Wolfgang Röhl / 19.05.2019 / 06:25 / 26 / Seite ausdrucken

Frankreich lässt sich seine Scheusale nicht vermiesen

Nun laufen sie wieder, die legendären Filmfestspiele an der Croisette, Cannes berühmter Promenade. Das Eröffnungsdefilee leichtgeschürzter Actrices über den Roten Teppich war schon mal wertvolle Beute für die internationale Paparazzischaft. Eva Longoria erschien mit „extra langem Beinschlitz“ („Bunte“), Alessandra Ambrosio posierte in luftig-rotem Fummel. Und auch der Rest des Damenaufgebots gab sich, wie es Usus ist in Cannes, nicht übertrieben bedeckt. Die Bedeutung des ehrwürdigen Festivals ist im Netflix-Zeitalter etwas geschrumpft, da zählt der Fleischfaktor umso mehr.

Bis zum 24. Mai werden noch Filme geguckt, Kritiken verfertigt, Rollen verteilt, Verträge geschlossen. Vor allem wird heftig gefeiert. Der Schampus fließt in hellen Strömen, und auch an anderen muntermachenden Substanzen dürfte es nicht mangeln. Man kann also getrost davon ausgehen, dass in schätzungsweise 30 Jahren einige der Beteiligten öffentlich kundtun werden, dass ihnen in Cannes anno 2019 irgendein Erlkönig ein Leids getan hat; in irgendeiner Situation, mit der sie unmöglich rechnen konnten. 

Eigentlich hatte sich Cannes im Vorjahr noch mit der #metoo-Bewegung solidarisch erklärt und dem Missbrauch „aller Art“ eine mutige Absage erteilt. Und heuer? Heuer bekommt ein Schauspieler die Ehrenpalme des Festivals, der in einem Fernsehinterview zugegeben haben soll, seine Frau geschlagen zu haben. Alain Delon, 83, habe außerdem mal Sympathie für den Front National geäußert, heißt es. Gegen die Ehrung setzte es sogleich – na was wohl? – eine Online-Petition. Doch der Festivalleiter erklärte listig: „Wir geben ihm ja nicht den Friedensnobelpreis.“

Im „besten Deutschland, das es je gab“ (Jens Spahn et al.) würde kein Hund mehr einen Knochen von so einem Scheusal nehmen. Ähnlich wohl in Amerika. Doch in Frankreich ist es nicht ganz ungewöhnlich, dass alternde Schauspieler ins konservative oder gar vollrohr rechte Lager driften, wie Yves Montand oder Brigitte Bardot. Andere zieht es ins Reich östlicher Potentaten, wie Gérard Dépardieu, und sei es nur aus Gründen der Steuerraison. An ihrer Beliebtheit kratzt das wenig. 

Nostalgieschub gefolgt von einer Art Trauer 

Die meisten Franzosen lassen sich ihre Kino-Ikonen nicht vermiesen. Dass Jean Gabin während der deutschen Besetzung Frankreichs stante pede seiner Flamme Marlene Dietrich in die USA nachreiste, erst 1943 zurückkehrte und sein Heimatland befreien half, hat ihm nie jemand ernstlich nachgetragen. Ebenso wenig erzürnte die Franzosen Catherine Deneuves Absage an die #metoo-Hysterie. In Deutschland hingegen wurde die Diva gehörig ausgepfiffen.

Die Angelegenheit Delon hat bei mir einen Nostalgieschub erzeugt, gefolgt von einer Art Trauer. Was ist aus dem französischen Film geworden, wie ältere Deutsche ihn kannten, liebten, verehrten, ja, zum kulturellen Überleben benötigten? Die großen Lichtspiele der Fünfziger, Sechziger und Siebziger, kam nach ihnen was Nennenswertes? Charaktere wie Deneuve, Delon, Montand, Gabin, Dépardieu, Jeanne Moreau, Simone Signoret, Stéphane Audran, Fanny Ardant, Jean-Paul Belmondo, Jean-Louis Trintignant, Maurice Ronet, Serge Reggiani, Michel Serrault, Michel Piccoli, Robert Hossein, Gian Maria Volonté, François Périer, hatten sie würdige Nachfolger? Regisseure wie Jean-Pierre Melville, Louis Malle, Jean-Luc Godard, François Truffaut, Henri-Georges Clouzot, Alain Renais, Claude Chabrol, Henri Verneuil, Costa-Gavras, wer hat die beerbt?

Rückblick: Im Nachkriegs-Westdeutschland hatte es der etwas anspruchsvollere Kinogänger schwer. Legionen von Grün-ist-die-Heide-Singspielen, Landserfilmen mit gelegentlichen, für die Bundesprüfstelle bestimmten „Scheißkrieg!“-Dialogeinlagen sowie hummeldummen Sissi- und Immenhof-Schmalzetten stand eine sehr kleine Riege von deutschen Streifen gegenüber, die nicht nur gut gemeint, sondern auch gut gemacht waren. 

Da gab es Kriegsfilme wie „Die Brücke“, „Hunde wollt ihr ewig leben“, Wirtschaftswundersatiren wie „Wir Wunderkinder“, „Das Mädchen Rosemarie“ oder „Rosen für den Staatsanwalt“, Psychokrimis wie „Nachts, wenn der Teufel kam“ oder „Es geschah am helllichten Tag“. Die Winnetou- und Edgar Wallace-Reihen waren mit ihrer gewollten und ungewollten Ironie für eine Weile ganz unterhaltsam, versumpften dann aber rasch in Routine. 

Das Oberhausener Manifest („Abschied von Opas Kino“) einer Reihe von sogenannten Filmschaffenden versprach im Jahre 1962 jede Menge Innovation. Leider brachte die Proklamation im Ergebnis überwiegend manierierte Langeweile auf die Leinwand. Zum Beispiel abgefilmtes Laientheater wie beim jungen Fassbinder. Selten kam mal eine geglückte Komödie wie May Spills „Zur Sache, Schätzchen“ in die Kinos. Ein opulent ausgestattetes Gesellschaftspanorama wie „Berlinger“ von Bernhard Sinkel und Alf Brustellin, das zudem nicht unter ideologischem Durchfall litt, bildete die rare Ausnahme.

Die höchst produktive Kinoachse Paris-Rom

Es waren die zynischen, manchmal links angehauchten Italowestern, die uns Studenten kinematografisch über die Runden brachten. Noch mehr aber – schon vor der Spaghettiwelle und lange danach – Filme aus Frankreich, die nicht immer von Bio-Franzosen stammten. Auch eine Reihe von damals gut gebuchten Schauspielern, wie der unnachahmliche Lino Ventura, stammte aus Italien. Die höchst produktive Kinoachse Paris-Rom betraf auch die Herstellungsweise; teilweise wurde im römischen Cinecittà gedreht oder geschnitten. 

Auf jeden Fall trugen die stärksten Filme, die ich erinnere, fast ausnahmslos das Gütesiegel Made in France. Kühle, illusionslose Werke zumeist, wie „Lohn der Angst“, „Rififi“, „Nur die Sonne war Zeuge“ (der blutjunge, androgyne Alain Delon als talentierter Mörder), „Fahrstuhl zum Schafott“, „Vier im roten Kreis“, „Die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen“, „Der Teufel mit der weißen Weste“, „Der Clan der Sizilianer“. Aber auch das halb im Expressionismus verhaftete Selbstmörderdrama „Das Irrlicht“ fand ich sehenswert. 

Die auffällige Botschaft solcher Filme – Räuber und Gendarmen unterschieden sich in mancher Hinsicht nicht sonderlich – hielt ich lange für etwas übertrieben, beinahe verschwörungstheoretisch. Später befasste ich mich mal mit der jüngeren Geschichte Frankreichs, speziell mit den Verflechtungen von Justiz, Polizei und dem Militärapparat während der vierten und der frühen fünften Republik. Danach habe ich bestimmten Regisseuren mehr abgenommen.

Der französische Film Noir hatte seinem amerikanischen Vorbild einiges voraus. Unter anderem, dass man den Handlungsablauf verstehen konnte. Die verworrenen Geschehnisse in „Tote schlafen fest“, ein US-Klassiker der Schwarzen Serie, wurden ja angeblich nicht mal vom Regisseur Howard Hawks wirklich durchblickt.

Die glorreichen Jahre des Franzosenfilms liegen verdammt lang zurück. Heute kommt von links des Rheins, so scheint es, hauptsächlich Klamauk und sanfte Volkserziehung, beides gern im selben Film vereint. Gut, „Ziemlich beste Freunde“ ist eine sympathische Plotte über die Freundschaft zwischen einem gelähmten reichen Weißen und seinem energischen schwarzen Chauffeur. Man ahnt die didaktische Absicht, ist aber nicht verstimmt, weil der Film diesen rätselhaften französischen Charme versprüht, den kein Rechtsrheinischer hinkriegt. Außerdem basiert er nachgewiesenermaßen auf einer lebensechten Story.

Sonst platzt noch glatt das Zwerchfell

Recht witzlos dagegen eine in Frankreich hocherfolgreiche Reihe, die mit dem Film „Willkommen bei den Sch’tis“ begann. Sie verlässt sich auf Komik, die angeblich unvermeidbar ausbricht, wenn Südfranzosen auf Nordfranzosen, Provinzfranzosen auf Hauptstadtfranzosen, Allgemeinfranzosen auf Allgemeinbelgier stoßen. Der erste Film der einfältigen Reihe sammelte in Frankreich über 20 Millionen Zuschauer ein. Zum Vergleich: In Deutschland gilt ein Film schon als Blockbuster, wenn er sechs Millionen Tickets verkauft.

Und dann sind da noch „Monsieur Claude und seine Töchter“. So heißt eine Multikultikomödie um einen erzkonservativen katholischen Notar, dessen Mädchen jeweils einen Juden, einen Muslim und einen Chinesen geheiratet haben. Der genervte Mann blüht für einen Moment auf, als ihm die vierte, noch unverheiratete Tochter ankündigt, sie wolle einen Katholiken ehelichen. Der entpuppt sich als Schwarzer von der Elfenbeinküste, und hier – Prust! Gacker! Lol! – machen wir mit der Synopsis Schluss. Sonst platzt noch glatt das Zwerchfell. Wie nannte Karl Kraus das ihm verhasste Feuilleton, welches er in Heinrich Heine verkörpert sah? „Die französische Krankheit“. Gegenwärtig ist wohl auch der französische Film unpässlich.

Einen zweiten Teil von „Monsieur Claude“, der vom selben Flachwitz geschüttelt wird, zeigen derzeit auch deutsche Lichtspieltheater. Vor allem in Frauenkinos, wie dem wunderbar altmodischen „Passage“ an Hamburgs Mönckebergstraße, ist der Film ein Renner. Wie auch andere französische Lustspiele in ähnlich aufgestellten Kinos, wo es etwa um sieben mittelalte Trottel geht, die sich zum Synchronschwimmen verabreden. Oder um das Beziehungsschlamassel zwischen einem Verleger und einer Soap-Darstellerin. Und wie wär’s mit einem Kostümdrama um eine Marquise, die ihren Geliebten zurückgewinnen möchte? Schön, dass gestandene Filmkritiker beim Gucken solcher Nichtigkeiten herzhaft gähnen können, ohne dass es auffällt.

Scheint, dass die einst heroische Kino-Nation Frankreich ziemlich auf den Kasper gekommen ist. Umso wichtiger die Erinnerung an das, was mal war. Also, ob Alain Delon den Front National gut findet oder die Platane rauscht; ob er Frauen schlecht behandelt hat (etwa auch unsere Romy?) oder dem Touri auf den Champs-Élysées eine Fritte aus der Tüte fällt – nebbich. Und ob und wie weit sich Delon dereinst mit Mafiosi eingelassen hat – who cares? 

Ein einziger Film aus Delons  - keineswegs durchgängig gelungener – Darstellerkarriere ist es schon wert, diesem Mann ein Denkmal zu setzen. Es handelt sich um Jean-Pierre Melvilles elegantes, wie eine Bentō-Box stilisiertes Meisterwerk „Der eiskalte Engel“ von 1967, das im Original treffender „Le Samourai“ heißt. Die simpelsten Gesten des wortkargen Killers – etwa, wenn er beim Verlassen seines schäbigen Verstecks schön und ausdrucklos in den halbblinden Spiegel blickt und die Krempe seines tadellosen Hutes rituell glättet –, allein diese Einstellungen taugen für die Ewigkeit. Aufbewahren für alle Zeit!

Insofern hat das Geblöke der üblichen Berufsbeleidigten einen nützlichen Effekt. Es erinnert an einen großartigen Schauspieler und an großes Kino. Wie Sie soeben gelesen haben.

PS: Zur Ehrenrettung der Franzosen sei gesagt, dass sie immerhin hübsche TV-Produktionen zustande bringen. Die Serie „Candice Renoir“ um eine nicht mehr ganz junge, gleichwohl erotisch ambitionierte Ermittlerin in Südfrankreich zum Beispiel ist das perfekte Gegenstück zur deutschen Fernsehkrimikost mit ihren verquasten Kommissarinnen. Leichte, mediterrane, erfreulich unkorrekte Küche, ihrerzeit vom deutschen Staatsfernsehen auf ZDFneo versteckt. Hier auf DVD erhältlich.

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herbert binder / 19.05.2019

Vielleicht noch die “Deserteure” Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, lieber Herr Röhl. Film-Genuß der ganz eigenen Art. Apropos. Was bei Delons Samuraï immer wieder gerne zu kurz kommt (sicher, es geht ja um “Ihn”), ist, eine Frau zu erwähnen, wie ich sie im Film, trotz all der Göttinnen, sonst selten bis nie gesehen habe. Die Pianistin. Reine Faszination.

Anders Dairie / 19.05.2019

Wer am Gängel-Halsband der Filmförderung hängt, hustet nicht mehr laut.  Besonders die, die den Kadavergehorsam existenziell verinnerlicht haben.  Das trifft auch die Produzenten,  die die Kohle nicht missen wollen.  Bei den Franzosen mags damals so gewesen sein,  dass alle Seiten immer schon ein bisschen korrupt waren.  Das lockert die Szene auf.  Es gibt keine Missverständnisse mehr.  Und man kann locker aufspielen.  Leider hatten sie immer die schöneren Frauen, wenn man das den Feministinnen so “mitgeben” kann.  Die Alices wurden über den Rhein hin abgeschoben.  Und ohne die Schönen geht es am Ende nicht wirklich.

Gerd Koslowski / 19.05.2019

Sehr schöner Beitrag Herr Röhl, hat mich schmerzhaft daran erinnert, dass es viele der genannten Filme nicht durch den eisernen Vorhang geschafft haben. Einen kleinen freudschen Verleser hatte ich, eben war noch von Depardieu die Rede und ich lese: Die meisten Franzosen lassen sich ihre Kilo-Ikonen nicht vermiesen. Ich bitte um Nachsicht.

Dr. Gerhard Giesemann / 19.05.2019

Berlinger! Zeppelin und Doppeldecker - endlich mal was für echte Männer und ihre Träume. Und in einer Szene hockt er in seinem Zeppelin (ein “Blimb”, weil viel billiger) und sagt, auf die Frage hin, was er denn damit wolle: “Die will ich verkaufen”. Heute kann man mit dem “Zeppelin NT” von Friedrichshafen in verschiedenen Routen über den Bodensee fliegen, Konstanz, die Insel Mainau, Meersburg mit dem Schloss der Droste, einfach herrlich. Delon? Schon recht. Lasst ihm ein paar von den Hüpfdohlen da in Cannes. (Ein scheußliches Kaff, pardon, je m’excuse).

Monique Basson / 19.05.2019

Hat der Autor den ganz speziellen Fall (durchaus doppeldeutig zu verstehen) der Brigitte Bardot absichtlich ausgespart?

Dolores Winter / 19.05.2019

Er hat vermutlich nur zurückgeschlagen und als Gentleman hat er verschwiegen, dass sie zuerst gewalttätig wurde. Ich erinnere mich sehr genau wie Roger Moore im Alter von über 80 öffentlich erzählte, dass ihn seine erste und seine zweite Ehefrau jeweils ins Krankenhaus prügelten. Eine junge Autorin der BILD titelte reimend und menschenverachtend:  “James Bond von seinen Frauen verhauen”.

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