Manfred Haferburg / 14.12.2019 / 06:24 / Foto: Eugène Delacroix / 41 / Seite ausdrucken

Frankreich im Streik – ein Bericht aus Paris

Mouvement social du 5 décembre 2019" ist die beschönigende Bezeichnung dessen, was sich in Frankreich seit dem 5. Dezember abspielt. Es heißt „Generalstreik“, ist aber ohne „General“ – wie alles in Frankreich gibt es nichts wirklich Konsequentes –, Gott sei Dank. Daher funktioniert auch das Leben noch halbwegs normal, nur ein bisschen unbequemer. Aber es kommt unübersehbar etwas ins Rutschen.

Was mir als jemandem, der zwischen den zwei Ländern Frankreich und Deutschland lebt, derzeit auffällt: Ein Streik, der Frankreich seit einer guten Woche lahmlegt, kommt in den deutschen Medien nur ganz am Rande vor. Wenn überhaupt, dann wird abwertend über die verwöhnten Franzosen berichtet, die sich mit 62 oder früher in die Rente verabschieden wollen, um auf Kosten der Allgemeinheit in der Provence Rotwein zu schlürfen. Oder hat man etwa Angst, dass die Bewegung überschwappt?

Wie stets ist wichtig, was nicht in den deutschen Medien berichtet wird: nämlich das neue Zusammengehen der Gewerkschaften mit den Gelbwesten. Das macht die gelbe Volksbewegung noch mächtiger. Die Franzosen lassen sich nicht so widerstandslos von der Politik enteignen, wie es vielleicht in Deutschland gang und gäbe ist. 

Es liegt unter anderem daran, dass das Leben in Frankreich teurer ist und dass die Familien mehr Kinder durchzubringen haben. Eine französische Durchschnittsfamilie hat mehr als zwei Kinder, die alle auch gern studieren wollen. Das zu schaffen, mit der hohen Steuerlast und den zusätzlich politisch verursachten Teuerungen von Sprit und Energie, ist für eine Mittelstandsfamilie kaum noch leistbar. Selbst wenn es hier durchaus üblich ist, dass beide Eltern arbeiten. Und für die ist die Familie das Wichtigste im Leben.

Viele Renter müssen weiterarbeiten

In Deutschland wird eine ungenaue Verallgemeinerung bezüglich der Streikziele kolportiert. Es stimmt, dass die Gewerkschaften gegen die Vereinheitlichung der Rentensysteme protestieren, deren es um die 40 gibt. Doch man muss wissen, dass die einzelnen Gruppen viel in diese Systeme eingezahlt haben und einige auf gut gepolsterten Guthaben sitzen. Es ist nachvollziehbar, dass diese Gruppen der solidarischen Vergesellschaftung ihrer Rücklagen nicht gerade enthusiastisch gegenüberstehen. 

Auch die Verlängerung der Lebensarbeitszeit trifft nicht überall auf Verständnis. Schließlich wurden die frühen Renteneintrittszeiten einst hart erkämpft. Das normale Renteneintrittsalter in Frankreich ist 62 – will das die SPD für Deutschland nicht auch? Es gibt Gruppen, die früher in Rente gehen dürfen. Zum Beispiel: Wer 25 Jahre im Kernkraftwerk Schicht gegangen ist, kann mit 58 in Rente gehen. Wer das als Luxus abtut, sollte mal ein Jahr lang im Schichtbetrieb in einem KKW arbeiten. 

Ein anderes Beispiel: Das hausmannische Gebäude, in dem ich in Paris wohne, wird gerade für Dacharbeiten eigerüstet. Die Rüstarbeiter turnen halsbrecherisch in 15 Metern Höhe im strömenden Regen bei fünf Grad auf den nassen Gerüststangen umher, auf die viele schlaue Politiker und Journalisten nicht mal im zarten Alter von 25 Jahren steigen könnten. Und die französischen Politiker, genau wie der Bundestag, gönnen sich ja auch ein langes „Übergangsgeld“ in der Höhe ihrer letzten Diät, wenn sie ihr Mandat verlieren. Von ihren Rentenansprüchen gar nicht zu reden. Überhaupt ist es auch in Frankreich so, dass viele Rentner weiterarbeiten, um das schmale Einkommen aufzubessern.

Den Streik spüren die Pariser hauptsächlich durch die Ausfälle der Transportunternehmen. In Paris drückt sich das so aus: Es fährt nur jeder vierte TGV-Schnellzug, nur jede vierte Metro auf den wichtigen Linien, es fallen die meisten innereuropäischen Flüge vom Flughafen Charles de Gaulle aus, die Busse fahren mehr als unregelmäßig. Der Müll wird eher sporadisch abgeholt, die Straßen und Gehwege werden nur sporadisch gereinigt – mal von den Champs-Elysées abgesehen.

Die Erosion der Standards wird unübersehbar.

Stellen Sie sich das Gedränge zur Rush Hour in der Pariser Metro vor, wenn plötzlich drei Viertel der Transportkapazität wegfallen. Der Umstieg auf Privat-PKWs führt morgens und abends zu 450 Kilometern Stau auf der Stadtautobahn und den Zubringern. Erschwerend kommt hinzu, dass ganz Paris eine riesige Baustelle ist. Es wird eine neue Schnell-Untergrundbahn (RER) Linie vom St. Lazare zum Porte Maillot gebaut. Eine weitere kilometerlange Baustelle ist die Umstellung des Busverkehrs des Rings rund um die Stadt auf Straßenbahnbetrieb – alles während des laufenden Verkehrs. 

Jetzt kommt es zu den Auswirkungen dessen, was die Politik gerne „große Herausforderungen“ nennt. Die Proteste der Gelbwesten lähmen schon seit über einem Jahr die gesamten französischen Ordnungskräfte und binden einen wesentlichen Teil der Stadtreinigung. Das fehlt natürlich anderswo. Die Erosion der Standards wird unübersehbar. Paris, ville poubelle titelte jüngst ein Magazin – Paris, der Stadtmülleimer. Dazu kommen das Weihnachtsgeschäft und nach wie vor Hunderttausende Touristen. Überall Gedränge auf den Trottoirs, durch das sich Radfahrer und Elektroroller schlängeln.

Die Pariser sind eigentlich geduldig, wenn es zu „sozialen Bewegungen“ kommt und sehen ihnen mit großer Sympathie zu. „Die streiken ja auch irgendwie für uns“, denken sie und nehmen allerhand Unbill auf sich. Nach ein paar Tagen des Streiks steigt doch die Nervosität. Der Müll steht schon eine Woche rum, sonst wird er täglich abgeholt. Auf den Gehwegen, die sonst täglich gewaschen werden, liegt eine glitschige Schicht von Platanenblättern zwischen dem Abfällen, die manche Leute gedankenlos einfach um sich werfen. Parken erfolgt in der dritten Reihe, es wird gehupt und geflucht. Ich sah einen PKW-Fahrer so genervt ausparken, dass er eine Ladesäule umfuhr und sich die ganze Seite seines teuren Autos verbeulte. Er raste einfach davon. Auch die akustische Umweltverschmutzung ist grenzwertig geworden. Das in einer Großstadt normale Sirenengeheul der Feuerwehr und Krankenwagen wird ergänzt durch unzählige Polizeifahrzeuge und Politikerkonvois, die sich mit Tatütata einen Weg durch das Gehupe der endlosen Staus bahnen. 

Der Volksfrust könnte sich letztendlich gegen Macron und seine ehrgeizigen Pläne richten. Laute Rücktrittsforderungen ertönen, nicht nur von den Gelbwesten. Derzeit liegt Macrons „La République en Marché“ mit der rechten Bewegung von Le Pens „Front National“ in den Umfragen gleichauf. Die Angst ist groß. Auch in Deutschland befürchtet man wohl, dass die Proteste überschwappen oder gar nach der Wahl von Boris Johnson auch noch Macron als einer der letzten linken Verbündeten fällt. Diese Furcht ist nicht unbegründet.

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Leserpost

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Lisa-Karin Leigenbruch / 14.12.2019

Man kann die Rente nicht isoliert betrachten. Der Staat hat Einnahmen und Ausgaben. Gerade der französische hat das verpulvert, was er für die Renten zurücklegen hätte müsse, z.B. um die Banlieus zu befrieden. Man kann nicht im Leufe von zwei Generationen den Staat mit Millionen von zusätzlichen Empfängern aufblasen und sich dann wundern, dass die Versprechungen die vor 30 Jahren gemacht wurden nicht erfüllbar sind. Nur eine hochproduktive Wirtschaft kann sich ein großzügiges Rentensystem leisten. Eine Einwanderer-Billiglohn-Wirtschaft ist das Gegenteil davon.

Gerd Heinzelmann / 14.12.2019

Sehr geehrter Herr Haferburg, die Französisch-Deutsche Freundschaft wurde vor wenigen Jahren ganz deutlich in Berlin aufgerieben. Keinen hat es interessiert!

Claudius Pappe / 14.12.2019

Ich beneide die Franzosen, nicht nur um ihr Renteneintrittsalter. Hut ab . Habe meine Gelbe Weste schon seit einem Jahr über den Beifahrersitz hängen. Keiner folgt mir……...…….

DIelmann a. / 14.12.2019

Ich ein Frankreichfan schon seit früster Jugend Schüleraustausch Lehrlingsaustausch war im Frühjahr mit dem Auto nach Paris eingefahren über eine der vielen Strassen die ins Zentrum führt. Im Außenbezirk Zeltstätte mit Imigranten überall Dreck Unrat und Müll . Sehr sehr viele Kopttuchträgerinnen und Burkas Muslime in Trachten ihr Vorväter ,ein Stimmengewirr wie beim Turmbau zu Babel und das Laute sprechen dieser Menschen noch unangenehmer. Frankreich wird von den zahllosen Moslems übernommen es ist nur eine Frage der Zeit und der Gebärfreude ihrer Frauen. Leider sehe ich das auch auf Deutschland zukommen habe in Neuköln gewohnt . Da helfen keine Demos Streiks oder Gelbwesten wir müssen unsere Werte die Werte der französischen Revolution verteidigen und diese Glaubenseiferer dorthin schicken von wo sie gekommen sind . Das muß in Europa an erster Stelle stehen wenn es nicht schon zu spät ist!!

Helmut Driesel / 14.12.2019

  Die Franzosen geben sich gerne Illusionen hin, das ist nicht verboten, aber man sollte das nicht leichtfertig “Kampf um Rechte” nennen. Rechte müssen praktizierbar sein, wenn sie diese Eigenschaft verlieren, delegitimiert das sowohl die Regierung als auch die Demokratie als Staatsform. Im Gegensatz zu dem, was Johannes Eisleben gestern geschrieben hat, glaube ich nicht, dass es prärevolutionäre Regierungen geben kann. Es ist vielmehr so, dass die Verlierer des Gesellschaftsspiels irgendwann die Chance sehen, als Kollektiv nach der Macht zu greifen, um die Spielregeln zu ihren Gunsten ändern zu können. Das wäre eine prärevolutionäre Situation. Gelingt die Revolution, merken die neuen Machthaber aber sehr schnell, dass eine Änderung der Regeln ihnen selbst nun nichts Positives bringen würde, also beschränken sie sich auf Kosmetik und lassen sie es mehr oder minder beim alten System. So etwas wie die Herrschaft der Arbeiterklasse gibt es nicht. Sie ist logisch unmöglich, weil Herrschaft den unbeschränkten Zugriff auf Ressourcen bedeutet. Bescheidenheit dagegen funktioniert traditionell am besten, wo nichts da ist. Die Franzosen hatten lange eine starke linke Partei, deren Renommé sich vollständig in Luft aufgelöst hat.  Mit den Gewohnheiten linker Herrschaft dagegen haben sie keine Erfahrung. Das scheint sich nun in diesen hartnäckigen Protesten auszudrücken. Normalerweise ist es vernünftig, in einem Staat, wo alle Arbeit verteilt ist, die Alten früher in Rente zu schicken anstatt die Jungen bis 25 ohne Ausbildung herumlungern zu lassen. Da kann man sich an Deutschland eben gerade nicht orientieren. Die Franzosen bräuchten jetzt einen Trump und die Amerikaner einen Macron. Vielleicht könnte sich zukünftig als segensreich erweisen, wenn die Wähler nicht nur Pro-Stimmen sondern auch Gegenstimmen zu vergeben hätten. Oder wenn die Nachbarstaaten ein Votum abgeben könnten, das, sagen wir mal, zu 10% gewichtet wird? Der Massen-Egoismus ist nicht immer der beste Ratgeber.

Heinz Becker / 14.12.2019

Genau darum geht es: Die Gegenrevolution muss auf weitere Laender uebergreifen, um dem zerstoererischen Treiben der EU das Fundament zu nehmen. Ob der Merkelismus-Leninismus in der sog. BRD noch ein Weilchen dahinsiecht, ist mir - sorry - ziemlich egal - bin schon weg. Vielleicht heisst es irgendwann: Erika, mach das Licht aus, Du bist die Letzte…Seit dem Brexit-Entscheid und der Trump-Wahl hat der Buerger der Mitte weltweit gemerkt, dass er etwas bewegen kann und seine Stimme Gewicht hat. Diese Entwicklung laesst sich auch sehr gut am immer dreisteren Luegen und Hetzen der sog. BRD-Staats-Medien ablesen - so handeln und sehen Verlierer aus! RETTE SICH, WER KANN! Es gibt viele und immer mehr attraktive Moeglichkeiten:-) Schoenes Wochenende wuensche ich!

Marc Thorstein / 14.12.2019

Naja, aber die Rente mit 57 seitens der Gewerkschaften in diesen Zeiten erhalten zu wollen, ist auch nicht gerade Augenmaß und das aufgeblähte Arbeitsrecht in D ist ein riesiges Problem in vielen Unternehmen, weil neben gierigen Managern auch massiv überhöhte Erwartungen bei Beschäftigten weit von der Vernunft der sozialen Marktwirtschaft entfernt sind. Es wird so nicht mehr lange funktionieren, schon gar nicht, da wir uns globalisierten Märkten und weltweit zusammengerückter Logistik stellen müssen.

H. Hoffmeister / 14.12.2019

Frankreich ist lebendes Beispiel für ein kollabierendes Wohlfahrtssystem, dass durch Bürokratie, Vetternwirtschaft, drittklassige Politik und sozialistische Umverteilung dorthin gelangt ist. Dabei kann die Schuld nicht nur bei der Politik gesucht werden. Genau wie in Deutschland haben Wähler diejenigen Parteien/Politiker gewählt, die ihnen am meisten versprochen haben. Wo die Leistungsgesellschafft in den Sozialismus mutiert, herrscht nur noch Mangel.

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