Frankreich streitet über Freisein und Gesundsein

In den vergangenen Wochen wurde vereinzelt immer wieder die Frage gestellt, ob wir derzeit von Virologen regiert würden. Genauer gesagt, scheint es sogar so zu sein, dass die Einschätzungen und Empfehlungen von Prof. Christian Drosten gerade uneingeschränktes Vertrauen seitens der Bundesregierung genießen. So verwundert es nicht, dass die Bundeskanzlerin und der oberste Virologe der Berliner Charité vergangene Woche nahezu synchron mutmaßlichen Leichtsinn der Bevölkerung anprangerten und eindringlich vor einem zweiten Lockdown warnten.

Dass der Umgang mit der Coronakrise auch unter Virologen, Infektiologen und Epidemiologen durchaus kontrovers diskutiert wird und teilweise sogar umstritten ist, scheint in Berlin entweder nicht anzukommen oder sogar abgeblockt zu werden. Wann immer eine Ansicht auch nur ansatzweise mit dem Merkel-Drosten-Kurs kollidiert, wird sie abgeblockt, degradiert und medial plattgewalzt. Ob das aus medizinischer Sicht gerechtfertigt ist, vermögen wohl tatsächlich nur wenige unter uns qualifiziert zu beurteilen. Fakt ist aber in jedem Fall, wo eigentlich Kontroversen existieren, wird Absolutheit suggeriert.

Und bei genauerem Hinsehen sticht noch eine Tatsache markant hervor. Das letzte Mal nämlich, als die Bundesregierung, angeführt vom Kanzleramt, derart auf eine Karte setzend, einen Diskurs verweigert hat, entpuppte sich ihre Strategie schlussendlich als krachender Misserfolg. Dies geschah nämlich beim Flüchtlingsdeal mit der Türkei, als Berlin entgegen jedweder, noch so gut begründeter Bedenken nur die Meinung beziehungsweise den Plan eines Gerald Knaus gelten lies.

Ganz davon abgesehen, kommen abseits der medizinischen Komponenten Stimmen aus anderen gesellschaftlichen Teilbereichen viel zu kurz. Dies ist allerdings kein Phänomen, das auf Deutschland beschränkt wäre.

Lassen wir daher im Folgenden einen Experten für Gesundheitspsychologie und Infektionskrankheiten, einen Schriftsteller und einen Philosophen zu Wort kommen, und werfen dazu einen Blick nach Frankreich, wo man noch drakonischere Lockdown-Maßnahmen vollzogen hat, als es in Deutschland der Fall war und ist.

Autoritäres Modell, das auf Angst beruht

Dr. Jocelyn Raude ist Experte für Gesundheitspsychologie und Infektionskrankheiten. Er forscht an der Hochschule für öffentliche Gesundheit in Rennes. Kürzlich gab er dem Radiosender France Bleu ein interessantes Interview. Darin äußerte er sich äußerst kritisch zu den in Frankreich durchgeführten Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus. Die Ursache für diese harten Eingriffe sieht er im gesundheitspolitischen Missmanagement der Regierung, das sich in einem massiven Mangel an medizinischem Gerät äußert.

Für den bretonischen Professor haben Frankreich und viele andere europäische Staaten zu wenig auf asiatische Länder wie Taiwan, Japan und Südkorea geschaut, die die Pandemie erfolgreich ohne Lockdown meistern. Stattdessen orientiere man sich zu sehr am chinesischen Modell, das auf „Repression, Stigmatisierung schlechter Bürger und Angst vor der Polizei“ beruhe, und einen antiquierten Weg beschreitet, der im 19. Jahrhundert zur Eindämmung von Choleraepidemien entwickelt und beschritten wurde.

Die unmittelbar spürbaren, sozialen Folgen sieht Professor Raude zwiegespalten. Einerseits sei eine bemerkenswerte, breit offen bekundete Wertschätzung für Mitarbeiter des Gesundheitswesens zutage getreten. Andererseits sei gleichzeitig ein hohes Maß an Anprangerung, Misstrauen und Denunziation gefördert worden.

Das Missmanagement der französischen Regierung werde auch am Paradox deutlich, dass Orte mit verschwindend geringem Ansteckungsrisiko wie Parks, Wälder und Strände für die Öffentlichkeit gesperrt worden seien, während gleichzeitig Erkrankte nicht isoliert wurden. Dieser irrationale Aktionismus erkläre auch, warum die Infektionszahlen in Frankreich trotz mit aller Härte durchgesetzter, drakonischer Einschränkungen lange stark in die Höhe schnellten. Den rigorosen Ansatz der französischen Regierung hält er in Bezug auf die öffentliche Gesundheit für fragwürdig.

Zerstörung unserer Grundfreiheiten

Schriftsteller Alain Damasio geht noch um einiges härter mit der französischen Regierung ins Gericht und prangert sie für ihren rigorosen Lockdown harsch an. In einem Interview mit der Zeitung Libération spricht er wortwörtlich von der „Zerstörung unserer Grundfreiheiten“. Zwar räumt er eine gewisse Nützlichkeit ergriffener Maßnahmen ein, verneint aber entschieden ihre Notwendigkeit. Der hart durchgreifenden französischen Polizei wirft er vor, bereits 2019 im Rahmen der Gelbwestenproteste ihre Kompetenzen auf gewalttätige Weise weit überschritten zu haben. Aktuell werde sie zum „bewaffneten Flügel gesundheitspolitischer Inkompetenz“ der Regierung, so der Autor des dystopischen Science-Fiction-Romans „The Stealthy“.

Gegenüber Libération sagt der Schriftsteller, der in gewisser Weise in einer Linie mit Autoren wie George Orwell, H.G. Wells oder Aldous Huxley gesehen werden kann:

„Für mich wird keine Epidemie, keine Todesursache, vor allem keine, die in Wirklichkeit so wenig tödlich ist wie Covid-19, jemals rechtfertigen, dass sie als Alibi benutzt wird, um unsere Grundfreiheiten zu zerstören.“

Damasio ist der Ansicht, die Gesellschaft befinde sich in einer „wohlstandsverstandenen Pseudopanik“ und wirft der Regierung eine regelrechte „Inszenierung der Angst“ vor.

Lieber infiziert in einem freien Land

Ein markiges, zur Kernkritik Damasios passendes Zitat überschreibt das Interview der belgischen Zeitung L’Écho mit dem Philosophieprofessor und ehemaligen Lehrstuhlinhaber der Sorbonne, André Comte-Sponville. Der 68-Jährige bekennt offen gegenüber seinem Interviewpartner: 

„Ich würde mir lieber eine Covid-19-Infektion in einem freien Land einfangen, als davor in einen totalitären Staat zu fliehen.“ 

Umso bemerkenswerter wird diese Äußerung, wenn man sich vor Augen führt, dass sie von jener Schlüsselfigur des zeitgenössischen französischen Denkens getätigt wird, die Philosophie westlich des Rheins populär gemacht hat.

André Comte-Sponville stellt klar, dass natürlich jeder Todesfall tragisch sei, gibt jedoch das hohe Durchschnittsalter der Todesfälle mit Covid-19 zu bedenken und stellt die rhetorische Frage, warum diese 14.000 Corona-Toten mehr betrauert werden sollen, als die anderen jährlich 150.000 einem Krebsleiden erliegenden Patienten oder insgesamt 600.000 Todesfälle in Frankreich oder 9 Millionen Menschen weltweit, die pro Jahr an Unterernährung sterben. Der Schrecken des neuartigen Coronavirus bestehe vor allem darin, dass es uns die unerträgliche Endlichkeit des eigenen Lebens, zunächst überraschend und seit einigen Wochen permanent, vor Augen führe.

Aus Sicht des Philosophen rechtfertige ein Virus mit einer Sterblichkeitsrate von maximal 1 bis 2 Prozent auch nicht, dass die Medien monatelang über nichts anderes berichten und bei ihren Zuschauern eine ständige „Angst im Bauch“ hervorrufen und aufrechthalten.

„Wer wird bezahlen?“

Auf die Frage, was er von der These hält, dass die durch den Lockdown bedingte Wirtschaftsblockade schlimmer wäre als das Virus selbst, antwortet der 68-Jährige:

„Ich stimme zu, und genau das macht mir Angst. Ich mache mir mehr Sorgen um die berufliche Zukunft meiner Kinder als um meine Gesundheit als Mensch beinahe in den 70er Jahren. Frankreich plant, wegen Covid und seiner Eindämmung zusätzliche 100 Milliarden Euro auszugeben. Ich bin nicht dagegen. Aber wer wird bezahlen? Wer wird unsere Schulden begleichen? Unsere Kinder, wie immer… Es bringt mich zum Weinen.“

Dennoch kann der große Denker dem Lockdown auch Positives abgewinnen. Zum einen sei gelernt worden, dass Solidarität bedeute, Andere zu schützen, indem man sich selbst schützt. Außerdem habe die Erfahrung der „Gefangenschaft“ die allgemeine Wahrnehmung und Wertschätzung der Freiheit nachhaltig gestärkt. Und zu guter Letzt sei das Bewusstsein und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod von grundlegender Bedeutung, um sich den Wert des Lebens vor Augen führen zu können.

Auf die Frage, ob Gesundheit zum absoluten Wert unserer Gesellschaften geworden ist, antwortet Comte-Sponville mit „Leider! Dreimal leider“, mahnt die Zurückdrängung von Werten wie „Gerechtigkeit, Liebe oder Freiheit“ an und fährt fort:

„Medizin ist eine großartige Sache, aber sie kann nicht an die Stelle von Politik, Moral oder Spiritualität treten. Schauen Sie sich unsere Fernsehnachrichten an: Wir sehen jetzt nur noch Ärzte. Danken wir ihnen für die großartige Arbeit, die sie leisten, und für die Risiken, die sie eingehen. Aber schließlich sind Experten dazu da, das Volk und seine gewählten Vertreter aufzuklären, nicht um zu regieren.“

Der französische Philosophieprofessor schlechthin legt sich fest, dass wir auf lange Sicht die Freiheit nicht der Gesundheit opfern können.

Nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund dieser skizzierten französischen Perspektiven sollte die deutsche Bundesregierung den bemerkenswert interdisziplinären Appell von Alexander Kekulé, Julian Nida-Rümelin, Boris Palmer, Christoph M. Schmidt, Thomas Straubhaar und Juli Zeh nach einem Ausstieg aus dem Lockdown dringendst ernst nehmen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Julian T. Baranyans Blog.

 

Quellen:

– Le confinement en France, un modèle „autoritaire“ à la chinoise selon un chercheur breton, France Bleu, 16. April 2020

– Alain Damasio : „La police n’a pas à être le bras armé d’une incompétence sanitaire massive“, Libération, 31. März 2020

– André-Comte Sponville: „J’aime mieux attraper le Covid-19 dans un pays libre qu’y échapper dans un État totalitaire“, L’Écho, 18. April 2020

– Raus aus dem Lockdown – so rasch wie möglich, Spiegel, 24. April 2020

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Leserpost

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Bernhard Idler / 28.04.2020

Die Kritik am Absolutheitsanspruch von Regierungen ist berechtigt. Die grundsätzliche Kritik von Philosophen und anderen “interdisziplinären” Beratern wäre noch beeindruckender, wenn sie auch zur Klimarettung oder zu Migration und Islamisierung zu hören wäre. Da schweigen sie oder sind auf Linie der Obrigkeit. Mit Corona haben sie offensichtlich ein Thema gefunden als Ventil zum Aufbegehren. Die Gegnerschaft zu den Corona-Maßnahmen kommt zudem häufig nicht weniger einseitig daher, teils mit verbohrter Militanz ähnlich den Impfgegnern.

Rainer Niersberger / 28.04.2020

Dem ist zuzustimmen, allerdings ist das Vorgehen von Merkel und Co. analog dem chinesischen Modell und ihre Kunpanei mit Herrn Drosten kein Versehen. Sie holt sich nachgewiesenermassen immer ausschließlich! die “Wissenschaftler”,  die ihr politisch nuetzen, egal um welches Thema es sich handelt. “Seltsamerweise” sind es alles “Wissenschaftler” mit einer passenden Ideologie und gewissen Sympathie fuer totalitaere Maßnahmen, die gar nicht totalitär genug sein koennen. Dass diese “Wissenschaftler” keine sind, erkennt man an ihrer Abneigung, sich mit anderen Meinungen auch nur ansatzweise auseinanderzusetzen. Es sind nichts anderes als nützliche Handlanger der Machthaber, die sich gerne auf ihrem Weg in die grosse Transformation a la China dieser Handlanger bedienen. Es geht immer nur um das fuer schwache Westler passende Angstnarrativ. Damit geht sehr Viel, wobei Frankreich und sein Moechtegernnapoleon schon jetzt systemisch eher näher am chinesischen Modell liegt, als Deutschland.

Peter Holschke / 28.04.2020

Das wird ein langes Lied. Ein guter Anfang sind die miliärischen Impfkommandos des 19. Jahrhunderts, welchje nicht unwesentlich vom Gedanken an Euthanesie getragen waren. Nach dem Motto, die sterben, würden auch so sterben, aber bis dahin werden sie unnütze Fressser sein. Ja, Wahrheiten tun manchmal weh.

Dr. Markus Hahn / 28.04.2020

Im vorliegenden Fall bestand nie ein Konflikt zwischen Gesundheit und Freiheit. Medizinisch war ein genereller Lockdown mit Käfighaltung und Vermummung von Anfang an nicht wirklich zu begründen. Mit zunehmender Evidenz seit Wochen immer weniger. Die getroffenen Maßnahmen schaden netto der Gesundheit auf Gesellschaftsebene mehr, als es die Pandemie je hätte tun können. Der Grundfehler war, Verbreitungsmechanismen zu simplifizieren und klinische sowie infrastrukturelle Auswirkungen, ausgehend von einzelnen regionalen Hotspots, zu generalisieren. Sowas ist simplizistisch. Es sagt einiges über Drosten aus, dass er (auch wenn er kein Epidemiologe ist) genau dieselben Denkfehler begeht, wie schon bei seinen kompletten Fehlvoraussagen bei der “Schweinegrippe”, die den Staat zig Millionen und nicht wenige Geimpfte die Gesundheit gekostet haben (Narkolepsie bei Jugendlichen und Kindern als Impffolge). Für die Propagierung des massenhaftes Einkaufs des Impfstoffes von Sanofi-Aventis bekam Drosten dann einige Jahre später einen Forscherpreis, der, Zufälle gibts, von Sanofi-Aventis gestiftet wurde.

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