanischen Botschafters“, Siedler 1994, Seite 85 (3a) und 82/83 (3b).
- Berliner Ilustrirte: „Deutschland im November 1989. Das Volk schreibt Geschichte – Tage, die wir nie vergessen“, erschienen am 12.12.1989, Seite 22.
- Bundeskanzler Helmut Kohl: Reden und Erklärungen zur Deutschlandpolitik. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Februar 1990.
- Axel Springer: „Aus Sorge um Deutschland – Zeugnisse eines engagierten Berliners“, Seewald 1980, Seite 354
- Manfred Schell: „Ein Patriot, der seine ganze Kraft dem Kampf um die Freiheit seiner Landsleute widmete: Axel Springer – Die deutsche Wiedervereinigung vollendet sein Lebenswerk“, GEISITGE WELT v. 15.09.1990
- Uwe Müller, Grit Hartmann: „Vorwärts und vergessen. Kader, Spitzel und Komplizen: Das gefährliche Erbe der SED-Diktatur“, Rowohlt 2009, Seite 131.
- Amerika-Dienst – Sonderdienst – der US-Botschaft in Bonn v. 15.06.1987: „Berliner Mauer niederreißen für die Sache des Friedens – Ansprache Präsident Reagans vor dem Brandenburger Tor“ am 12. Juni 1987