Frauenstaaten

Die deutsche Geschichte kann auch etwa 1.000 Jahre Frauenstaaten mit unverheirateten oder verwitweten adligen Frauen als selbstbewusste Herrscherinnen, als Reichsfürstinnen mit Reichtagsberechtigung bieten, selbstständig wie die Reichsstädte oder diverse weltliche Territorien. Man spricht von Damenstiften. Im Unterschied zu einem Amazonenstaat oder einigen rabiaten Frauenutopien unserer Zeit waren die herrschenden Damen nicht männerfeindlich und auch nicht kriegerisch gesinnt. Auch bedienten sie sich der Hilfe von freien Männern für Verwaltungs- und priesterliche Zwecke, also für exekutive Details.

Es handelt sich hier um Einrichtungen, die, von adligen Familien, selbst Königen gestiftet, mit Eigentumsrechten an Dörfern, kleinen Städten, verstreuten Bauernhöfen und Eigenkirchen als ökonomisch-politische Basis der Versorgung lediger adliger Frauen und Mädchen, oft auch als Witwenversorgung, dienten und die zudem dem Seelenheil des Stifters gewidmet waren. Die Staatschefin stellt die Äbtissin, manchmal als „Reichsfürstin“, mit ihrem Kabinett dar; etwa im Stift Gernrode sind leitende Ministerinnen die Pröpstin, die Dechantin, die Kellnerin, Sangmeisterin, Schatzmeisterin, Küsterin, Schließerin, Pförtnerin. Sie kümmerten sich um die Besitzverwaltung und das Gerichtswesen; die Stiftsdamen – „Kanonissen“ – wählten die Äbtissin.

Ihnen half das Dienstpersonal, vorweg die Kanzleibürokratie mit männlichen Räten, Syndikus, Notar, Pedell und anderen; dann das Haushaltspersonal der Abtei von der Hofdame und Kammerjungfer bis über den Gärtner und Jäger hin zur Silberwäscherin und Küchenmagd. Dienstmannen, „ministeriales“, hatten weitere Funktionen inne, auch die sog. Burgmannen mit Sicherungsaufträgen, dann die Handwerker wie Bierbrauer, Hufschmiede, Bäcker, Krämer usw., die dem Konvent zulieferten. Schließlich die männlichen Priester, Diakone und Vikare, die unter Aufsicht der Frauen kirchliche und seelsorgerische Aufgaben wahrnahmen. Ein kompletter frauengeführter Kleinstaat!

Lebenswandel manchmal Gegenstand feindseliger Angriffe

Das Stift Gernrode besaß 24 Dörfer, 21 Kirchen und 1.000 Hufen im Streubesitz; Stift Buchau, eines der größeren, besaß ein kleines Territorium mit der Stadt dieses Namens; das Stift Herford hatte in seiner besten Zeit 39 Oberhöfe und 800 zinspflichtige Unterhöfe und lange Zeit auch Herrschaft über die Stadt. Das Stift Quedlinburg, von König Heinrich I. gegründet, umschloss 110 qkm mit 14.000 Einwohnern.

Als „reichs-“ und oft auch „papstunmittelbar“ waren diese Reichsdamen unabhängig von Bischöfen, Herzögen, Grafen usw. und nur dem „Reich“ zu militärischem Dienst verpflichtet; so hatte zum Beispiel das Stift Buchau im 16. Jahrhundert zwei Reiter, zehn Fußsoldaten oder 90 Gulden zu entrichten. Buchau betrieb auch Außenpolitik als Mitglied im Schwäbischen Bund (1524) und später in der Katholischen Liga (1610). Herford war Mitglied des Rheinischen Städtebundes. Durchziehende Könige und Kaiser mussten bewirtet werden ...

Da sie, wie die Reichsdörfer, zur Selbstverteidigung kaum imstande waren, bedienten die Frauen sich wechselnder Schutzherren, Schutzvögten, die, oft vom König bestellt, ihre Unabhängigkeit zu schützen hatten und auch für das Hoch- und Blutgericht zuständig waren, aber sie doch recht häufig bedrängten und sogar bekriegten. Diese Frauen, oft hochgebildet (man denke an die Kanonistin Roswitha von Gandersheim, die erste deutsche Dichterin in lateinischer Sprache), waren keine Nonnen, sie blieben Privatpersonen mit Dienerschaft, Privaträumen, eigenem Mobiliar und unverkürztem Erbrecht, lebten aber in lockerer, christlich geprägter vita communis (Stundengebete, Hl. Messe, Totenmessen, Kommensalität im Refektorium). Sie waren nur dem Gelübde der Keuschheit und des Gehorsams gegenüber der Äbtissin verpflichtet. Es gab in diesen klosterähnlichen Residenzen keine strenge lebenslange Klausur als „Braut Christi“: Es war jederzeit möglich, z.B. zu begehrten Heiratszwecken, den Konvent zu verlassen.

Manche wohnten, namentlich im 18. Jahrhundert, nicht einmal innerhalb der Stiftsmauern, sondern, wie in Herford, in hübschen Privathäusern („Kurien“). Ihr Lebenswandel war, wie sich unter diesen Umständen leicht denken lässt, manchmal Gegenstand feindseliger Angriffe der strikt mönchischen Asketen. Von Askese hinsichtlich des Lebenskomforts war selten die Rede. Die Mahlzeiten (ohne Fleischverbot) waren manchmal so üppig, dass der strenge Papst Gregor VII. sich veranlasst sah, nicht nur das Laster des Privatbesitzes an sich anzugreifen, sondern auch die üppigen Speisen, die „mehr für Cyclopen als für mäßige Christen, mehr für Matrosen als für Kanoniker, mehr für Frauen mit stattlicher Kinderzahl als für Kanonissen“ geeignet sei (1).

Einzige selbstbestimmte Lebensform von Frauen in der Geschichte

Eine erste Angriffswelle ging von den Kirchen- und Klosterreformbewegungen des 11. und 12. Jahrhunderts aus. Ein fester Topos ist die Kritik an den Kanonissinnen als „unsittlich“ und „disziplinlos“. „Recht witzig wird er in der Vagantensatire 'Das Liebes-konzil von Remiremont' vorgetragen, wonach die Stiftsdamen des vornehmen Damenstifts Remiremont in den Vogesen ein Konzil einberufen haben sollen, um darüber zu entscheiden, ob es besser sei, sich einen Kleriker oder einen Ritter als Liebhaber zu halten, worauf der Entscheid zugunsten der Kleriker ausging, wegen ihrer größeren Verschwiegenheit und ihrer feineren Sitten“ (2).

In der Tat mangelte es den Stiftsfrauen an nichts. Fleisch stand fast täglich auf dem Küchenplan. Die Individualisierung steigerte sich im 18. Jahrhundert, der geistliche Zweck trat neben dem Versorgungsgedanken mehr und mehr zurück (Andermann/Kaspar 2019). Diese Reichsstifte hinterließen imposante Abteien und Wirtschafts- und Verwaltungsgebäude, freundliche Privathäuser und großartige Kirchen (Quedlinburg!), ihr Beitrag zur Kunst war beachtlich und auch als Ort schulischer Bildung und Erziehung von Adelskindern und in karitativer Hinsicht hatten sie einen guten Ruf.

Allerdings wurde ihre Gewerbetätigkeit (Weben, Spinnen usw.) von Handwerkern und Zünften angegriffen. Der Lebensalltag einer typischen Kanonissin (in Wartestellung auf einen akzeptablen Heiratskandidaten) war nicht nur durch Gebete, sondern auch durch Tanz, Musik, Zeichnen, Lesen und Spazierengehen geprägt. Zum Ende hin war das Leben mit Theater, Kartenspiel, Billard, Reisen und Jagd eher weltlich geprägt, aber es gab auch verarmte, verfallende Stifte. Häufig waren die verheirateten ehemaligen Stiftsdamen gelehrter als ihre Männer, die manchmal nur „gekrönte Trottel“ waren.

Im evangelischen Herforder Stift machte die Äbtissin Elisabeth von der Pfalz – Witwe des unglücklichen „Winterkönigs“, Korrespondenzpartnerin des französischen Philosophen René Descartes – von sich reden, als sie zum Verdruss der in Herford dominierenden Lutheraner religiöse Außenseiter wie Quäker und Labadisten (mystische Schwärmer) beherbergte. Einige Stifte werden, ohne eigene Herrschaftsrechte, bis heute als gehobene Altersresidenzen für Frauen von beiden großen Kirchen weitergeführt. Das Ende politischer Selbstständigkeit kam auch hier mit dem Jahr 1802. Die Abteien wurden (...) mehr oder weniger von den Fürsten ausgeplündert. Die letzten Äbtissinnen wurden in den Ruhestand gesetzt und in Naturalien oder Pensionen versorgt, solange sie lebten. Somit endete – mit Zustimmung der Kirche – die einzige selbstbestimmte Lebensform von Frauen in der deutschen Geschichte.

Ohne politische Eigenrechte ist das Kloster Lüne heute, wie es heißt, „eine fröhliche, aktive und moderne evangelische Gemeinschaft. Bis zu zehn Konventualinnen bewahren neben der Äbtissin (derzeit Freifrau Reinhild von der Goltz) die malerische Anlage“. Noch im 20. Jahrhundert wurde auf Schloss Ehreshoven (in NRW) ein adliges Damenstift eingerichtet. Die meisten aber sind heute weltlichen Zwecken, z.B. als Klinik, gewidmet oder verschwunden. Herford, wo fast nur noch die Münsterkirche an die großartige Vergangenheit erinnert, ist kein Ruhmesblatt für diese geschichtsvergessene Stadt.

Von den 12 Frauen, welche die Ehre hatten, in König Ludwigs hall of fame („Walhalla“ bei Regensburg) aufgenommen zu werden, stammt eine aus der Abtei Gandersheim: die berühmte Kanonissin Roswitha.

Dies ist ein Auszug aus: „Freiheit und Deutschland. Geschichte und Gegenwart“ von Gerd Habermann, 2020, Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek, hier bestellbar.

 

Weitere Quellen

(1) Andermann, Ulrich: Leben im Reichsstift Herford, Münster 2011, S. 116

(2) Suckale, Robert: Die mittelalterlichen Stifte als Bastionen der Frauenmacht, Köln 2001, S. 28

Foto: Stefan Klinkigt

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Wilhelm Lohmar / 22.12.2020

Maria Kunigunde von Sachsen ( 1740 - 1826 ), Äbtissin des Stiftes Essen, war eine Pionierin der Industrialisierung des Ruhrgebietes. Männer wie Gottlob Jacobi und Franz Haniel waren ihre Geschäftspartner.

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