Frankreich wählt – auch die Atomkraft?

Der Netzanschluss des ersten "Evolutionary Power Reactors" sollte ein großes Fest werden. Jetzt kam die morgige Wahl dazwischen – sie wird auch über die künftige Energiepolitik und Frankreichs Atomkurs entscheiden.

Die Franzosen haben nach der überraschenden Auflösung ihrer Nationalversammlung nach den für die Präsidenten-Partei „Renaissance“ verlorenen Wahlen zum EU-Parlament offenbar ganz andere Sorgen als die sichere Elektrizitätsversorgung. Das ist wohl die einfachste Erklärung für das Desinteresse an einem viele Jahre lang mit Ungeduld erwarteten Ereignis.

Es handelt sich um die Inbetriebnahme des ersten Evolutionary Power Reactors (EPR) mit einer Nettoleistung von 1.600 Megawatt (MW) auf französischem Boden. Zwar arbeiten in Frankreich entworfene EPR-KKW nun schon seit Jahren in der Volksrepublik China. Und ein ebenfalls von französischen Reaktorbaufirmen konzipierter EPR ging inzwischen, wenn auch verspätet, in Finnland in Betrieb. Aber das erste rein französische EPR-Projekt neben älteren Druckwasserreaktoren beim normannischen Flamanville wollte und wollte nicht vorwärts kommen.

Schon im Jahre 2007 wurde mit dem Bau des neuartigen Reaktors begonnen. Seine Baukosten wurden zunächst auf 3,3 Milliarden Euro veranschlagt. Ursprünglich hätte der Reaktor nach fünf Jahren fertig sein sollen. Doch schon bald wurde die Bauzeit um ein Jahr verlängert. Die Inbetriebnahme des EPR wurde zunächst für 2014, dann für 2015 angekündigt. Die Baukosten stiegen auf über 6 Milliarden Euro. Doch das bedeutete noch lange nicht das Ende der Fahnenstange. Zunächst wurde die Inbetriebnahme der EPR auf 2017 verschoben, die Kostenplanung auf 8,5 Milliarden angehoben.

Dann schlug die überwiegend von Kernkraftgegnern besetzte französische Atomsicherheitsbehörde ASN wegen Materialfehlern bzw. Rissen im Druckbehälter und mangelhaften Schweißnähten Alarm (siehe meinen inzwischen teilweise überholten Bericht auf dieser Plattform.) Der staatliche Stromkonzern EDF sah sich gezwungen, alle Reaktoren einem kostspieligen und Zeit raubenden Überprüfungs- und Sanierungsprogramm zu unterziehen. Die Inbetriebnahme des EPR von Flamanville wurde auf Ende 2022 verschoben. Doch auch daraus wurde nichts. Mit einer Zeitverzögerung von sage und scheibe 12 Jahren begann die Installation der Brennstäbe erst in diesem Frühjahr.

Die besten Aussichten hat Rassemblement National (RN)

Der Netzanschluss des neuen Reaktors sollte eigentlich im Laufe dieses Frühsommers gefeiert werden. Emmanuel Macrons Berater hatten schon einen Auftritt des Präsidenten im Europa-Wahlkampf im Auge. Doch es kam anders. Die Zuspitzung der politischen Krise und der Zustand der französischen Staatsfinanzen ließen keine Zeit für eine solche Machtdemonstration. Nach einer Schätzung des französischen Rechnungshofes unter seinem sozialistischen Präsidenten Pierre Moscovici hat die Konstruktion des EPR von Flamanville insgesamt über 19 Milliarden Euro verschlungen und damit fast das Sechsfache des ursprünglich veranschlagten Kostenrahmens. Der vom neuen Reaktor gelieferte Strom wird nach den Schätzungen des Rechnungshofes zwischen 110 und 120 Euro je Megawattstunde kosten und damit etwa doppelt so teuer sein wie der von den 56 älteren Reaktoren gelieferte. Die „Neue Zürcher Zeitung (NZZ)“ berichtete darüber am 5. Juni nicht ohne Schadenfreude. Jedenfalls haben Macron und seine Leute allen Grund, die verspätete Inbetriebnahme von Flamanville nicht allzu hoch zu hängen.

Niemand redet heute, wenige Tage vor den von Präsident Macron überstürzt ausgerufenen Neuwahlen zur Nationalversammlung, noch von den Kosten des verunglückten EPR-Projektes in der Normandie. Dann schon eher von den hunderten von Milliarden, die die Wahlprogramme der aussichtsreichsten Kandidaten kosten würden. Die besten Aussichten hat derzeit das umgetaufte und entdämonisierte Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und dessen jungen Präsidenten Jordan Bardella. Dessen gutes Abschneiden bei den „Europawahlen“ hat Macrons nur für manche überraschende Entscheidung, die Nationalversammlung aufzulösen, ja ausgelöst. Wobei nicht klar ist, ob diese Entscheidung eine Panikreaktion war oder ein wohlbedachter taktischer Winkelzug. (Um Strategie geht es bei Macron ohnehin nicht.)

Nach den letzten Wählerumfragen vor dem Schreiben dieses Berichts kann das immer noch als „rechts“ verteufelte RN im ersten Wahlgang am 30. Juni mit 35 bis 36 Prozent der Stimmen rechnen. Ob das reicht, um in der Stichwahl am 7. Juli die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung zu erreichen, steht dahin. Gibt es in der Nationalversammlung keine Mehrheit, könnte Emmanuel Macron zurücktreten. Das Programm des RN macht einen ausgesprochen sozialdemokratischen Eindruck. In der Energiepolitik würde sich unter einem Premierminister Bardella vermutlich zunächst wenig ändern. RN möchte das von Macron angekündigte Programm zum Bau neuer KKW von Typ EPR noch beschleunigen: 10 neue Reaktoren ab 2031 und noch einmal 10 weitere ab 2036. Kompetente Industrielle halten diesen Rhythmus für unrealistisch. Angesichts der Probleme mit dem EPR von Flamanville sei es nicht einmal sicher, dass der von Macron angekündigte Bau von sechs EPR im vorgesehenen Zeitrahmen gemeistert wird.

Bedenklicher ist die angekündigte Rückkehr zur Rente mit 60

Auf dem Wege von Verhandlungen in Brüssel möchte er überdies so schnell wie möglich aus dem europäischen Merit-Order-Tarifsystem herauskommen und dadurch eine Senkung der Strompreise um 30 Prozent bewirken. Überdies könnte der gleichzeitig angekündigte Preisstopp für Güter des täglichen Bedarfs, wozu auch die Elektrizität gehört, durchaus Investitionsentscheidungen im Energiesektor beeinflussen. Die vorgesehene Senkung der Mehrwertsteuer auf Strom, Gas und Treibstoffe auf 5,5 Prozent würde übrigens zu einem Ausfall von Staatseinnahmen in Höhe von 12 Milliarden Euro führen. Viel bedenklicher ist die angekündigte Rückkehr zur Rente mit 60 (nach 40 Jahren Vollzeitbeschäftigung) und andere Wahlgeschenke an die werktätigen Bevölkerungsschichten.

Es wurde berechnet, dass das im Jahre 2022 veröffentlichte Programm des RN zusätzliche Staatsausgaben in Höhe von 120 Milliarden Euro nach sich ziehen, aber nur 18 Milliarden Euro Einnahmen generieren würde. Allerdings haben Jordan Bardella und Marine Le Pen angesichts der zum Greifen nahen politischen Macht schon begonnen, Wasser in ihren Wein zu gießen, denn bislang konnten sie die Unternehmerverbände MEDEF (Großindustrie) und CGPME (Mittelstand) nicht davon überzeugen, dass ihr keynesianistisch begründetes Ausgaben-Programm in der Lage ist, die Wirtschaftskrise zu überwinden. Doch statt mit Fragen der Wirtschaft beschäftigt sich die Wahlpropaganda des RN vorwiegend mit den durch die unkontrollierte Masseneinwanderung ausgelösten Sicherheitsproblemen und plädiert für verstärkte Kontrollen in vielen Bereichen, das heißt letzten Endes für mehr Bürokratie.

Diese Vorsicht wird man in den Forderungen und Ankündigungen der linksradikalen neuen Volksfront (NFP) vergeblich suchen. Die vom Trotzkisten Jean-Luc Mélenchon angeführte bunte Gruppierung aus linken und linksradikalen Gruppen und Grüppchen (von der Antifa über Mélenchons „France Insoumise“ und die übrig gebliebenen Sozialisten des inzwischen kaltgestellten Glucksman-Sohnes Raphaël bis zu den zusammengeschrumpften Grünen) wird im ersten Wahlgang noch immer mit 27 bis 29 Prozent der in Umfragen ermittelten Wählerabsichten hinter dem RN auf dem zweiten Platz, das heißt vor der Präsidentenpartei „Renaissance“ erwartet.

Subventionierte Energieversorgung und ein Verbot der Kernenergie

Die NFP geht mit der Ankündigung einer veritablen Ausgaben-Orgie auf Stimmenfang: Rente mit 60, Erhöhung des Mindestlohns auf 1.600 Euro im Monat, Indexierung der Gehälter mit der Inflationsrate (Dabei ist der Mindestlohn SMIC längst indexiert), 32-Stunden-Woche für anstrengende Berufe, bezahlte Menstruationspause für die Frauen im gebärfähigen Alter (wer kontrolliert das?), völlige Übernahme der Wärmedämmungskosten ärmerer Familien durch den Staat. Finanzieren möchten die Linksradikalen das Ganze durch eine kräftige Anhebung der Einkommens- und Erbschaftssteuern sowie durch die Einführung einer Sondersteuer auf „Superprofite“. Klare Aussagen zur Energiepolitik und insbesondere zur Zukunft der Kernenergie wird man in den Ankündigungen Mélenchons und seiner Anhänger dagegen vergeblich suchen, denn ein nicht geringer Teil von ihnen träumt von einer zu 100 Prozent „erneuerbaren“, das heißt subventionierten Energieversorgung und einem Verbot der Kernenergie.

Kein Wunder, dass die Pariser Börse nach der Ankündigung dieser „Wohltaten“ in die Knie ging. Der Börsen-Index CAC40 verlor in einer Woche sieben Prozent, und der Spread des Zinssatzes zwischen Frankreich und Deutschland wuchs um immerhin 0,2 Prozent. Frankreich steht heute schon mit einer Staatsquote von 57 Prozent des BIP an der Spitze der OECD-Länder. Die Staatsverschuldung macht bereits über 110 Prozent des BIP aus. Die Ausgaben-Pläne der neuen Volksfront würden die Verschuldung des französischen Staates weiter in die Höhe treiben und ihn von den internationalen Kapitalmärkten abhängig machen. Über allem steht schon jetzt die Drohung internationaler Rating-Agenturen, die Note Frankreichs nach den Wahlen herunter zu setzen. Das würde nicht nur die Finanzierung von Wahlgeschenken, sondern auch den Ausbau der Kernenergie beeinträchtigen.

Für den Fall, dass das RN am 7. Juli in der Nationalversammlung nur eine relative Mehrheit erringt, hat Marine Le Pen bereits den Rücktritt Emmanuel Macrons vom Amt des Staatspräsidenten vorgeschlagen. So würde der Weg frei für die Etablierung klarer Mehrheitsverhältnisse. Gut informierte unabhängige Rechtskonservative vermuten hingegen, Macron habe längst mit dem ihm persönlich gut bekannten Mélenchon in aller Stille ein Regierungsabkommen geschlossen, denn die Stimmen beider Gruppen zusammengenommen würden wohl noch immer ausreichen, um das RN von der Regierung fernzuhalten.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei EIKE.

 

Edgar L. Gärtner ist studierter Hydrobiologe und Politikwissenschaftler. Seit 1993 selbständiger Redakteur und Berater, als solcher bis 1996 Chefredakteur eines Naturmagazins. Bis Ende 2007 Leiter des Umweltforums des Centre for the New Europe (CNE) in Brüssel. In Deutschland und in Südfrankreich ist er als Autor und Strategieberater tätig.

Foto: pixabay.com (bearbeitet)

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A. Ostrovsky / 29.06.2024

>>Es handelt sich um die Inbetriebnahme des ersten Evolutionary Power Reactors (EPR) mit einer Nettoleistung von 1.600 Megawatt (MW) auf französischem Boden. ... Dann schlug die überwiegend von Kernkraftgegnern besetzte französische Atomsicherheitsbehörde ASN wegen Materialfehlern bzw. Rissen im Druckbehälter und mangelhaften Schweißnähten Alarm (siehe meinen inzwischen teilweise überholten Bericht auf dieser Plattform.) Der staatliche Stromkonzern EDF sah sich gezwungen, alle Reaktoren einem kostspieligen und Zeit raubenden Überprüfungs- und Sanierungsprogramm zu unterziehen. Die Inbetriebnahme des EPR von Flamanville wurde auf Ende 2022 verschoben. Doch auch daraus wurde nichts.<< ## Hmm! Also 1600 MW, schaumermal. Netzsynchronisation ist noch nicht der Endsieg. Aber dass die ASN überwiegend von Kernkraftgegnern besetzt ist ... Weil sie für die Sicherheit verantwortlich sind und deshalb über mangelhafte Schweißnähte, Materialfehler und Risse im Druckbehälter schon bei einem Neubau nicht wohlwollend hinweg sehen wollen? Unerhört! Wenn Kernkraftgegner SO aussehen, hat die Kernkraft keine Zukunft! Vielleicht sind das sogar Putinversteher, Agenten der Chinesen und Coronaleugner, wenn nicht sogar UNGEIMPFTE TRUMP-ANHÄNGER!!! Wehret den Anfängen! Solche Leute in einer Sicherheitsbehörde sind das Ende der Nukleardemokratie! Bitte haben Sie Verständnis, die Gefahr steht RECHTS! Militärisch gesehen auf halb Drei! Bringt endlich korrupte Dilettanten in die ASN, sonst geht die Welt unter!

Joerg Gerhard / 29.06.2024

Es ist wie ueberall, zuletzt in Italien: wenn die sog. Rechten/Populisten in die Naehe oder gar an die Macht kommen, knicken sie ein und werden eifrige Keynesianer. In der suedlichen EU inkl. Frankreich macht das sogar Sinn, da die Rechnung ja primaer von und mit dummem deutschen Geld bezahlt wird.

Wilfried Cremer / 29.06.2024

hallo Herr Gaertner, links des Rheins war Links zuerst der unheilige Zweig der römischen Verwesung. “From the river to the sea” ist technisch vorgezeichnet. Die Geschichte wird jetzt ausgemalt; die Aktivisten feiern Hochzeit mit den Horden. Da verkauft Macron doch gerne seine Seele.

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